Teil C: Ergebnisse
I. Die Gruppe „Bancada Revolucionário Gospel“
(BRG – Hip-Hop)
1. Kontextualisierung in der Peripherie Beléms87
Geographisches
Belém (= ´Bethlehem´) ist die Hauptstadt des nordbrasilianischen Bundesstaates Pará. Sie ist die größte Hafenstadt der Region Amazoniens und liegt unterhalb des sich über 250 km ausdehnenden Mündungsgebiets der Flüsse Rio Tocantins und Rio do Pará in den Atlantik (vgl. Taubald 2007, S. 308 ff.). Belém liegt ca. 130 Kilometer vom Atlantik entfernt und ist umgeben von Inseln, zu denen die Flussinsel Marajó gehört, die in etwa der Größe Belgiens entspricht. Klimatisch ist die Stadt geprägt von der tropischen Realität der Amazonasregion mit Temperaturen zwischen 20°C und 35°C (Mittelwert: 25,7°C). Tägliche Regenfälle prägen das Leben (2500 bis 3200 mm/Jahr). Es gibt keine ausgeprägte Trokkenzeit, aber im Monat Oktober herrscht die größte Trockenheit (60 mm). In den Monaten Januar bis Juli sind starke Regenfälle zu verzeichnen. Der März ist der regenreichste Monat mit 435 mm. Die Luftfeuchtigkeit beträgt während des gesamten Jahres ca. 80 % (vgl. Belém 2001).
Belém wird von vielen die Stadt der Mangobäume genannt, aufgrund der Hunderte von alten Mangobäumen, die die Straßen der Stadt säumen. Sie ist die zweitgrößte Metropole der Amazonasregion mit 1,4 Mio. Einwohnern. Die Stadt Belém konkurriert mit Manaus um den Titel „Hauptstadt Amazoniens“ zu sein. Pará und Amazonien sind zwei von den sieben nördlichen Staaten Brasiliens.
Die Stadt Belém befindet sich auf der kontinentalen Seite des Bezirks Belém und dehnt sich auf einer Fläche von 170 km2 aus. Sie ist unterteilt in acht Regierungsbezirke und 78 Stadtteile (vgl. Codem 2001). Das Stadtgebiet erstreckt sich auf ca. einem Drittel seines Territoriums, wobei die anderen zwei Drittel aus Inseln bestehen, von denen 39 erschlossen und bewohnt sind, wie die Ilha das Onças, do Papagaio, Combu, Mosqueiro, Jutuba, Arapiranga.
Die „Baixadas“ in Belém
Die „Baixadas“ in Belém kann man am besten übersetzen mit „unter“ der Stadt leben (engl. `downtown`). Die Menschen dieser Stadtviertel leben sozusagen „unter“ der Stadt, eben unter der Menschenwürde, worunter auch wir Europäer ein menschliches Wohnen verstehen: Ein Dach über dem Kopf, fließendes Wasser und genügend Nahrungsmittel zu haben. Das müsste wohl erstrebenswert sein für eine Stadtregierung, nicht so in Brasilien (und in vielen anderen Städten der Welt).
Belém hat im Laufe seines demographischen Wachstums, v.a. zwischen Baía do Guajará und dem See Piri da Jussara, einen Stadtteil entwickelt, der zeitweise während der Regenzeit von Dezember bis Mai teils überflutet. In diesem Gebiet gibt es erhöhte Gebiete, die bewohnbar sind und bis Mitte des 20. Jahrhunderts bebaut wurden. Seither hat sich einiges geändert. Die umliegenden Gebiete wurden durch Invasion, d.h. nicht kontrollierte Okkupation und Bebauung bewohnbar gemacht, bzw. einfach bebaut und werden jedoch während der jährlichen Regenzeit überflutet. Dorthin zog es Leute mit geringen Einkünften. Hierzu schreibt Rodrigues (1996):
„Gebiete besetzt von zahlreichen Familien, geringer Einkünfte, ließen öffentliche Räume entstehen, wie Straßen und Plätze kleinerer Dimensionen, und schufen lebendige Agglomerationen von Infrastruktur und von städtischer Ausstattung.“88
Die Menschen in diesem Stadtteil sind arm und haben oft keine Arbeit, deshalb bauten sie kleine Baracken auf ein teilweise nicht mehr als 50 m2 großes Grundstück. Heute gibt es wenigstens die nötige Infrastruktur wie Abwasserkanäle, Licht und Straßen. Diese städtischen Investitionen haben den Wert dieses Viertels ungemein angehoben.
An den Rändern wächst diese Agglomeration weiter und es entstehen immer neue Favelas. In diesen Straßenzügen gibt es keinerlei städtische Infrastruktur. Die Situation dieser Bewohner ist als miserabel und unter aller Menschenwürde zu bezeichnen.
Nach Rodriguez gibt es in Belém v.a. zwei Gebiete, die für die Invasion genutzt werden, das sind erstens die Überschwemmungsgebiete und zweitens die Stadtränder, die Peripherie. Es sind teils Gebiete in Zentrumsnähe, aber mittlerweile auch Gebiete, die entlang der Eisenbahnstrecke Belém-Braganca liegen.
Für die Bewohner der Peripherie, in der auch die Hip-Hop Gruppe angesiedelt ist, gelten nicht die sozial-ökonomischen Bedingungen wie für die übrigen Belémer, worauf im nächsten Kapitel genauer eingegangen werden soll.
Peripherie: Soziale Beziehungen
Nicht nur vom Wohnort her gesehen macht es einen Unterschied, wo man in Belém wohnt, sondern auch die Betrachtung der sozialen Beziehungen deckt große Differenzen auf, die nicht unbedingt von der Klasse und der Gruppenzugehörigkeit abhängen.
Die Stadtteile sind von der Soziologie her gesehen Phänomene eines kollektiven Zusammenlebens, in denen man immer wieder Bezüge zur Ursprungszelle des Menschen, der Familie feststellen kann (vgl. Roudinesco 2008). Die Nachbarschaft ist eines der Hauptkennzeichen eines Stadtviertels (vgl. Ledrut 1971). Aus ihr heraus entwickeln sich auch geschäftliche Beziehungen wie Einzelhandel und Dienstleistungen. Darüber hinaus gruppieren sich Menschen auch nach Interessensgruppen in Organisationen und Vereinigungen, Gemeinden, bspw. ist die Hip-Hop Gruppe ein Beispiel für eine Interessenvereinigung, die wiederum durch die Teilnehmer selbst festgelegt wird (vgl. Rocha & Domenich & Cassiano 2004). Die Gruppenbildung fördert laut Ledrut (1971) die Entwicklung der Persönlichkeiten und trägt zur Individualisierung bei.
Des Weiteren spricht er einen negativen Aspekt von den Baixadas an, nämlich dass die Raumenge sich auf die Entwicklung der Persönlichkeit hemmend auswirkt.
„Damit das Stadtviertel die Existenz von Organisationen garantieren kann, damit sich aus der Kollektivität heraus einzelne Individuen entwickeln können, muss sich auch ein Gefühl der Nähe und Distanz herstellen können, es ist also nötig, dass die territorialen Dimensionen groß genug für die Entfaltung des Städters sind.“ (Ledrut 1971)
Aus den Interviews wird diese räumliche und häusliche Enge sowie die Enge zur Nachbarschaft durch einen Verlust an Intimität deutlich. Dies führt auch oft zu interfamiliärem Streit und Missgunst unter den Geschwistern und Eltern.
Das Stadtviertel GUAMÁ
In diesem Stadtviertel situiert sich die Hip-Hop Gruppe Bancada Revolucionário Gospel, wo auch unsere Befragung stattfand. Es ist ein Stadtteil der Peripherie Beléms/PA. Um die Entstehung dieses Stadtteils richtig zu verstehen, ist es wichtig, sich die Destrukturierung Amazoniens und den wirtschaftlichen und sozialen Ausschluss von vielen Menschen zu vergegenwärtigen (vgl. Pinto 2003).
Ramos (2002) spricht davon, dass man nicht genau nachvollziehen kann, wann die Besiedlung des Stadtteils Guamá begann. Die erste historische Dokumentation bezieht sich auf eine Urkunde, die besagt, dass in der Nähe des Igarapé Tucunduba eine Fazenda, die 1728 vom portugiesischen König an einen Herren verschenkt wurde, anzutreffen war.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Friedhof „Leprosário do Tucunduba“ gebaut. Schon Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts begann der Prozess der Urbanisierung großer brasilianischer Städte, es entstanden auch die großen Projekte in Amazonien.
Die beiden Namen „Guamá“ und „Tucunduba“ stammen aus der Tupi-Guaraní Sprache und beziehen sich auf eine Fischart (Peixe-coelho = Hasenfisch), die vor langer Zeit in den Seitenarmen des Amazonas lebte und zwar in Regionen, in denen es viele Tucum-Palmen89 gab.
„Am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, als die großen brasilianischen Hauptstädte entstanden, unter ihnen die Stadt Belém, versuchten die Regierungen die Territorien zu begrenzen, die von jeder sozialen Klasse besiedelt werden sollten: die Innenstadt, luxuriös, bewohnt und zivilisiert durch die Reichen; und die miserable Peripherie (Baixadas), verunreinigt und bewaldet von den Armen.“ (Ramos 2002, S. 33)
So verhält es sich auch mit Guamá, ein Stadtteil weit entfernt und isoliert vom Zentrum, der sich hervorragend eignet, um den „sozialen Ballast und Müll“ loszuwerden. Ein Ort, in dem sich Gestalten aufhalten konnten, die unerwünscht, schlecht und unnütz für die Gesellschaft sind (vgl. Ramos 2002).
Der Stadtteil Guamá ist also absichtlich so angelegt worden, dass der Ausschluss gewisser Individuen aus der Gesellschaft vollzogen werden konnte.
Ramos gibt an, dass Guamá bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wenig besiedelt war. Die meisten Gebiete waren bewaldet, die zur Jagd einluden und den wenigen Bewohnern Früchte zur Nahrung spendeten.
Daneben wurde, wie oben erwähnt, das Krankenhaus mit einem Friedhof „Hospício dos Lázaros do Tucunduba“ (1815-1930) gebaut. Das Krankenhaus hatte nicht nur die Funktion Erkrankte der Hanseaniase zu behandeln, sondern v.a. auch Personen mit unheilbaren Krankheiten zu isolieren, abzuschotten und abzugrenzen (vgl. Ramos 2002, S. 19).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden in Guamá drei weitere Krankenhäuser, die die Funktion der Isolierung von Schwerkranken hatten. Dazu gehörte jeweils ein Friedhof. In diesem Sinne kann man besser verstehen, dass dies der Ort der Verbannten und Ausgeschlossenen war und was es heute heißt, in Guamá zu wohnen. Aufgrund großen öffentlichen Drucks, der wohl v.a. auf bevorstehende Wahlen zurückzuführen war, wurde in der Vergangenheit im Stadtteil einiges an Infrastruktur gebaut: der Städtische Markt von Guamá, die Schule Frei Daniel, eine kleine Gesundheitsstation, eine Polizeistation, die Kirchen São Pedro und São Paulo. Später wurde dort auch die Freie Universität von Pará gebaut, um dem Stadtteil einen etwas anderen Charakter zu geben.
Guamá ist der bevölkerungsreichste Stadtteil Beléms (vgl. IBEG 2000), mit ca. 102.000 Einwohnern und schätzungsweise mit 22.000 Familien, von denen sich mehr als 50 % in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten befinden. D.h., dass der für das Gehalt Verantwortliche nur zwei Mindestlöhne erhält oder keine Rente bezieht. Die Mehrheit überlebt mittels informeller Arbeit ohne ordentliche Arbeitsverträge. Die Kriminalitätsrate ist die höchste in ganz Belém. Beherrscht wird der Stadtteil von vielen Straßengangs und Jugendlichen in verwahrlosten Lebensbedingungen. Daneben gibt es einen großen Drogenhandel (vgl. Ramos 2002).
Die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung lässt zu Wünschen übrig und reicht bei Weitem nicht aus, um die Bevölkerung mit der notwendigsten Medizin zu versorgen. Lange Zeit gab es nur eine kleine Gesundheitsstation, erst 1981 wurde ein Gesundheitszentrum gebaut, dessen Charakteristik die langen Warteschlangen von Kranken sind. Das gleiche gilt für die städtischen Krankenhäuser, deren einziger gemeinsamer Nenner mit „chaotischen Zuständen“ beschrieben werden kann.
In diese Szene der Gegensätze und der Exklusion schreibt sich unsere befragte Gruppe (Bancada Revolucionário Gospel) ein, deren Jugendliche meist in Guamá leben. Sie hatten alle eine Kindheit und Jugend, die von Problemen, Vorurteilen und Privation gekennzeichnet waren. Hier blieb die Kindheit und Jugend jenseits des Interesses der Politik, der Möglichkeit die Schule zu besuchen, des Sports, des Zeitvertreibs und des einigermaßen gesunden körperlichen Heranwachsens.
Im nächsten Abschnitt wird auf dem Hintergrund der bereits erörterten Zusammenhänge kurz die Geschichte der Hip-Hop Bewegung skizziert. Hierbei werden interessante Ähnlichkeiten bezüglich des sozialen Umfelds der Jugendlichen zu Tage treten, die sowohl in Nordamerika als auch in Südamerika anzutreffen sind.
Die Rassenfrage in Belém
Um die Hip-Hop Bewegung im Allgemeinen und die „Revolutionäre Gospel Vereinigung“ (BRG) in Belém im Besonderen besser verstehen und einordnen zu können, ist es wichtig, näher auf die Beziehungen zwischen den Rassen einzugehen. Wie bereits oben erwähnt, begegnen sich in Brasilien seit mehr als 500 Jahren Menschen verschiedener Rassen. In erster Linie waren dies die indigenen Völker und die Portugiesen, später kamen nachweisbar seit den 1530er Jahren 3,9 Millionen Schwarze aus Afrika hinzu (vgl. Silva 1987; Schwarcz 1987; Motta 1989; Meissner & Mücke & Weber 2008). Im 19. Jahrhundert emigrierten viele Europäer, Amerikaner und Asiaten nach Brasilien. Alle Emigranten versprachen sich ein besseres Leben in diesem großen Land, bis auf die Schwarzen, die dorthin gezwungen wurden und zwar als Sklaven (vgl. Meissner & Mücke & Weber 2008). In Afrika verkauften oft Nachbarstämme ihre eigenen Landesgenossen an europäische Seefahrer, die mit Sklavenverkäufen in die Neue Welt einem lukrativen Geschäft nachgehen konnten. Sie hatten den Vorteil bereits Feuerwaffen zu besitzen und machten sich diesen Vorsprung zu nutze, indem sie sie neben anderen Kulturgütern den afrikanischen Stammesfürsten zum Tausch für Kriegsgefangene benachbarter Königtümer anboten (vgl. Meissner & Mücke & Weber 2008). Neben den Seefahrtsgesellschaften konnte ein europäisches Netz von Zulieferbetrieben vom transatlantischen Sklavenhandel profitieren.90 Hierin wird in der neueren Geschichtsschreibung auch der Beginn der ökonomischen und kulturellen Globalisierung gesehen (vgl. ebd.).
Die Abolition brachte ab dem 13. Mai 1888 in Brasilien zwar ein Ende der bedrükkenden Oppressionsverhältnisse mit sich, löste aber auf der politischen Ebene keine der sich daraus ergeben habenden Probleme der Schwarzen. Demgegenüber vertrat die konservative Regierung der jungen brasilianischen Republik, die das Kaiserreich im November 1889 ablöste, eine Politik, die die Interessen der Landbesitzer festigte und eine intensive Einwanderungspolitik für Europäer vorantrieb, so dass die Schwarzen von einer Eingliederung in ein neues Bildungssystem und den Arbeitsmarkt weitestgehend ausgeschlossen blieben und in die Marginalisierung gezwungen wurden (vgl. ebd., S. 213-218). Diese Situation bewirkt bis heute eine der nachhaltigsten Benachteiligungen von einer großen Menschengruppe in Brasilien (vgl. Silva 1987; Schwarcz 1987). Nur wenigen gelang es seitdem, sich in höhere, gesellschaftlich gewichtigere Rollen emporzuarbeiten. Die Geburt bestimmt in Brasilien mehr als in Deutschland über gesellschaftlichen Rang und Erfolgsaussichten im Beruf und der Partnerwahl. Dennoch scheint auch dies nicht ganz zu stimmen, hat sich doch gerade in Nordbrasilien die Bevölkerung größtenteils miteinander vermischt. In Belém jedoch trifft man kaum auf reine Schwarze, Weiße oder Indios, sondern meist auf sogenannte Mischlinge, Mestizen.
Kurze Geschichte der Hip-Hop Bewegung
Die Ursprünge des Hip-Hops
Die Geschichte des Hip-Hops ist immer im Zusammenhang mit der Geschichte Schwarzer zu sehen, v.a. in Bezug auf die Ideen und Diskurse, die aus der Schwarzenbewegung Nordamerikas hervorgegangen sind (vgl. Meissner & Mücke & Weber 2008; Jewett & Wangerin 2008, S. 250 ff.).
Die 60er Jahre waren für die USA eine problematische Zeit, in der außenpolitisch der Kalte Krieg die Menschen in Atem hielt und dazu bewog, in die Krise von Misseis (1962) hineinzuschlittern und sich auch in den Vietnam-Krieg (1965-1975) zu involvieren (vgl. Jewett & Wangerin 2008, S. 256 ff.). Die Konsequenzen für die Amerikaner waren bitter und hart, v.a. für die rekrutie...