Teil 1
Das widersprüchliche Innenleben der Menschen
Haben Sie schon einmal jemanden wie Harald kennengelernt? Harald ist ständig in Bewegung, kennt sich mit allem aus und packt überall mit an. Er arbeitet schon seit vielen Jahren als Laborant, allerdings ohne Führungsverantwortung. Er hat seinem Chef jedoch ständig angeboten, alle möglichen Dinge für ihn zu erledigen. Mit viel Enthusiasmus ist er auch gern bereit, seine Kollegen auf Trab zu bringen. Der Chef hat das natürlich abgelehnt. Anfänglich. Dann aber kam der Tag, an dem er schwach wurde. Harald ist eben wirklich hilfsbereit und er schafft was weg. Er handelt wo andere nur reden. Von dem Tag an hatte Harald den Fuß in der Tür und sein Chef konnte nicht mehr Nein sagen, wenn er ihm seine Hilfe aufdrängte. Da Harald die Arbeit nicht auslastet, hat er mit seiner Frau einen kleinen Catering-Service aufgemacht. Es gibt kaum eine Abteilung im Unternehmen, in der er nicht schon eine Geburtstagsfeier oder ein Buffet ausgerichtet hat. Er macht das echt gut. Er ist wirklich schnell, nützlich und preisgünstig. Keiner kommt an ihm vorbei. Er ist immer da und wartet auf seine Einsatzmöglichkeiten. Die Kehrseite ist allerdings, dass einige Kollegen von ihm ziemlich genervt sind. Würden Sie sich einen Harald anschaffen?
Viele zögern bei diesem Gedanken. Das ist verständlich. Das Zusammenleben mit Menschen ist nicht immer einfach. Menschen haben drei Eigenschaften, die Ihnen alles abverlangen werden:
- Menschen sind widersprüchlich
- empfindlich
- und gleichzeitig mit den erstaunlichsten Fähigkeiten ausgestattet
Die bereichernden Momente, die auf Sie warten, sind allerdings jede Mühe wert.
Angenommen Sie haben sich für Harald entschieden und möchten ihn in Ihr Leben integrieren. Am Anfang werden Sie das Gefühl haben, dass Harald eine große Bereicherung ist. Er verhält sich tatsächlich wie oben beschrieben. Er sucht nach Möglichkeiten, Ihnen behilflich zu sein, nimmt Ihnen Arbeiten ab, kann nicht stillsitzen und ist ständig aktiv. Nach einer Weile kennt er all Ihre Freunde und Bekannten und kümmert sich um Ihr soziales Netzwerk. Er macht Termine für Sie, organisiert Ihre Freizeit, entscheidet mit wem und wann Sie sich treffen. Er nimmt auch jederzeit hilfsbereit an Ihren Freizeitaktivitäten teil. Ihre Freunde und Bekannten schließen ihn ins Herz und bald ist er ein Teil Ihrer kleinen Gesellschaft. Diese Gesellschaft wird immer größer, neue Bekanntschaften kommen dazu. Plötzlich merken Sie, Harald hat Ihr Leben verändert. Sie nehmen sich einen Moment Zeit, denken nach und stellen folgendes fest: Nicht Sie haben Harald in Ihr Leben integriert, sondern Harald hat Sie in sein Leben integriert. Nicht Sie haben die Verantwortung für Harald übernommen, Harald hat die Verantwortung für Sie übernommen. Nicht Sie führen Harald, Harald führt Sie. Harald hat Ihr Leben gekapert. Kapern durch Hilfsbereitschaft.
Jetzt fragen Sie sich: Ist das gut oder nicht? Will ich das oder nicht? Sie merken, dass diese Frage nicht leicht zu beantworten ist, denn Harald ist ja ein super Typ. Sie wollen ihn nicht enttäuschen, Sie wollen nicht seinen Enthusiasmus bremsen, Sie möchten ihm einen artgerechten Lebensraum ermöglichen. Gleichzeitig denken Sie, dass es an der Zeit ist, mit ihm über das gemeinsame Zusammenleben zu reden. Sie spüren, dass Sie die Verantwortungen und die Aufgaben etwas anders verteilen müssten. Sie laden ihn zu einem Gespräch ein:
| Sie: | »Harald, wir müssen mal reden.« |
| Harald: | [Erschrocken] »Ja, was denn?« |
| Sie: | »Ich glaube, wir müssen unser Zusammenleben nochmal sortieren.« |
| Harald: | »Was meinst du denn damit? Mach´ ich etwas falsch?« |
| Sie: | »Nein, natürlich nicht.« |
| Harald: | »Na dann ist es ja gut. Ich habe übrigens eine tolle Idee für das nächste Wochenende. Du wolltest doch immer mit Gisela und Tobias auf die kleine Hasenspitze rauffahren, mit dieser neuen Seilbahn. Ich habe euch schon Tickets besorgt und oben einen Tisch in der Gaststätte reserviert.« |
Harald schaut Sie jetzt erwartungsvoll an. Was sagen Sie nun? Dieser Frage werden wir jetzt ausführlich nachgehen.
- Was nehmen Sie an Menschen wahr?
- Wie ordnen Sie dies ein?
- Was können Sie dann tun?
Bevor Sie eine Entscheidung treffen, ob und mit welchem Menschen Sie zusammenleben möchten, ist es also hilfreich zu verstehen, was in einem Menschen vorgeht. Ja, auch ein Mensch hat ein Innenleben. Von außen können wir das nicht immer sofort erkennen, aber hierin liegt der Schlüssel für erfolgreiches Zusammenleben. Wer das Innenleben eines anderen erkennen und einordnen kann, kann auch das Zusammenleben auf eine für alle wohltuende Weise gestalten.
Hinsehen, Erkennen und Einordnen stehen daher am Anfang aller Entscheidungsprozesse. Dies ist meist nicht einfach. Oft ist es sogar für den einzelnen Menschen schwierig, sich selbst zu erkennen und einzuordnen. Der Mensch ist sich oft selbst ein Rätsel. Wenn aber schon dieser erste Schritt eine ernstzunehmende Hürde zu sein scheint, worauf sollten Sie dann achten und wie können Sie vorgehen, damit Sie bei Ihrer Auswahl die richtige Entscheidung treffen?
Es gibt Menschen in sehr vielfältigen Formen und jeder verhält sich etwas anders. Diese Unterschiede machen die Auswahl kompliziert. Schauen Sie nicht zuerst auf das Äußere. Das Äußere ist für ein gelingendes Zusammenleben zweitrangig. Achten Sie zuerst auf das Innere des anderen. Dazu müssen Sie Ihr eigenes Inneres kennen. Dann können Sie dieses mit dem Inneren des anderen in Beziehung setzen. Nun ist eine Prognose möglich, ob Sie mit dem Menschen Ihrer Wahl harmonisch zusammenleben werden.
Der Schlüssel hierfür ist in den meisten Fällen Ähnlichkeit. Dies gilt jedenfalls für die Anfangsphase der Beziehung. Damit lernen wir ein erstes Merkmal des Innenlebens der Menschen kennen: Der Wunsch nach Ähnlichkeit.
01
Ähnlichkeit – Segen und Fluch
Der Entwicklungsprozess des Menschen unterliegt ebenso der Evolution, wie bei allen Lebewesen. Menschen sind ein Naturprodukt. Die Evolution fördert Merkmale und Eigenschaften, die langfristig das Überleben sichern. Sie hat nicht das Überleben eines einzelnen Menschen im Sinn, sondern das Überleben der gesamten Spezies. Für den einzelnen Menschen ist dieser Denkrahmen zu groß. Er sieht sich vorrangig als Einzelwesen und sorgt sich zuerst um sich selbst. Auch Sie möchten, dass sich Ihr Mensch in seiner eigenen Lebensspanne als Individuum wohlfühlt und sich vielleicht sogar etwas weiterentwickelt. Damit dies gelingt, ist es hilfreich, einen kurzen Blick auf das größere evolutionäre Bild zu werfen.
Um auf diesem Planeten als Spezies zu überleben, benötigt der Mensch eine Vielzahl unterschiedlicher Fähigkeiten. Ein Mensch allein verfügt über all diese nicht. Also hat die Natur eine Arbeitsteilung entwickelt. Jeder verfügt über andere Fähigkeiten in unterschiedlichen Ausprägungen. Merke: Jeder (!) hat Fähigkeiten und jeder ist ein bisschen anders. Auf der einen Seite ist das gut, weil dadurch alle Menschen gemeinsam über alle notwendigen Fähigkeiten verfügen. Auf der anderen Seite besteht die Herausforderung, diese Unterschiedlichkeiten sinnvoll zusammenzufügen. Dies erfordert ein sehr hohes Maß an Übersicht und Koordination. Ein Einzelner kann dies nicht leisten. Hierfür ist wiederum gemeinsames und koordiniertes Handeln vieler Menschen notwendig. Wir erkennen an dieser Stelle zum ersten Mal ein Dilemma. Übersicht und Koordination unterschiedlicher Fähigkeiten erfolgen am besten durch gemeinsames Handeln. Ein Einzelner kann das nicht allein bewältigen, weil ihm die Gesamtsicht fehlt und weil er seine Einzelinteressen in den Mittelpunkt stellt. Wie kann es Menschen dann überhaupt gelingen, zu sinnvollem gemeinsamem Handeln zu gelangen? Hier stoßen wir auf den ersten Widerspruch.
Menschen sind gefordert, miteinander zu kooperieren, um als Spezies zu überleben. Sie sind aber darauf fokussiert, als Individuum erfolgreich zu sein. Sie sind auf Kooperation nicht vorbereitet.
Sie erwarten nun möglicherweise, dass Menschen andere Artgenossen suchen, die völlig anders sind. Dadurch würden sich unterschiedliche Eigenschaften und Fähigkeiten überhaupt erst zusammenfügen. Das hat die Evolution aber nicht hervorgebracht. Folgendes Beispiel zeigt das.
Es gibt Menschen, die sich gern mit Artgenossen umgeben. Sie möchten immer in deren Nähe sein. Manchmal geht das so weit, dass sie am anderen regelrecht kleben. Allein zu sein, fällt diesen Menschen schwer. Gleichzeitig gibt es Menschen, die mehr Raum für sich selbst benötigen, auch mal allein sein und sich ausbreiten wollen, ohne sich ständig um einen anderen Menschen kümmern zu müssen. Beides ist in Ordnung. Beides hat die Natur hervorgebracht. Beides gehört zu den überlebenswichtigen Unterschieden. Wenn sich diese beiden unterschiedlichen Menschen nun treffen, dann passiert in deren Inneren folgendes. Beide erkennen sofort die Unterschiede und DENKEN: Der ist anders als ich und das ist eigentlich interessant und gut. Gleichzeitig FÜHLEN die beiden: Der andere ist mir aber echt zu anstrengend und darauf möchte ich mich erst einmal nicht einlassen.
Es kommt deshalb nicht zu einer Verbindung. Das, was allen Menschen zusammen das Leben leichter und erfolgreicher machen würde, empfindet der einzelne Mensch häufig als unbequem und störend. Was er dagegen als angenehm und erstrebenswert empfindet, ist Ähnlichkeit. Die meisten Menschen mögen andere Menschen, wenn sie das Gefühl haben, dass ihr Gegenüber so ist, wie sie selbst. Wenn Menschen aber hauptsächlich Menschen mögen, die ihnen ähnlich sind, dann verbinden sich auch nur ähnliche Eigenschaften und Fähigkeiten miteinander. Überlebenswichtige Vielfalt wird dadurch eingeschränkt und kann sich nicht vollständig entfalten.
Dies ist ein weiterer erstaunlicher Widerspruch.
Potentiale entfalten sich durch Vielfalt. Menschen suchen aber eher nach Ihresgleichen.
Was sich die Natur dabei gedacht hat, ist bis heute ein Rätsel. Um ihren Wunsch nach Verbindung und Potentialentfaltung zu verwirklichen, benötigen Menschen also Ähnlichkeit als eine Brücke zur Vielfalt. Hierbei geht es nicht um äußere Ähnlichkeiten, wie zum Beispiel Größe, Gewicht, Aussehen, Kleidung oder die bevorzugte Automarke, sondern um innere. Nach welchen Merkmalen werden nun Ähnlichkeiten und Unterschiede sortiert? Menschen haben hier tatsächlich ausgeprägte innere Strategien. Sehr feine Instinkte sind am Werk. Um relevante Merkmale der Artgenossen sortieren zu können, muss der Mensch sie überhaupt erst einmal wahrnehmen. Das können Menschen auch, oftmals unbewusst. Menschen sind sehr fein konstruierte Lebewesen. Der erste Blick auf das Äußere täuscht manchmal. Diese Erkenntnis führt zum nächsten naheliegenden Gedanken. Menschen sind mit dieser inneren Feinheit auch sehr empfindsam. Es gibt kaum eine Spezies, die schneller krank wird, vor allem innerlich. Wenn Sie jetzt schon darüber nachdenken, vielleicht doch lieber darauf zu verzichten, sich einen Menschen anzuschaffen, dann wäre das völlig verständlich. Das ist eine verantwortungsvolle und sehr komplexe Aufgabe. Dennoch ist es empfehlenswert, etwas mehr vom geheimen Innenleben des Menschen zu erfahren, bevor Sie sich endgültig entscheiden. Die Erfahrung hat gezeigt, dass das Zusammenleben mit Menschen durchaus beglückende Momente bereithalten kann.
02
Sechs Stärken für eine Welt
Die feine Wahrnehmung von Menschen ist wie ein hochauflösendes Radar [2]. Wenn Sie einem Menschen zum ersten Mal begegnen, wird er Sie sehr sorgfältig und minutiös durchleuchten, wie am Flughafen, wenn Sie durch einen Body-Scanner gehen. Wehe der Scanner findet etwas, das ihn irritiert oder stört. Dann sendet er sofort ein Warnsignal, aber nicht laut, sondern in aller Stille, für Außenstehende nicht wahrnehmbar. Der Mensch ...