Ein Kompendium fasst kurz und prägnant Fachwissen zusammen, indem es die verschiedenen Inhalte, Methoden und Disziplinen gegeneinander abwiegt und miteinander ins Gespräch bringt. Dieser Band entfaltet die Diakoniewissenschaft in ihrem Bezug zur praktischen Theologie.
Zuallererst muss festgehalten werden, dass eine allgemein anerkannte Definition von Diakoniewissenschaft bis jetzt in Fachkreisen nicht vorliegt. Dies liegt daran, dass der Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion, die »Diakonie«, zumindest im deutschsprachigen, westeuropäischen Kontext unklar, diffus und je nach kontextueller Einbindung unterschiedlich bestimmt ist (vgl. Eidt/Eurich 2016a, 118). Die Verantwortlichen der »Diakonie Deutschland« mit 500’000 Arbeitsplätzen grenzen den Bereich der »Diakonie« anders ein, als die Pfarrerin einer kleinen Berggemeinde in der Schweiz oder die Sozialdiakonin in einem urban geprägten Quartier in Rotterdam.
Dieses Kompendium entfaltet Grundlagen und wichtige Entwicklungen der Diakoniewissenschaft in ihrer systematischen Begründung als Kunstlehre des Helfens. Damit ist ein Doppeltes angesagt. Erstens ist für diese »Kunstlehre des Helfens« die Natur des Helfens der Ausgangspunkt. Der Begriff des Helfens geriet vor Jahrzehnten besonders mit dem Blick auf »die hilflosen Helfer« (Schmidbauer 2008) im alltäglichen Gebrauch wie auch in der sozialen Arbeit stark unter Druck. Aktuell erfreut sich das Wortfeld »Hilfe«, »Helfen« oder »helfendes Handeln« aufgrund seines universellen Gebrauchs und seines Potentials, verständlich, sprachfähig und verstehbar zu sein, einer Renaissance in Wissenschaft und Praxis. Signifikante Veränderungsprozesse im gesellschaftlichen Zusammenleben im europäischen und globalen Kontext legen zudem in aktuellen sozialpolitischen und kirchlichen Debatten den Fokus auf die Frage des Helfens. Beispiele dafür sind auf globaler Ebene die Themen Migration und Klima oder auf lokaler Ebene die Initiativen für gemeinschaftliche, generationenübergreifende Wohnsituationen. Zweitens drückt der Begriff der »Kunstlehre des Helfens« aus, dass das Verhältnis zwischen Hilfesuchendem und Hilfeleistendem in seinen Grundzügen als künstlerischer Akt verstanden wird. Das schöpferische und kreative Potential dieses künstlerischen Akts des Helfens wird in der für die abendländische Geistesgeschichte prägenden Erzählung des barmherzigen Samariters, der dem unter die Räuber gefallenen Menschen hilft, wunderbar zum Ausdruck gebracht (Lk 10, 25–37). Im schöpferischen Akt entsteht eine Beziehung zwischen Helfendem und Hilfesuchendem, die – zusammen mit der Natur des Helfens selber – zum Ausgangspunkt dafür wird, wie Helfen und damit die Diakonie zu verstehen ist. Wie ist allgemein zu verstehen, dass Menschen sich von der Not anderer betreffen lassen und helfen? Wie sind Hilfe und Diakonie als Praxis des christlichen Glaubens praktisch-theologisch zu interpretieren? Wie ist individuelle und institutionelle, als Diakonie beschriebene Hilfe unter den Bedingungen einer pluralen, multikulturellen und -religiösen Gesellschaft westeuropäischer Prägung gesellschaftspolitisch zu gestalten und zu deuten?
Verstehen, interpretieren, deuten: Die Kunst des Helfens entfaltet das Helfen in seiner Polarität zwischen Helfendem und Hilfesuchenden. Sie lehrt uns, Helfen als Teil des Selbstverständnisses des Christseins und der christlichen Kultur zu verstehen. Die Kunstlehre des Helfens übt sich in Lektionen der »Kunst des Verstehens«, die nach Friedrich Schleiermacher nichts anderes als das Geschäft der Hermeneutik ist (Schleiermacher (1819) 2012, 119). Diese Kunstlehre des Verstehens bezieht sich nach Schleiermacher nicht nur auf speziell schwierige Fragen der Rede oder Sprache, sondern hat allgemeinen Charakter sprechender Kultur (Schleiermacher (1826–27) 2012, 454). Angesichts der Vielfalt sprechender Kulturen in Seelsorge, Diakonie und Kirche, die Menschen existentiell an Körper, Seele und Geist helfen, kann, den Gedanken Schleiermachers weiterführend, Diakoniewissenschaft mit Reiner Anselm als eine »Hermeneutik der christlichen Kultur des Helfens« (Anselm 2001, 10) beschrieben werden. Daraus folgt als zentrale Aufgabe der Diakoniewissenschaft der Entwurf einer diakonischen Hermeneutik.
1.1 Zentrale Aufgabe
Zentrale Aufgabe der Diakoniewissenschaft ist es, allgemein helfendes Handeln als spezifisch diakonische Praxis zu verstehen. Unter diakonischer Praxis wird in der jüdisch-christlichen Glaubenstradition die Liebesfähigkeit des Menschen verstanden, welche die Liebe Gottes in seiner Menschenfreundlichkeit (Tit 3,4) widerspiegelt, Gott, den Schöpfer der Welt als Liebe in Person auslegt (1 Joh 4,16) und Gott zum Freund des Lebens erklärt (Weish 11,26). Gottes Liebe und die Menschenliebe geraten in Schwingung, oder, um den signifikanten Begriff des Soziologen Hartmut Rosa aufzunehmen, sind in Resonanz. Göttliche Liebe und menschliche Liebe zu sich selber und zu anderen bilden den Resonanzraum diakonischer Praxis. Mit der Einsicht Rosas kann theologisch die Liebe Gottes als die eine Stimmgabel interpretiert werden, welche eine zweite Stimmgabel, nämlich die Liebesfähigkeit des Menschen, in Schwingung bringt.1 Zwischen beiden Polen der Liebe entsteht ein »vibrierender Draht« voller Affekte und Emotionen. Angerührt von der Welt als Gottes Schöpfung handelt der Mensch in seiner Geschöpflichkeit, antwortet und wirkt auf diese Welt ein. Um einer Engführung christlicher Haltung zuvorzukommen: Wenn christlicher Glaube den vibrierenden Draht der Liebesfähigkeit zwischen Welt und Mensch als Auswirkung der Liebe Gottes, des Schöpfers zu all seinen Geschöpfen deutet, so gilt diese Vibration auch bei nichtchristlichen, nicht glaubenden Menschen, auch wenn sie ihre mit Affekten und Emotionen versehene Resonanz helfenden Handelns niemals mit christlichen Begriffen und Erklärungen auslegen würden.2 Wir stellen also Folgendes fest: Spezifisch diakonische Praxis ist allgemein menschliches Handeln. Allgemein menschliches Handeln kann als spezifisch diakonische Praxis interpretiert werden.
Es gehört also zur grundlegenden Aufgabe der Diakoniewissenschaft, helfendes Handeln als diakonische Praxis zu deuten, zu erklären oder auszulegen. Dafür nimmt die Diakoniewissenschaft Bedeutungsinhalte des griechischen Begriffes »hermeneuein« auf. Hans Weder wies nach, dass in der Neuzeit »die Hermeneutik zu einer Verstehenslehre geworden ist, welche alle Phänomene, mit denen sie sich beschäftigt, per definitionem als Lebensäußerung des menschlichen Geistes ansieht.« (Weder 1986, 23). »Indem«, so Gerhard Ebeling, »die Hermeneutik dem Wort zugewandt ist, ist sie der Wirklichkeit zugewandt.« (Ebeling 1960, 335). Helfen ist also als Phänomen, mit welchem sich die Verstehenslehre beschäftigt, per definitionem eine Lebensäußerung des menschlichen Geistes. Außerdem schafft Helfen seinerseits Wirklichkeit mit Wort und Tat. So entpuppt sich das zentrale Anliegen der Diakoniewissenschaft als eine hermeneutische Aufgabe: die diakonische Praxis soll verstanden werden. Als Hermeneutik diakonischer Praxis »reflektiert diese [Diakonik im Sinne von Diakoniewissenschaft, erg. CS] diakonisches Handeln im Blick auf neues soziales und theologisches Verstehen und im Hinblick auf verändertes soziales Gestalten.« (Sigrist 2014b, 54–55). Diese zentrale Aufgabe wird im Konzept der Kunstlehre des Helfens als diakonische Hermeneutik umschrieben.
Was heißt diakonische Hermeneutik? Auf den ersten Blick ist eine Antwort schnell zur Hand: Eine Hermeneutik ist dann diakonisch zu nennen, wenn sie sich mit der Diakonie beschäftigt, wie sie sich aus der biblischen Tradition herleitet. Dabei meint diakonische Hermeneutik mehr als bloß den spezifischen Gegenstand der »Diakonie« im Unterschied zum allgemeinen »Helfen«. Um diesen »Mehrwert« der »Diakonie« entfachte sich angesichts der pluralen Gesellschaft mit den unterschiedlichen Kunstlehren des Helfens ein Streit, was denn unter diesem »Mehr« genau zu verstehen ist. Was soll denn diakonische Hermeneutik mehr als eine allgemeine Hermeneutik menschlicher Hilfe sein, wenn sie sich nicht im »religiösen Mehrwert« verrennen möchte? Ulrich Bachs »Plädoyer für eine Diakonie ohne religiösen Mehrwert« (Bach 1998, 1259) macht das diakonische Verstehen der Hilfe dem allgemeinen Verstehen der Hilfe zugänglich. Diakonische Hermeneutik bringt keinen religiösen Mehrwert in die Kunstlehre des Helfens ein. Ein religiöser Mensch hilft genauso wie ein nicht religiöser Mensch aufgrund der resonatorischen Fähigkeit zwischen ihm und seiner Welt. Und dennoch bringt die diakonische Hermeneutik noch etwas anderes. Wie kann dies beschrieben werden?
Auszugehen ist von der Einsicht, dass diakonische Praxis selbst hermeneutisches Potential in sich trägt. Sie versteht Gott, Mensch und Welt in überraschender Weise als Resonanzraum, in welchem Hilfe geschieht. Dies muss nicht zum religiösen Mehrwert führen. Denn die religiöse Interpretation helfenden Handelns ist ja nicht Voraussetzung des Umgangs diakonischer Praxis. Es bleibt per definitionem die Not des Menschen Voraussetzung jeglicher Hilfeleistung. Doch hat die diakonische Hermeneutik, die aufnimmt, was im Resonanzraum Gott, Mensch und Welt geschieht, Folgen für das Verfahren ihrer Kunstlehre des Helfens.
Erstens: Eine diakonische Hermeneutik kann nicht von dem absehen, was in der biblischen Tradition unter helfendem Handeln als diakonischer Praxis entworfen wird. Ein Blick in die Auslegungsgeschichte alt- und neutestamentlicher Texte zu helfendem Handeln sowie deren Wirkungsgeschichte in Kirche und Gesellschaft offenbart deren hermeneutisches Potential für die Kunstlehre des Helfens. Der Begriff Diakonie geht auf die griechischen Begriffe »diakonein, diakonia« zurück, welche für das biblische Verständnis des Helfens relevant sind. Die neuen exegetischen Einsichten zu diesen Begriffen müssen folglich in einer diakonischen Hermeneutik auch berücksichtigt werden. In der biblischen Tradition wird mithilfe von Geschichten und Anekdoten das Helfen gelehrt und gelernt. Diakonische Praxis lebt vom narrativen Potential jüdisch-christlicher Kultur. Mit Albrecht Grözinger geht es in der christlichen Diakonie »um die Lesbarkeit des menschlichen Lebens, um die Erzählbarkeit menschlicher Hoffnungen und Enttäuschungen und um die Erinnerbarkeit menschlicher Lebensgeschichte.« (Grözinger 1998, 124). Dieser narrative Zug offenbart die zeitgeschichtliche und lebensgeschichtliche Einbindung diakonischer Praxis zwischen Helfendem und Hilfesuchendem. Nicht die biblizistische Nacherzählung des barmherzigen Samariters, sondern ihre hermeneutische Weitererzählung in die heutige Zeit ist das Geschäft einer diakonischen Hermeneutik als Beitrag zum Verständnis von Diakonie in der Diakoniewissenschaft. Es geht um das Verstehen des eigenen helfenden Handelns vor dem Hintergrund der eigenen Tradition diakonischer Praxis.
In dieser hermeneutischen Weitererzählung steht dabei einerseits im Vordergrund, um eine Einsicht Wilhelm Diltheys aufzunehmen, dass Helfen immer verständlich sein muss: »Jedes Wort, jeder Satz, jede Gebärde oder jede Höflichkeitsform, jedes Kunstwerk und jede historische Tat sind nur verständlich, weil eine Gemeinsamkeit den sich Äußernden mit dem Verstehendem verbindet: der einzelne erlebt, denkt und handelt stets in einer Sphäre der Gemeinsamkeit, und nur in einer solchen versteht er. Alles Verstandene trägt gleichsam die Marke des Bekanntseins aus solcher Gemeinsamkeit an sich. Wir leben in dieser Atmosphäre, sie umgibt uns beständig. Wir sind eingetaucht in sie. Wir sind in dieser geschichtlich verstandenen Welt überall zu Hause, wir verstehen Sinn und Bedeutung von dem allen, wir selbst sind verwebt in diese Gemeinsamkeiten.« (Dilthey 1927, 146–147). Geschichten wie die des barmherzigen Samariters lassen dem Helfenden seine Tat verständlich machen. Es entsteht jene Sphäre, jenes verwobene Netz von Gemeinsamkeiten, wo er versteht, dass er tut und was er tut, wenn er hilft. Anderseits ist Gerhard Ebeling zu folgen, wenn er nur schon aus der Begriffsgeschichte der Hermeneutik erkennt, dass sie »nicht nur auf das Verstehen geschichtlicher Lebensäußerungen bezogen ist, sondern selbst ebenfalls der Geschichte unterliegt, da das Verstehen geschichtlicher Art ist.« (Ebeling 1959, 243).
Deshalb kann zweitens eine diakonische Hermeneutik nicht unter Absehung heutiger Verstehensbedingungen helfenden Handelns in einer plural gewordenen Gesellschaft entfaltet werden. Wie werden diese Bedingungen definiert? Soziale Arbeit, Pflege, Gesundheitspolitik und -ökonomie, Migration: Wo auch immer soziale Brennpunkte in den Blick kommen, greifen unterschiedliche Disziplinen bei der Entwicklung der Kunstlehre des Helfens ineinander. Dabei wird Helfen unterschiedlich gedeutet, verschiedene Menschen reden unterschiedlich darüber, wie geholfen wird. Diakonische Hermeneutik macht diakonische Praxis einerseits im interdisziplinären Dialog sprachfähig, anderseits im interdisziplinären Arbeitsgebiet handlungsfähig. So trägt diakonische Hermeneutik zu einer Wissenschaft in ihren kontextuellen Bezügen und ihren Anwendungstheorien bei.
In der Flut der neueren und neusten diakoniewissenschaftlichen Fachliteratur seit den 2000er Jahren wird viel Energie aufgewendet, um die Sprachfähigkeit und damit verbunden die Handlungsfähigkeit der Diakoniewissenschaft innerhalb und außerhalb von Kirchen und diakonischen Organisationen und Unternehmungen zu entfalten.3 Von Nöten ist Verständigung in Kirche und Diakonie, in Lehre und Forschung, wie denn Diakonie und das, was der christliche Glaube damit verbindet, mit dem allgemein menschlichen Helfen verknüpft werden kann. Mit »hermeneutisch« wird jene Tätigkeit verstanden, die eine Beziehung zwischen dem Menschen, der erkennt, und dem Gegenstand der Erkenntnis, hier der Hilfe, herstellt. »Es kann allgemein als Geschäft der Hermeneutik gelten, Verhältnisse zu schaffen, wo keine sind, Beziehungen zu klären, wo sie gestört sind, zur Sprache kommen zu lassen, was nach Sprache verlangt.« (Weder 1986, 43). Diakoniewissenschaft leistet mit ihrer zentralen Aufgabe der diakonischen Hermeneutik einen wesentlichen Beitrag zur Verknüpfung von christlich gedeutetem und allgemein menschlich verstandenem, helfendem Handeln. Ihr Geschäft ist es, Hilfe zur Sprache kommen zu lassen, was nach einer Sprache helfenden Handelns verlangt.
Dieses Kompendium erhebt nicht den Anspruch, vollständig und ausführlich die in der Diakoniewissenschaft diskutierten Themen und Fragestellungen zu behandeln. Mit Blick auf die praktische Theologie mit ihren Handlungsfeldern wird nach der Bedeutung der diakonischen Praxis gefragt. Der originäre Bezug der Diakoniewissenschaft zur praktischen Theologie ist dabei offensichtlich, jedoch sollen die anderen Bezugsdisziplinen nicht aus dem Blickfeld geraten.