Essentials der Theorie U
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Essentials der Theorie U

Grundprinzipien und Anwendungen

  1. 172 Seiten
  2. German
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Essentials der Theorie U

Grundprinzipien und Anwendungen

Über dieses Buch

C. Otto Scharmers Theorie U hat in den letzten Jahren weit über den Wirtschaftssektor hinaus Furore gemacht. Der bekannte MIT-Forscher und Berater hat damit eine Blaupause geliefert, nach der die "Betriebssysteme" von Unternehmen, Bildungseinrichtungen und Demokratien aktualisiert und an die heutigen Herausforderungen angepasst werden können.Dieses Buch bietet einen prägnanten, leicht zugänglichen Leitfaden zu den wichtigsten Konzepten und Anwendungen der Theorie U. Es hilft Führungskräften und Organisationen in allen Branchen und Sektoren, ihr Bewusstsein zu verändern, das eigene Gestaltungspotenzial zu erschließen und ihre Zukunftsfähigkeit zu stärken. Es richtet sich damit an alle Menschen, die die großen Konflikte unserer Zeit überwinden wollen – ökologisch, sozial und spirituell.Der Autor hat mit Regierungen, UN-Organisationen, Unternehmen und NGOs in Afrika, Asien, Amerika und Europa zusammengearbeitet und preisgekrönte Führungs- und Innovationsprogramme für Kunden wie Alibaba, Daimler, Eileen Fisher, Fujitsu, Google, Natura und PriceWaterhouse durchgeführt.

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Information

Jahr
2019
ISBN drucken
9783849702748
eBook-ISBN:
9783849781828

Teil I: Das soziale Feld sehen lernen

Oft höre ich, dass zwar viel über Veränderung geredet wird, aber genau genommen sehr wenig passiert. Meine Erfahrung ist eine andere. Ich habe in meinem Leben mehrere Male tektonische Verschiebungen erlebt. Ich habe sie erlebt, als 1989 die Berliner Mauer fiel – und mit ihr das System des Kalten Kriegs zusammenbrach. Ich habe sie erlebt, als in Südafrika die Rassentrennung aufgehoben wurde. Ich habe sie erlebt, als eine Jugendbewegung den ersten afroamerikanischen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ans Ruder brachte. Ich sehe sie darin, wie sich in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten das Zentrum der Weltwirtschaft von der westlichen Welt in den ostasiatischen Raum und von der analogen in die digitale Ökonomie verlagert hat. Und ich sehe sie nun im jüngsten Vormarsch von Autokraten, Nationalisten und illiberalen Rechtsbewegungen als Gegenreaktion auf eine einseitige Globalisierung und als eine Überschattung von einem weitaus bedeutsameren Grundphänomen unserer Zeit: dem Erwachen eines neuen Bewusstseins überall auf der Welt.
Auch wenn nicht alle diese Veränderungen zu einer tektonischen Verschiebung geführt haben, kann man meines Erachtens zu der Schlussfolgerung kommen: Heute kann alles passieren. Ich glaube, dass die wichtigste tektonische Verschiebung zu unseren Lebzeiten nicht hinter uns liegt, sondern direkt vor uns. Diese Verschiebung hat mit der Transformation von kapitalistischen Strukturen, von Demokratie, Bildung und dem eigenen Selbst zu tun.

1Der blinde Fleck

Wir leben in einer Zeit tiefgreifender Möglichkeiten und Umbrüche; in einem Moment, der vom Verschwinden einer alten Mentalität und Organisationslogik geprägt ist und vom Erwachen eines neuen Bewusstseins und Verfahrens, schöpferische soziale Felder zu aktivieren. Was gerade stirbt und zerfällt, ist eine Welt des Mich-zuerst, des Je-größer-desto-besser und der von Sonderinteressen gesteuerten Entscheidungsfindung, die uns in einen Zustand der organisierten Verantwortungslosigkeit geführt hat.
Was gegenwärtig entsteht, lässt sich weniger deutlich umreißen. Es hat zu tun mit der Verschiebung vom Egosystem-Bewusstsein zum Ökosystem-Bewusstsein – einem Bewusstsein, das auf das Wohlergehen aller gerichtet ist. An vielen Orten auf allen Erdteilen können wir tatsächlich das Erwachen dieses Bewusstseins und die ihm eigene Kraft miterleben: die Aktivierung der Intelligenz des Herzens. Gruppen, die auf der Basis eines solchen Bewusstseins handeln, können, um mit den Worten von Eleanor Rosch, Professorin für Kognitionspsychologie an der University of California, Berkeley, zu sprechen, »schockierend effektiv sein«.
Die Ansätze dieser Verschiebung muten – verglichen mit den enormen Herausforderungen, mit denen wir weltweit konfrontiert sind – vielleicht klein und unbedeutend an. Und in vielerlei Hinsicht sind sie es auch. Doch ich glaube, dass in ihnen die Keime für eine tiefgreifende zivilisatorische Erneuerung schlummern, die notwendig ist, um den Wesenskern unseres Menschseins zu schützen und weiter zu aktivieren.
Meine Kollegin und Mitbegründerin des Presencing Institute, Kelvy Bird, hält diese gefühlte Wahrnehmung im Bild eines Abgrunds (s. Abb. 1) fest.
Wenn wir uns auf die linke Seite des Bildes stellen, dann sehen wir eine Welt, die zerfällt und verschwindet (die Strukturen der Vergangenheit); auf der rechten Seite sehen wir die neuen mentalen und sozialen Strukturen, die gerade entstehen. Die Herausforderung ist, wie man den Abgrund überwindet, der die beiden Seiten trennt: Wie bewegt man sich von »hier« nach »da«?
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Abb. 1: Die Herausforderung des Umbruchs
Dieses Bild beschreibt, kurz gesagt, den Gang dieses Buches: den Weg über den Abgrund, d. h. von einer jetzigen Realität, die an der Vergangenheit orientiert ist, hin zu einer entstehenden Zukunft, die von unserem höchsten Zukunftspotenzial inspiriert ist.

Drei Abgründe

Dieser Weg ist heutzutage wichtiger als je zuvor. Wenn wir auf die heutige Situation blicken, sehen wir drei Abgründe. Diese sind:
der ökologische Abgrund: eine noch nie da gewesene Umweltzerstörung – die zum Verlust der Natur führt.
der soziale Abgrund: ein Auseinanderfallen der Gesellschaft, eine Polarisierung und Fragmentierung, die zum Verlust des sozialen Zusammenhalts führt.
der spirituelle Abgrund: steigende Zahlen von Burnout-Fällen und Depressionen – was zum Sinnverlust und zum Verlust der Wahrnehmung vom eigenen Zukunftspotenzial führt.
Der ökologische Abgrund lässt sich in einer einzigen Zahl zusammenfassen: 1,7. Derzeit verbraucht unsere Volkswirtschaft die Ressourcen von 1,7 Planeten. Wir beuten die Regenerationsfähigkeit unseres Planeten Erde um das 1,7-Fache aus. Und das ist nur eine globale Durchschnittszahl. Die Vereinigten Staaten beispielsweise beuten den Planeten um mehr als das Fünffache aus.
Der soziale Abgrund lässt sich mit einer anderen Zahl abbilden: 26 Milliardäre besitzen so viel wie die Hälfte der gesamten Menschheit. Ja, das stimmt. Eine kleine Gruppe von Menschen, die man in einem einzigen Bus unterbringen kann, besitzt mehr als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, d. h. 3,8 Milliarden Menschen.
Der spirituelle Abgrund lässt sich mit der Zahl 800.000 resümieren. Jährlich begehen mehr als 800.000 Menschen Suizid – eine Zahl, die größer ist als die Summe aller Menschen, die durch Krieg, Mord und Naturkatastrophen getötet werden. Alle 40 Sekunden ereignet sich ein Suizid.
Im Wesentlichen erzeugen wir kollektiv Ergebnisse, die (fast) niemand wünscht. Zu diesen Resultaten zählen die Zerstörung der Natur, der Verlust von Gesellschaft und der Verlust des eigenen Selbst.
Im 19. Jahrhundert war die öffentliche Diskussion vielerorts auf die Entstehung der sozialen Kluft fokussiert. Im 20. Jahrhundert erlebten wir die Entstehung der ökologischen Kluft, vor allem im letzten Drittel des Jahrhunderts. Auch sie hat unser öffentliches Bewusstsein geprägt.
Und zu Beginn des 21. Jahrhunderts erleben wir die Entstehung einer spirituellen Kluft. Angefacht durch die massiven technologischen Umbrüche, die wir seit der Geburt des WorldWideWeb in den 1990er-Jahren beobachten, wird bis 2050 etwa die Hälfte unserer Arbeitsplätze aufgrund von technischen Entwicklungen wegfallen. Wir sind mit einer Zukunft konfrontiert, die »uns nicht mehr braucht«, um mit den Worten des Informatikers und Mitbegründers von Sun Microsystems, Bill Joy, zu sprechen, und die uns ihrerseits zwingt, unser Menschsein neu zu definieren und zu entscheiden, in welcher Art von Gesellschaft wir zukünftig leben und wie wir diese gestalten wollen. Bewegen wir uns nach den vielfältigen Gewaltherrschaften, wie wir sie im 20. Jahrhundert gesehen haben, jetzt auf eine Tyrannei der Technologie zu? Das ist eine der Fragen, auf die wir treffen, wenn wir in den oben beschriebenen Abgrund blicken.
Mit anderen Worten: Wir leben in einer Zeit, in der unser Planet, unser gesellschaftliches Ganzes und der Wesenskern unserer Menschlichkeit angegriffen werden. Das mag vielleicht etwas dramatisch klingen, aber ich bin davon überzeugt, dass diese Beschreibung die Bedeutung des historischen Augenblicks, in dem wir leben, sogar noch untertrieben ist.
Wo gibt es Hoffnung? Die größte Quelle der Hoffnung liegt darin, dass immer mehr Menschen, vor allem junge Menschen, erkennen, dass die drei Abgründe keine voneinander getrennten Probleme sind. Sie sind eigentlich verschiedene Symptome und Spielarten von ein und demselben Grundproblem. Welches Problem ist das? Der blinde Fleck.

Der blinde Fleck

Den blinden Fleck gibt es im Kontext von Führung, Management und sozialem Wandel. Es ist ein blinder Fleck, der auch unser alltägliches soziales Erleben betrifft. Der blinde Fleck bezieht sich auf den inneren Ort – die Quelle –, aus der unser Wirken hervorgeht, wenn wir handeln, kommunizieren, wahrnehmen oder denken. Wir sehen, was wir tun (Resultate). Wir sehen, wie wir es tun (Prozess). Aber meistens wissen wir nichts über das Woher: über den inneren Ort bzw. die Quelle, aus der unser Wirken entspringt (Abb. 2).
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Abb. 2: Der blinde Fleck von Führung
Dem blinden Fleck begegnete ich zum ersten Mal, als ich mit Bill O’Brien, dem langjährigen CEO von Hanover Insurance, sprach. Seine Erkenntnis aus vielen Jahren transformativer Veränderungsprozesse in seinem Unternehmen fasste er wie folgt zusammen: »Der Erfolg einer Intervention hängt vom inneren Zustand des Intervenierenden ab.«
O’Briens Feststellung öffnete mir die Augen: Was zählt, ist nicht nur das, was eine Führungskraft tut und wie sie es tut, sondern auch ihr »innerer Zustand« – d. h. ihre innere Quelle.
Es dämmerte mir, dass Bill O’Brien auf eine tiefere Dimension (die Quelle) hinwies, aus der unsere Handlungen, Kommunikation und Wahrnehmungen hervorgehen und die es uns erlaubt, einen neuen Raum zukünftiger Möglichkeiten zu erspüren und zu beschreiben.
Die Qualität unserer Aufmerksamkeit ist eine weitgehend unsichtbare Dimension unseres alltäglichen sozialen Erlebens – ob in Organisationen, Institutionen oder auch im persönlichen Leben. In unserem alltäglichen Handeln wissen wir meistens sehr wohl, was wir tun und wie wir es tun – d. h., wir kennen den Prozess. Stellt man uns aber die Frage, woher unser Handeln kommt, könnten die meisten von uns keine klare Antwort darauf geben. In meinen Forschungen bezeichne ich diesen Ursprung unseres Handelns und unserer Wahrnehmungen als Quelle oder Quellpunkt.

Vor der leeren Leinwand

In meinem Gespräch mit Bill O’Brien wurde mir klar, dass wir Tag für Tag sowohl auf sichtbaren als auch auf unsichtbaren Ebenen interagieren. Um diesen Punkt besser zu verstehen, sollten wir die Arbeit eines Künstlers betrachten.
Kunst lässt sich aus mindestens drei Perspektiven betrachten:
Wir können uns auf den Gegenstand konzentrieren, der in dem kreativen Prozess entstanden ist – beispielsweise ein Gemälde.
Wir können uns auf den Prozess konzentrieren, also beobachten, wie die Künstlerin das Bild malt.
Oder wir können die Künstlerin in dem Augenblick beobachten, wenn sie vor der leeren Leinwand steht.
Anders ausgedrückt: Wir können das Kunstwerk betrachten, nachdem es geschaffen wurde, während es entsteht oder bevor es entsteht.
Wenn wir diese Analogie auf Veränderungsmanagement anwenden, können wir die Arbeit des Erfinders, des Veränderungsmachers, der Führungskraft aus drei ähnlichen Blickwinkeln betrachten. Erstens können wir anschauen, was Führungskräfte und Menschen, die etwas verändern möchten, tun. Aus dieser Perspektive sind schon viele Bücher geschrieben worden. Zweitens können wir anschauen, wie eine Führungskraft vorgeht, d. h., welche Prozesse sie aktiviert. Aus dieser Prozess-Perspektive wurden in den letzten 20 Jahren Bücher über Management und Führung geschrieben.
Doch aus der Perspektive der leeren Leinwand haben wir die Führung nie systematisch betrachtet. Die bisher nicht beantwortete Frage lautet: Aus welchen Quellen entsteht das Handeln von Führungskräften und Veränderungsmachern? Zum Beispiel: Welche Qualität des Zuhörens, welche Qualität der Aufmerksamkeit bringe ich in eine Situation ein und wie verändert diese Qualität die Muster der Interaktion?
Die Diskussion über die drei Abgründe lässt sich so zusammenfassen: Während die ökologische Kluft eine Bruchlinie zwischen Selbst und Natur und die soziale Kluft eine Bruchlinie zwischen Selbst und dem Anderen darstellt, erwächst die spirituelle Kluft aus einem Bruch zwischen dem Selbst und dem Höheren Selbst – das heißt zwischen dem, der ich heute bin, und dem, der ich morgen sein könnte, also meiner höchsten Zukunftsmöglichkeit.

Ankun...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Danksagungen
  7. Teil I: Das soziale Feld sehen lernen
  8. Teil II: Eine Methode zur bewusstseinsbasierten Systemveränderung
  9. Teil III: Ein Narrativ des evolutionären Gesellschaftswandels
  10. Literatur
  11. Über das Presencing Institute
  12. Über den Autor