
- 232 Seiten
- German
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eBook - ePub
Über dieses Buch
Auch wer den Italienern immer einen leidenschaftlicheren Politikstil zugestanden hat, mag nicht glauben, was sich jetzt abspielt: Hemmungslose Emotionen beherrschen die Debatten, es wird ungeniert polemisiert und provoziert und vor allem: Die Italiener scheinen das zu tolerieren.
Der Journalist Ulrich Ladurner erzählt, wie Jahrzehnte der Korruption und Misswirtschaft das Land und die Bevölkerung zermürbt haben. Die Folge: Der Staat hat das Vertrauen der Bürger verspielt, Hunderttausende Italiener verlassen wieder ihre Heimat. In diesem Klima gewinnen Populisten Wahlen. Seit 2018 bilden die nationalistische Lega und die 5-Sterne- Bewegung nicht nur eine Koalition, sondern auch eine unheilige Allianz: Sie versprechen den Italienern mehr Selbstbestimmung und vor allem Freiheit von der EU.
Auf seiner Reise durch Italien begegnet Ladurner Salvini, Di Maio und Grillo auf Kundgebungen und Wahlveranstaltungen und wird Zeuge ihrer Propaganda. Und er erinnert uns daran, dass die Versprechungen der Populisten in Deutschland ebenso verfangen wie in Italien. Sein Buch ist ein erstaunliches Länderporträt und eine Mahnung: Wer Populisten bekämpfen will, darf ihnen den Grundgedanken der Demokratie und aller Politik – die Freiheit – nicht kampflos überlassen.
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Information
Radikalisierung im Netz
Der Erfolg der Fünf-Sterne-Bewegung
»Gianroberto, wir haben gewonnen! Was machen wir jetzt?«
Beppe Grillo, am Tag nach dem Wahlsieg bei den Parlamentswahlen am 25. Februar 201367
Es ist der 11. Juni 1984, ein warmer sonniger Tag in Rom. Aus allen Himmelsrichtungen strömen Menschen auf die Piazza San Giovanni in Laterano. Nach Angaben der Behörden sind es eine Million. Auf Luftaufnahmen ist zu sehen, wie sich die Massen in den Seitenstraßen der riesigen Piazza stauen. Die Menschen drängen nach vorne, um den Sarg des Mannes zu sehen, von dem sie sich verabschieden wollen: Enrico Berlinguer, Vorsitzender der Kommunistischen Partei Italiens. Der 62-Jährige war eine Woche zuvor, mitten in einer Wahlkampfrede, zusammengebrochen. Er hatte einen Hirnschlag erlitten. Wenige Tage später starb er im Krankenhaus. »Enrico, Enrico, Enrico!«, rufen Hunderttausende Menschen. »Enrico, Enrico!« Dann brandet Applaus auf, der wie eine Welle über den Platz rollt.
Es ist Samstag, 23. Februar 2013, ein kühler Winterabend in Rom. Die Piazza San Giovanni in Laterano liegt im kalten Flutlicht, das von einer aufgebauten Bühne strahlt. Aus riesigen Boxen schallt ein Lied des italienischen Hip-Hoppers Federico Nano, genannt Supa.
Wir sind keine Partei, wir sind keine Kaste,
Wir sind Bürger, Punkt und basta!
Jeder ist gleich viel wert
Jeder ist gleich viel wert
Jeder ist gleich viel wert
Wir sind keine Partei, wir sind keine Kaste,
Wir sind Bürger, Punkt und basta!
Nach Angaben der Veranstalter haben sich 100 000 Menschen auf der Piazza San Giovanni versammelt, die Polizei spricht von 40 000. Sie sind gekommen, um das Ende der »Tsunami Tour« zu feiern. 77 solcher Wahlkampfveranstaltungen hat es im Laufe der letzten Monate in Italien gegeben, in großen und in kleinen Städten, im Norden wie im Süden des Landes. In allen Landesteilen kamen sie, um den Komiker Beppe Grillo zu sehen, den Chef der Partei M5S, der Fünf-Sterne-Bewegung. Es sind jetzt nur noch ein paar Stunden bis zur Öffnung der Wahllokale. Für die M5S ist es eine Premiere, es ist die erste Parlamentswahl, an der die Partei teilnimmt. Die Umfragewerte sind gut, die Stimmung auf der Piazza blendend. »Beppe! Beppe! Beppe!«, rufen die Menschen, sie drängen nach vorne, viele stehen schon auf der Bühne. Es geht ziemlich chaotisch zu. Als Beppe Grillo schließlich erscheint und sich einen Weg durch die Menge bahnt, bricht Jubel aus. »Beppe! Beppe! Beppe!«
Das eine war ein Begräbnis, das andere eine Wahlkampfveranstaltung, beim einen herrschte Trauer, beim anderen Jubel, zwei Ereignisse ganz unterschiedlichen Charakters. Doch in ihnen spiegelt sich wider, wie sehr sich die italienische Gesellschaft im Laufe von dreißig Jahren verändert hat.
Zum Begräbnis von Enrico Berlinguer kamen nicht nur eine Million Menschen, es kam auch die gesamte politische Elite des Landes, der Staatspräsident, der Ministerpräsident und die Vorsitzenden aller politischen Parteien. Selbst Giorgio Almirante war anwesend, Chef der neofaschistischen Partei. Auch er erwies seinem politischen Todfeind die letzte Ehre. Indro Montanelli, prominenter konservativer Journalist und Antikommunist, schrieb zehn Jahre nach Berlinguers Tod: »Er war kein Darsteller, er war echt. Er fehlt uns, auch als Gegner, der er für uns alle immer noch wäre!«68 Bei allen unüberbrückbaren Unterschieden gab es Einigkeit: In Gestalt des toten Enrico Berlinguers zollte man der Politik Respekt. Politik war eine Quelle der Hoffnung und der Würde, die Trauerfeier war ein Beleg dafür.
Als Beppe Grillo am 23. Februar 2013 auf die Bühne tritt, greift er sich das Mikrofon und sagt, mitten in den anhaltenden Applaus hinein: »Nein, nein, nein … hört auf, ich habe mich schon den ganzen Abend lang bemüht, mich nicht bewegen zu lassen, hört auf, hört auf …« Kaum hat er sich seinen Anhängern so »weich« gezeigt, kaum ebbt der Applaus ab, schlägt er andere, harte Töne an: »Wir sind nach den 12 000 zurückgelegten Kilometern dieser Tour in eine neue Phase eingetreten. Wir sind anders geworden. Wir sind keine Bewegung mehr, wir sind eine Gemeinschaft. Wir haben sie alle überrascht. Auch der Bürgermeister dieser Stadt wird bald gehen, auch der Präsident der Republik wird bald gehen. Selbst der Papst schafft es nicht mehr. Ratzinger hat verstanden, dass Italien sich verändert hat. Ich kann euch eines sagen: Es ist vorbei. Es ist vorbei mit diesen Leuten. Es ist aus mit euch Politikern (…). Ihr habt nicht verstanden, was auf euch zukommt. Ergebt euch, werdet unsichtbar, ergebt euch, ihr seid umzingelt, entschuldigt euch!«69
Politik ist für Grillo nichts als ein dreckiges, würdeloses Geschäft, und Politiker sind allesamt eine Bande von schamlosen Kriminellen. Grillo verschont niemanden, auch die etablierten Medien nicht. Für ihn sind sie ein Teil der verachtenswerten Elite, die Italien an den Abgrund gewirtschaftet hat. Seine Sprache ist voller Spott, voller Drohungen und Aggression – und wer das als farbige Folklore abtut, wird just an diesem Abend eines Besseren belehrt. M5S verwehrt italienischen Journalisten den Zugang zu der Veranstaltung. Als diese protestieren, kommt es zu Handgreiflichkeiten. Der Vorsitzende der italienischen Journalistengewerkschaft sagt einen Tag später, dass es so etwas in der gesamten Nachkriegsgeschichte Italiens noch nie gegeben habe. Ein einmaliger Fall, ein eklatanter Versuch, die Berichterstattung zu unterbinden. Aus der Sicht Grillos und seiner Anhänger ist dieses Verhalten allerdings nur konsequent. Sie halten die italienischen Journalisten allesamt für »Lakaien des Systems«70. Grillos Botschaft ist unmissverständlich. Das Band zwischen der Elite und den Menschen ist gerissen. Es gibt kein Vertrauen in »die da oben«. Sie sind alle gleich, sie sind alle Diebe, Schwindler, Betrüger. Und sie stecken alle unter einer Decke. Als die Wahllokale am Montag, dem 25. Februar 2013, schließen, wird klar, wie viele Italiener das genauso sehen: 8,7 Millionen haben der M5S ihre Stimme gegeben. M5S wird mit 25,6 Prozent zur zweitstärksten Partei; die Sozialdemokraten, die mit kleineren linken Parteien eine Koalition gebildet hatten, liegen nur um ein paar Zehntelprozentpunkte vor ihnen. Eine Sensation und eine erschütternde Nachricht. Politik ist nichts mehr, wovor sich die Menschen respektvoll verneigen, wie es am 11. Juni 1984 beim Begräbnis von Enrico Berlinguer geschehen ist. Politik provoziert nur Ablehnung und Verachtung. Politik ist nicht Würde, Politik ist Schmutz. Wie konnte es so weit kommen? Wie konnte die Politik ihr Ansehen so grundlegend verlieren? Wie ist der Erfolg der M5S zu erklären?
»Ich dachte: ein Verrückter!«
Man muss mit der Begegnung zweier Männer beginnen. Sie findet an einem Abend Anfang April 2004 im Teatro Goldoni in Livorno statt. Der Komiker Beppe Grillo tritt vor ausverkauftem Haus vor sein Publikum. Nach der Vorstellung lernt er den Informatiker und Internetunternehmer Gianroberto Casaleggio kennen. Wie es zu der Begegnung kam, darüber erzählen beide jeweils unterschiedliche Versionen. Casaleggio sagte viele Jahre später in einem Interview: »Ich habe viele Artikel und Bücher über das Internet geschrieben. 2004 hat Grillo eines meiner Bücher gelesen: ›Das Netz ist tot, es lebe das Netz!‹ Er besorgte sich meine Telefonnummer und rief mich an. Wir haben uns dann in Livorno getroffen, wo wir uns über unsere Ideen austauschten!«71 Grillo hingegen beschreibt die Begegnung in einem Vorwort für ein Buch von Casaleggio (»Web ergo sum«) mit folgenden Worten: »Er kam in meine Garderobe und begann vom Internet zu erzählen (…) und dessen Fähigkeit, die Welt zu verändern. Er war sehr von dem überzeugt, was er sagte. Ich habe ihn angelächelt, da ich ihn nicht kränken wollte. Ich dachte: ein Genie des Bösen oder eine Art heiliger Franziskus, der anstatt zu den Wölfen und Vögeln zum Internet spricht. Ich dachte: ein Verrückter!«72
Casaleggio und Grillo sind auf den ersten Blick ein ungleiches Paar. Der eine ist medienscheu, still und introvertiert, der andere liebt die große Bühne, ist laut und extrovertiert. Casaleggio hat etwas Mönchisches an sich, Beppe Grillo ist eine Rampensau. Der eine wirkt wie ein konzentrierter Asket, der andere strotzt vor bacchantischer Kraftentfaltung. Casaleggio ist bestens mit der damals noch recht neuen Technologie vertraut. Grillo dagegen ist in Sachen Internet völlig unwissend. Er weiß – so wird er selber später sagen – nicht einmal, was ein Blog ist. Die beiden aber werden zu dem, was man zu Recht als das erfolgreichste politische Paar der italienischen Nachkriegsgeschichte bezeichnet. 2009 gründen sie M5S. Zehn Jahre später, im März 2019, wird M5S mit 32 Prozent Stimmenanteil stärkste Partei und bildet mit Matteo Salvinis Lega die Regierung. Das ungleiche Paar ist so erfolgreich, weil sie sich perfekt ergänzen: Casaleggio hat das Konzept, Grillo kann es popularisieren. Casaleggio ist das Hirn, Grillo ist der Lautsprecher.
Casaleggio beschäftigte sich viele Jahre damit, wie sich Communitys jenseits der traditionellen Kanäle, jenseits der Medien und der Parteien durch das Internet organisieren lassen. Casaleggio tat das weniger aus politischem denn aus kommerziellem Interesse, er war in erster Linie Geschäftsmann. Als er Grillo 2004 trifft, ist Silvio Berlusconi immer noch die beherrschende politische Kraft Italiens. Den Glanz der frühen neunziger Jahre hat dieser zwar längst schon verloren, doch noch immer bestimmt er die politischen Geschicke des Landes – er scheint ewig zu regieren. Auch die schlimmsten, die peinlichsten Skandale können ihm nicht schaden. Eine ganze Generation ist inzwischen unter Berlusconi herangewachsen. Luigi Di Maio, der M5S-Politiker, der 2019 Italiens Vizepremier werden sollte, ist 1994, als Berlusconi zum ersten Mal die Regierung bildet, acht Jahre alt!
Die vielen Versprechen des Illusionskünstlers Berlusconi von Arbeit und Wohlstand lösen sich mit den Jahren in Luft auf. Während er seine berüchtigten Bunga-Bunga-Partys feiert, während er sich mit Prostituierten und zwielichtigen Personen umgibt, während er für Wochen verschwindet, um sich Schönheitsoperationen und Haartransplantationen zu unterziehen, erlebt Di Maio in seiner Heimatstadt Pomigliano d’Arco den unerbittlich fortschreitenden Niedergang. Dabei steht die noch ein klein wenig besser da als viele andere Gemeinden im Süden Italiens. Die Alenia Aeronautica, ein Luft- und Raumfahrtunternehmen, hat in Pomigliano d’Arco einen Standort, und es gibt eine Fabrik von Alfa Romeo. Die Unternehmen florieren nicht, sie können ihre Arbeitsplätze gerade noch erhalten. Junge Menschen wie Di Maio haben kaum Perspektiven, kaum Aussicht auf Arbeit, kaum Aufstiegschancen. Seine Biografie steht stellvertretend für viele andere. Er wächst in behüteten Verhältnissen auf, sein Vater ist ein kleiner Bauunternehmer. Die Familie Di Maio ist nicht reich, aber sie hat ein ordentliches Auskommen. Nach dem Abitur beginnt Luigi Di Maio ein Studium der Rechtswissenschaften, bricht es ab, repariert Computer, jobbt als Platzanweiser und Kellner. Vor seinem Einstieg in die Politik hat er in seiner Steuererklärung kein Einkommen erklärt.73 Er schlägt sich so durch. Die Emigration in den Norden des Landes, den Weg, den viele Hunderttausende Süditaliener in der Nachkriegszeit gegangen sind, um ihrem Schicksal zu entgehen, bietet den Jugendlichen des Südens keine Aussicht auf Besserung, denn auch Norditalien ist seit Jahren von einer massiven Deindustrialisierung betroffen. Junge Menschen wie Di Maio wachsen in einer Umgebung auf, die von Korruption, Kriminalität, Misswirtschaft und Umweltverbrechen gewaltigen Ausmaßes geprägt ist.
Rund zwanzig Kilometer von seiner Heimatstadt entfernt beginnt die Terra dei Fuochi – das »Land des Feuers«. Die Gegend hat diesen Namen erhalten, weil in ihr immer wieder illegale Müllhalden brennen. Dann steigen schwarze Rauchsäulen gen Himmel und verpesten die Luft. Über 1000 Quadratkilometer groß ist das »Land des Feuers«, rund zwei Millionen Menschen leben in dieser Region. In manchen Gegenden haben die Behörden die landwirtschaftliche Nutzung verboten, weil die Dioxinbelastung zu groß ist. Krebserkrankungen sind in dieser Region auffallend häufig. Es gibt Untersuchungen, Anklagen, Prozesse – auch Verurteilungen, aber in der Terra dei Fuochi brennt es weiter. Lesen junge Menschen Nachrichten, finden sie Berichte über Berlusconis ausschweifende Feste, über seine Gerichtsprozesse, sie finden Analysen zu steigenden Arbeitslosenzahlen, Nachrichten über Unternehmen, die Produktionsstätten nach Fernost verlegen, Reportagen über die massive Auswanderung von Italienern nach London und Berlin. Vor ihren Augen entfaltet sich ein düsteres Panorama – Änderung nicht in Sicht.
Berlusconi aber ist für die Generation Di Maio nur die eine Seite der Medaille, die andere besteht in der Unfähigkeit der Opposition, namentlich der linken Parteien. Tatsächlich schlug eine Linkskoalition unter Führung von Romano Prodi Berlusconi zweimal bei landesweiten Wahlen, 1996 und zehn Jahre später 2006. Prodi blieb jeweils zwei Jahre lang an der Macht, verlor diese aber schließlich zweimal, weil sich seine Mehrparteienkoalition nur auf eine hauchdünne Mehrheit stützte. Die sozialdemokratisch geführten Regierungen hätten aber trotz ihrer Kurzlebigkeit die Möglichkeit gehabt, Berlusconis Medienmonopol zu beschneiden und ihm damit ein entscheidendes Instrument seines Machterhalts zu nehmen. Doch sie taten es nicht. Im Gegenteil, sie schlossen Kompromisse mit ihm und verlängerten damit den politischen Stillstand im Land. Während »da oben« gekungelt wurde, änderte sich an der Lage der italienischen Jugend so gut wie nichts, egal ob linke oder rechte Parteien regierten. Wenn M5S immer wieder betonte, dass sie sich selbst weder als links noch als rechts versteht, muss man das vor dem Hintergrund der Erfahrung dieser Generation verstehen. Weder links noch rechts sein zu wollen, das ist auch Ausdruck einer tiefsitzenden Enttäuschung, ein Beleg für den wiederholten Vertrauensbruch der Politik.
Das Internet und seine Avatare
Der Informatiker Casaleggio betrachtet diese verlorene Generation als Rohstoff für ein Sozialexperiment. Jahrelang leitet er ein kleines Forschungsunternehmen namens Webegg, ein britisch-italienisches Joint Venture. Webegg experimentiert vor allem mit den Möglichkeiten des Intranets, also mit betriebsinternen Netzen. 2002 stellt Casaleggio eine Forschungsarbeit vor, er und sein Team haben insgesamt 31 betriebsinterne Netze italienischer Unternehmen analysiert. Casaleggio fasst sie in drei Kategorien zusammen: institutionelle Netze, die sich ausschließlich mit interner Kommunikation beschäftigen: operative Netze, die das Geschäft der Unternehmen nach außen unterstützen, etwa den Verkauf von Produkten, und schließlich Netze, die sich mit der Organisation von Wissen beschäftigen. Ihr Ziel ist es, Communitys zu schaffen, sprich die Köpfe und das Denken der Menschen zu beeinflussen, sie gewissermaßen wie durch eine unsichtbare Hand zu leiten. Unternehmen könnten, so eine der Schlussfolgerungen, solche Communitys am Reißbrett entwerfen und dann nach ihren Plänen aufbauen. 2004 gründet Casaleggio sein eigenes Unternehmen, die Casaleggio Associati, beschäftigt sich mit der »Anwendung des Internets auf Organisationen« und berät Unternehmern insbesondere im E-Commerce-Bereich. Einer der Leitsprüch...
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titelei
- Widmung
- Inhalt
- Einsam, verbittert und ängstlich
- Sinnbild für das Land – Der Einsturz der Morandi-Brücke
- Die gescheiterte Revolution – Silvio Berlusconi nutzt seine Chance
- Die Wiedergeburt der Nation – Wie die Lega das Land hinter sich schart
- Radikalisierung im Netz – Der Erfolg der Fünf-Sterne-Bewegung
- Wenn Gefühle die Politik beherrschen
- Dank
- Anmerkungen
- Über den Autor
- Impressum
- Körber-Stifung