Thüringer
Kleinstaatenjammer
Ein Weckruf an alle Thüringer ohne
Unterschied der Parteizugehörigkeit
Von
Arthur Hofmann
Mitglied d. Meininger Landtags
Saalfeld a. S. 1906
Druck und Verlag von A. Hofmann
I.
Thüringer Finanz- und andere Schmerzen.
„Man hat mich nur einmal getäuscht, das war nach dem Frieden zu Lunéville, als gegen meine ausdrückliche Weisung die thüring= ischen Kleinstaaten bestehen blieben.“
Napoleon I.
Das Reich hat seine Finanzreform in Sicherheit. 180 Millionen Mark mehr im Jahre werden in den Reichssäckel fließen und nach den Versicherungen gewisser Leute wird das deutsche Volk nun für „lange Zeit“ Ruhe haben vor neuen Steuern. Man wird aber, um vor Überraschungen gefeit zu sein, gut tun, diesen Optimismus nicht zu teilen, denn sowohl 1879, als 145, 1887, als 130, 1894, als 40 und 1900, als abermals 50 Millionen neuer Steuern flüssig gemacht wurden, sprachen die Offiziösen und ihre Nachbeter auch davon, daß nun die Bedürfnisse des Reichs „auf lange hinaus“ gedeckt seien.
Wir dürfen uns also vielmehr, durch die Erfahrung gewitzigt, gefaßt machen, daß nach verhältnismäßig kurzer Zeit die Reichssteuerschraube abermals ein paar Windungen aufwärts angezogen und aus des geduldigen Michels Taschen weitere Millionen gepreßt werden; die Flottenschreier und Kolonialfexe, sowie die unseligen Kolonialkriege werden schon dafür sorgen, daß das deutsche Volk nicht zur Ruhe kommt. Sollte es aber wirklich möglich sein, künftig ohne Defizit und ohne Aufnahme neuer verfassungswidriger Anleihen zur Herstellung der Etatsbalancen auszukommen, so bleiben uns „vorläufig“ doch noch die mehr als 3½ Milliarden Mark Reichsschulden, auf die wir es glücklich gebracht und deren Verzinsung allein 127 Millionen Mark im Jahre, also mehr als 2/3 des Ergebnisses der neuesten Reichsfinanz„reform“, beanspruchen.
Die unglückseligen Finanzverhältnisse im Reiche konnten auf die Finanzlage der Einzelstaaten nicht ohne Rückwirkung bleiben und diese muß naturgemäß umso ungünstiger sein, je kleiner der Bundesstaat ist und je schwächer dessen natürliche Hilfsquellen sind. Dies trat insbesondere in den letzten Jahren unangenehm in die Erscheinung, als die von den Bundesstaaten zu leistenden Matrikularbeiträge die an die Bundesstaatskassen überwiesenen Zollmehrerträge wesentlich überschritten, denn die Matrikularbeiträge sind die denkbar ungerechteste Besteuerungsart, die je erdacht wurde, weil sie, als Kopfsteuer wirkend, den steuerschwächsten Staat am härtesten, den steuerstärksten weniger schwer trifft.
So gerieten denn fast alle kleinen Bundesstaaten von Jahr zu Jahr mehr in die Finanzkalamität, die speziell für die Thüringer Kleinstaaten eine mehr als vorübergehende Bedeutung hat und deren Wesen und Ursachen zu besprechen, die Aufgabe der nachstehenden Zeilen sein soll.
Wenn man freilich die aus Anlaß „höchster“ Geburtstage üblichen Lobhudeleien als Maßstab für das Wohlbefinden der Thüringischen Staaten und deren Bewohner annehmen wollte, so gäbe es auf dem weiten Erdenrund kein glücklicheres Land, keine segensvolleren Regierungszeiten, keine begabteren Regenten als in Thüringen. Und wieviel bei uns regiert wird! Ein Großherzog, drei Herzöge und vier Fürsten wachen über das Wohl und Wehe ihrer „Untertanen“ und werden in ihrem schweren Berufe unterstützt von neun Ministerien und zwei Dutzend Landräten. Was da während des Jahres reglementiert, kommentiert, attestiert, registriert, revidiert und – „dezerniert“ wird, dem Himmel sei's geklagt! Und was die Sache doppelt schwierig und kostspielig macht, das ist die Zerrissenheit all dieser Staaten, denn die 12,332 Quadratkilometer sind in mehr als 100 Fetzen zerrissen und liegen kunterbunt durcheinander, sodaß es in einigen Fällen möglich ist, in zwei Stunden 4 bis 5 Vaterländer zu durchqueren. Und in allen neun Staaten wohnen ganze 1,481,887 Einwohner, also etwa soviel als in der preußischen Provinz Schleswig=Holstein, während der Flächeninhalt aller thüringischen Kleinstaaten noch 800 Quadratkilometer weniger beträgt als derjenige von Mecklenburg=Schwerin.
Daraus erklären sich allerdings all die Mißstände, über die selbst bürgerliche Zeitungen von Zeit zu Zeit zu berichten wissen; in erster Linie aber erklärt diese Vielregiererei die hohen Steuern. Und in dieser Beziehung marschieren die Thüringischen Staaten wohl an der Spitze aller deutschen Bundesstaaten. In den meisten derselben ist auch der niedrigste Betrag zur Einkommensteuer herangezogen und Witwe und Altersrenter sind vor dem Steuerzettel nicht geschützt, während das glücklichere Preußen schon seit fast zwei Jahrzehnten eine Heranziehung der Einkommen unter 900 Mark zur Einkommensteuer nicht kennt, ebenso die Grund= und Gebäudesteuer den Gemeinden überläßt. Ja, wie konsequent man in manchen Kleinstaaten den Grundsatz verfolgt, daß nur die Durchführung der Einkommensteuerskala auch auf die allerniedrigsten Einkommen erst die Betätigung wahrer Staatsweisheit bedeute, dafür liefert Schwarzburg=Rudolstadt ein Beispiel. In dessen Landtage wurde nämlich schon vor Jahren und zwar bei Beratung des neuen Einkommensteuergesetzes zugegeben, daß Erhebung und Eintreibung dieser Miniaturbeträge fast ebensoviel Kosten verursachen, als diese Steuerbeiträge überhaupt ausmachen. Das aber kann beileibe für einen wirklichen Staatsmann kein Grund sein, das „Prinzip“ der Besteuerung Aller konsequent durchzuführen!
Und welche Summen diese Vielregiererei verschlingt! Die neun Ministerien haben einen Etat von rund 1,700,000 Mark und an Beamtenpensionen, Ruhe= und Wartegehältern werden jährlich etwas mehr als zwei Millionen Mark verausgabt. Hierzu treten die Einkünfte der acht Throninhaber, die wiederum an feststehenden Beträgen oder in Form von Anteil am Gewinn des Domänenbesitzes über fünf Millionen Mark pro Jahr beziehen.
Aber so wie der Staat, sind auch die einzelnen Gemeinden genötigt, unglaublich hohe Steuerzuschläge zu erheben. Bis zu 300 Prozent und noch mehr betragen in einzelnen Gemeinden die Umlagen, welche als Zuschlag zu den verschiedenen Staatssteuern erhoben werden. Und warum? Weil eben die stets erschöpften Staatskassen nicht in der Lage sind, solch armen Gemeinden bei Bedürfnissen der Schule, sowie bei Wege=, Wasserleitungs= und anderen Bauten eine Unterstützung in dem Maße zu teil werden zu lassen, wie sie in solchen Fällen nicht nur im Interesse des bestehenden einzelnen Ortes, als vielmehr auch im Interesse der Gesamtheit geleistet werden müßte.
Und all diese Umstände helfen mit, die Lebensweise der breiten Schichten der thüringer Bevölkerung herabzudrücken. Nirgends ist mehr Not, mehr Elend, mehr Entbehrung zu finden, als auf den Höhen und in den Tälern des Thüringer Waldes und nur die angeborene Genügsamkeit, die trotzalledem große Lebenslust und die überaus entwickelte Heimatliebe der arbeitenden Schichten sind in erster Linie daran schuld, daß die Welt noch verhältnismäßig so wenig weiß von all dem Jammer, der in unserem schönen Thüringer Lande in allen Gauen zu treffen ist und wie er nur gelegentlich einmal bei Besprechung hausindustrieller Beschäftigung beiläufig gestreift wird.
Und nicht zum wenigsten ist die politische Zerstückelung und Vielregiererei daran schuld, daß die Industrie – Ausnahmen bestätigen lediglich die Regel – sich an dem allgemeinen Aufschwunge nicht derart beteiligt hat, wie man es außerhalb der Kleinstaaten fast durchgängig zu beobachten Gelegenheit hat. Kann es denn aber auch anders sein?
Kann unter solchen Umständen auch für die Volksschule das getan werden, was getan werden müßte, um sie zum vornehmsten Institute zu machen? Sind Schülerzahlen von 80, 100, ja bis 150 auf einen Lehrer nicht eine Schande im „Jahrhundert der Aufklärung“? Die Vielregiererei frißt eben alle Mittel auf, die für Kulturzwecke flüssig sein müßten.
Betrachte man doch nur auch ferner, neben dem bereits Gesagten, die ungemein großen Schwierigkeiten, in Thüringen eine Eisenbahnlinie zu bauen! Drei bis sechs Länder berührt jede nur einigermaßen längere Strecke und da stelle man sich nun die Vorverhandlungen und Verhandlungen, Erwägungen, Berechnungen, Äußerungen, Erhebungen usw. in ebensovielen Ministerien vor! Und dabei wacht jeder Einzelstaat eifersüchtig darüber, daß bei all diesen Vorgängen – um Himmelswillen! – seine Oberherrschaft nicht verletzt, seine Autorität anerkannt, seine Vertreter gebührend betitelt werden. Denn all das ist wichtig für manchen zopfigen Beamten, vielleicht noch viel wichtiger als der Bahnbau selbst.
Dazu kommen die bei solchen Dingen oft zu berücksichtigenden Sonderwünsche „höchster“ Personen und er klingt für uns Thüringer nicht so fremd, wenn Landtagsabgeordneter Asemissen in seiner vor Jahren erschienenen Broschüre „Über die Eisenbahnverhältnisse in Lippe“ sagt:
„Die Eisenbahn Altenbeken=Hannover hat eine so ungünstige Lage wie nur möglich, weil Lippe's „heiliges Wild“ (!) nicht gestört werden sollte.“
Soll doch auch z. B. die Rücksicht auf die Ruhe des damals „heiligen Wildes“ des Schwarzatales, die inzwischen wohl ausgestorbenen Wildsauen, nicht unwesentlich für die Art der Führung der Schwarzatalbahn maßgebend gewesen sein.
Mit der Erwähnung der Eisenbahnen aber ist ein Kapitel angeschnitten, daß im folgenden Abschnitte eine eingehendere Würdigung finden soll. Denn wenn im Interesse der anderen deutschen bundesstaatlichen Eisenbahnen, sowie der Privatbahnen, oft Gelegenheit genommen wird, die Umgehungs= und Aushungerungstaktik der preußischen Staatseisenbahnverwaltung zu kritisieren, so besteht für uns Thüringer noch viel mehr Anlaß, des Verhältnisses unserer Staaten zum preußischen Eisenbahnfiskus nur mit innerem Grolle zu gedenken. An und für sich viel und kostspielig regiert, werden die thüringer Kleinstaaten außerdem noch von Preußen als eine Domäne betrachtet, in der es im Grunde genommen nach eigenem Belieben und im Interesse seiner Überschußpolitik schalten und walten kann, wie es ihm beliebt.
II.
Die Thüringer Länder als preußische Tributstaaten.
„Preußen kann die Reichsfinanzreform ent= behren; dieselbe ist nötig nur in Rücksicht auf die kleinen Bundesstaaten.“
Abg. Dietrich in der Sitzung des Reichs= tags vom 10. Mai 1906.
„Preußen würde bei seinen Finanzen die Matrikularbeiträge tragen können, die Klein= staaten können das nicht.“
Abg. Spahn in der Sitzung des Reichs= tags vom 10. Mai 1906.
Fürst Bülow's bekanntes Wort: „Preußen in Deutschland voran, Deutschland in der Welt voran“, mag im Auslande als Zeichen deutscher Überheblichkeit viel belächelt worden sein. Wir in Thüringen haben speziell über den ersten Teil nicht gelacht, ja nicht einmal gelächelt, denn bei uns ist „Preußen (schon lange) voran!“ –
Es ist sicher als kein nationales Unglück zu betrachten, daß heute anstatt meiningischer, schwarzburgischer, sondershäusischer, reußischer, altenburgischer, weimarischer, koburgischer und gothaischer „Militärkontingente“ preußische Militärabteilungen über Thüringens „Ruhe“ und speziell der vielen Fürsten „Sicherheit“ wachen. Aber als ein tatsächlich nationales Unglück für die thüringischen Kleinstaaten ist es anzusehen, in welcher Art Preußen hier seine „Eisenbahnpolitik“ betreibt und die Thüringer Länder als Ausbeutungsobjekt ansieht, das gerade gut genug ist, die riesigen Überschüsse aus dem preußisch=hessischen Eisenbahnbetriebe in ungemessener Weise zu vermehren. Und daß gerade diese Politik in erster Linie mit daran schuld ist, daß die Kleinstaaten in einer stetig wachsenden Finanzkalamität sich befinden resp. ihre Aufgaben in der durch den allgemeinen Kulturfortschritt bedingten Zeit nicht zu lösen in der Lage sind, das kann, das darf uns als Thüringer nicht gleichgiltig sein und hier sind die Interessen fast aller Kleinstaaten genau dieselben.
Als Verfasser dieses vor Jahren im Meiningischen Landtage bei Kritisierung der preußischen Eisenbahnpolitik in Thüringen u. a. sagte, Preußen betrachte die thüringischen Kleinstaaten nicht als gleichberechtigte Verbündete, sondern es behandle Thüringen wie eine „geraubte Provinz“, da erfolgte natürlich prompt der „parlamentarische Ordnungsruf“ seitens des Präsidenten. Und doch soll hier klipp und klar nachgewiesen werden, daß für die einst von Preußen geraubten, oder wie es in der Sprache der Diplomatie heißt „einverleibten“ oder „annektierten“ Provinzen, die Eisenbahnen eine nie versiegende Quelle des Segens sind, während diese für die Kleinstaaten eine ununterbrochene Kette großer materieller Opfer bedeuten.
Um das recht zu verstehen, muß man die finanziellen Ergebnisse des preußischen Staatseisenbahnbetriebes studieren. Und dazu bietet die alljährlich erscheinende „Statistik der im Betriebe befindlichen Eisenbahnen im Reichseisenbahnamt“, die beste Grundlage. Vor mit liegt Band XXV, der das Rechnungsjahr 1904 behandelt. Zwar ersieht man aus diesen Tabellen nicht direkt, wie berechtigte Klagen der thüringischen Reichstagsabgeordneten Baudert, Bock, Hofmann, Reißhaus und Müller=Meiningen im Reichstage vorbrachten, um die spezifisch preußische Finanzinteressenpolitik der preußischen Eisenbahnverwaltung in Thüringen festzunageln, wer aber Ziffern zu lesen versteht, für den reden diese Tabellen eine eindringliche und für uns Thüringer sogar ganz gewaltige Sprache.
Beschäftigen wir uns vorerst mit Tabelle 23, „Betriebsüberschuß und dessen Verwendung“; da heißt es:
Der Überschuß der Betriebseinnahmen über die Betriebsausgaben
betrug unter Berücksichtigung sämtlicher Einnahme= und Ausgabetitel des
Buchungsformulars:
| Staatsbahnen | Überhaupt | Verzinsung des Anlagekapitals | Bruttogewinn auf 1 Kilomtr. Betriebslänge |
| M | % | M |
| 1. Reicheisenbahnen in Els.=Lothr. nebst den gepachteten Wilhelm=Luxemburg =Bahnen | 26281087 | 4,08 | 13770 |
| 2. Militär=Eisenbahn | - | - | - |
| 3. Vereinigte preußi= ... |