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Die Schweiz
Dialektvielfalt in mehrsprachigem Umfeld
Helen Christen / Regula Schmidlin
1 Geographische Lage
2 Demographie, Statistik, Wirtschaft
3 Geschichte
3.1 Von den Pfahlbauern zu den Alemannen
3.2 Von der Alten Eidgenossenschaft zum modernen Bundesstaat
3.3 Zur Geschichte der Schriftsprache in der Deutschschweiz
4 Politik, Kultur und rechtliche Stellung der Sprachen
4.1 Politische Lage
4.2 Rechtliche Stellung des Deutschen, Schulsystem, offizielle Sprachregelung
4.3 Sprachenlernen an Schweizer Schulen, die Bedeutung von Deutsch in nicht-deutschsprachigen Landesteilen
4.4 Kulturelle Institutionen, Medien, Literatur
5 Soziolinguistische Situation, Sprachgebrauch, Sprachkompetenz
5.1 Varietäten und Varianten in den verschiedenen Sprachgebieten
5.2 Die Standardsprache in der Deutschschweiz
5.3 Die schweizerdeutschen Dialekte
5.4 Sprachkontakt zwischen Deutschsprachigen und Anderssprachigen
6 Einstellungen
6.1 Einstellungen gegenüber den Dialekten
6.2 Einstellungen gegenüber der Standardsprache
6.3 Einstellungen zwischen den Sprachgruppen
7 Sicht- und Hörbarkeit von Sprachen im öffentlichen Raum
7.1 Linguistic Landscape
7.2 Linguistic Soundscape
8 Ausblick
Literatur
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1 Geographische Lage
Die Schweiz (dt. Schweiz, frz. Suisse, it. Svizzera, rätorom. Svizra), die ihren Namen einem der sog. Urkantone (Schwyz) verdankt, ist ein europäischer Binnenstaat, der zwischen dem 46. und 48. nördlichen Breitengrad und dem 6. und 9. östlichen Längengrad liegt. Sie hat eine Fläche von 41.285 km2 und weist eine maximale Nord/Süd-Ausdehnung von 220 km sowie eine maximale West/Ost-Ausdehnung von 348 km auf. Der höchste Punkt der Schweiz ist die Dufourspitze (4.634 m ü. M.), der tiefste Punkt liegt am Ufer des Lago Maggiore (196 m ü. M.). Die Schweizer Landesgrenze misst 1.935 km, wovon die längste Staatsgrenze jene zu Italien (im Süden) ist. Kürzer sind die Grenzen zu Frankreich (im Westen), Deutschland (im Norden), Österreich und zum Fürstentum Liechtenstein (beide im Osten). Die Schweiz wird geographisch in die fünf Hauptregionen Jura, Mittelland, Voralpen, Alpen und Alpensüdseite gegliedert. Im Zentrum – mit der Älggi-Alp in Obwalden als ihrem geografischen Mittelpunkt – liegt die Alpenregion. Dort befinden sich die verkehrstechnisch wichtigen Alpenüber- und -durchgänge sowie die europäischen Hauptwasserscheiden. Die Flüsse Rhein, Rhone, Tessin und Inn nämlich, die ihr Quellgebiet in den Schweizer Alpen haben, entwässern in die Nordsee, das Mittelmeer und das Schwarze Meer.
Obwohl die Alpen ungefähr 40 Prozent der Gesamtfläche des Landes ausmachen und die Siedlungsflächen insgesamt nur 7,5 Prozent beanspruchen, ist die Schweiz mit 204 Einwohnern pro km2 ein relativ dicht besiedeltes Land (s. die Werte für die Nachbarn Italien mit 201 Personen/km2, Frankreich mit 122/km2, Deutschland mit 232/km2, Österreich mit 105/km2). Dies ist dem Umstand zuzuschreiben, dass die meisten Menschen im Mittelland und dort vor allem in den Agglomerationsgürteln leben, wo die Siedlungsflächen mehr als doppelt so gross sind wie im schweizerischen Durchschnitt. 74 Prozent der Bevölkerung leben gegenwärtig in Städten. Die Bevölkerung der französischsprachigen Schweiz ist durchschnittlich etwas städtischer1 als diejenige der Deutschschweiz, aber nicht so städtisch wie die Bevölkerung in der italienischsprachigen Schweiz. Städtische Ballungszentren gibt es v.a. am westlichen Ende des Genfersees, in der Region Basel, im Grossraum Zürich und Zug sowie im Kanton Tessin. Die einzige Sprachregion, die keine städtischen Kernräume aufweist, ist die rätoromanische Sprachregion.
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2 Demographie, Statistik, Wirtschaft
Seit 1900 hat sich die Bevölkerungszahl der Schweiz mehr als verdoppelt, wobei zwischen 1961 und 1963 die jährliche Wachstumsrate mit 2,4 Prozent am höchsten war. Seit 2007 liegt sie bei ungefähr einem Prozent pro Jahr. Im Jahr 2016 zählte die Schweiz 8.419.550 Einwohnerinnen und Einwohner, wobei rund ein Viertel der ständigen Wohnbevölkerung kein Schweizer Bürgerrecht besitzt. Mit je über einer Viertelmillion Menschen bilden die Einwohnerinnen und Einwohner mit einem italienischen, deutschen und portugiesischen Pass die grössten nicht-schweizerischen Bevölkerungsgruppen.
Im Jahr 2016 sind rund 4,5 Mio. Menschen erwerbstätig. Ein Anteil von 3,1 Prozent arbeitet im primären, landwirtschaftlichen Sektor. Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Mehrheit der Erwerbstätigen in diesem Sektor beschäftigt, während sich der Anteil vorerst zugunsten des zweiten Sektors, der Industrie, und schliesslich des dritten Sektors, des Dienstleistungssektors, stetig verkleinerte (um 1900 ist von 30 %, um 1950 noch von 16 % in der Landwirtschaft Tätigen auszugehen). Heute beträgt der Anteil der in der Industrie Beschäftigten zirka 20 Prozent (besonders produktive Gewerbezweige sind die chemische, pharmazeutische und Nahrungsmittelindustrie, daneben der Maschinen- und Apparatebau, die Metallverarbeitung sowie die Uhrenindustrie), während mittlerweile über drei Viertel der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor arbeiten. Neben dem Tourismus und der Industrie bildet dieser den wichtigsten Zweig der Schweizer Wirtschaft, die zu den stabilsten Volkswirtschaften der Welt gehört. Die Firmendichte ist in der Deutschschweiz etwas höher als in den übrigen Sprachgebieten.
Die Erwerbsquote der Männer im Alter zwischen 15 und 64 Jahren beträgt im Jahr 2015 89 Prozent, jene der Frauen 80 Prozent, wobei 59 Prozent der Frauen und 16 Prozent der Männer Teilzeiterwerbstätige sind. Trotz eines konjunkturellen Einbruchs in den 1970er Jahren gehört die Schweiz vom statistischen Einkommen her zu den wohlhabenden Industrienationen, was sich sowohl in der geringen Armuts- und Arbeitslosenquote (3,3 % im Januar 2018) als auch in der hohen Lebenserwartung spiegelt. Diese beträgt für 2016 geborene Knaben 81,5 Jahre, für Mädchen 85,3 Jahre.
Die Religionslandschaft der Schweiz hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. Gehörten um 1900 fast 60 Prozent der Bevölkerung der evangelisch-reformierten Kirche an, so sank dieser Anteil zugunsten der Angehörigen der römisch-katholischen Kirche, die durch Immigrantinnen und Immigranten aus katholisch geprägten Regionen ab den 1930er Jahren Zuwachs erhielt. Seit den 1970er Jahren muss vor allem die reformierte Landeskirche wegen zunehmender Konfessionslosigkeit Einbussen hinnehmen. Gerade in städtischen Gebieten wächst die Zahl der Konfessionslosen an, die schweizweit zwischen 2000 und 2016 um über 13 Prozentpunkte zugenommen hat. Ausserdem hat sich der Anteil der Angehörigen einer der muslimischen Glaubensgemeinschaften auf 5,1 Prozent erhöht, während jener von jüdischen Glaubensgemeinschaften seit Jahren unverändert bei zirka 0,2 Prozent liegt.1
Die Wohnbevölkerung gibt unterschiedliche Hauptsprachen an (in neueren Befragungen kann auch mehr als eine Sprache genannt werden), wobei das Deutsche im Laufe der letzten Jahrzehnte wenige Prozentpunkte verloren, das Französische dagegen wenige Prozentpunkte gewonnen hat. Das Italienische hat einen Anteil von unter 10 Prozent, und das Rätoromanische wird 2015 nur von einem halben Prozent der Wohnbevölkerung als Hauptsprache angegeben. Beachtlich ist mit über 20 Prozent der Anteil jener, die eine Nicht-Landessprache als (eine ihrer) Hauptsprache(n) angeben. In städtischen Gebieten sprechen 21 Prozent der Bevölkerung keine der vier Landessprachen als Hauptsprache.
| 1970 | 1980 | 1990 | 2000 | 2015 |
Gesamtbevölkerung | 6.011.469 | 6.160.950 | 6.640.937 | 7.100.302 | 8.131.033 |
Deutsch/ Schweizerdeutsch | 66,1 | 66,5 | 64,6 | 64,1 | 63,0 |
Französisch | 18,4 | 18,6 | 19,5 | 20,4 | 22,7 |
Italienisch und Tessiner-/ Bündner-italienischer Dialekt | 11,0 | 9,6 | 7,7 | 6,5 | 8,1 |
Rätoromanisch | 0,8 | 0,8 | 0,6 | 0,5 | 0,5 |
andere Sprachen | 3,7 | 5,5 | 7,7 | 8,5 | 21,5 |
Gesamt | 100,0 | 100,0 | 100,0 | 100,0 | 115,903 |
Tab. 1:2 Ständige Wohnbevölkerung der Schweiz nach Hauptsprache(n) in Prozent (nach: Bundesamt für Statistik 2017a)
Abbildung 1: Sprachenkarte der Schweiz (aus Christen/Glaser/Friedli 2013: 23)
Nur eine Minderheit der in der Schweiz lebenden Personen wächst mehrsprachig auf – mit Ausnahme der durchwegs Romanisch-Deutsch zweisprachigen Bündnerromanen. Die meisten Schweizerinnen und Schweizer erwerben ihre Kenntnisse in einer oder mehreren weiteren Landessprachen und dem Englischen in Schule und Ausbildung, was durch die kantonalen Erziehungsdepartemente – unterschiedlich – festgelegt ist (s. Kap. 4.1 und 4.2).
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3 Geschichte
3.1 Von den Pfahlbauern zu den Alemannen
Für viele Schweizerinnen und Schweizer setzt die Geschichte ihres Landes mit den sog. Pfahlbauern ein, die in der Jungsteinzeit als sesshafte, Viehzucht und Ackerbau betreibende Bauern in zahlreichen Ufersiedlungen fassbar werden. Im 19. Jahrhundert als früheste ‚Schweizer‘ zu nationalen Identifikationsfiguren geprägt, weiss man kaum etwas über deren alteuropäische Sprache, wie auch die spätere Indogermanisierung, die wohl ab dem 4. Jahrtausend v.Chr. in Wellen stattgefunden hat, weitgehend im Dunkeln bleibt (zu den sprachgeschichtlichen Grundlagen s. Haas 2000a, Sonderegger 2003a, Christen/Glaser/Friedli 2013). Es wird vermutet, dass im Gebiet der heutigen Schweiz die im Alpenraum lebenden Räter für das Überleben einer alteuropäisch-vorindogermanischen Sprache gesorgt haben dürften (s. die Sprachenbezeichnung Rätoromanisch). Erst ab der römischen Zeit dokumentieren schriftliche Zeugnisse die (Sprach-)Geschichte der nachmaligen Schweiz. In seiner Beschreibung des Gallischen Kriegs erwähnt Julius Cäsar die Sequaner, die Rauraker, die Allobroger und schliesslich die besiegten Helvetier als Keltenstämme auf dem Territorium der heutigen Schweiz. Letztere haben sich in der offiziellen lateinischen Bezeichnung des Landes – Confoederatio Helvetica – verewigt. Diese fungiert seit der Gründung des Bundesstaates im Jahre 1848 als über den vier Landessprachen stehende Bezeichnung, die auch in die offizielle Abkürzung CH eingegangen ist. Spätestens ab 15 v.Chr., d.h. mit der Eroberung Rätiens, war das gesamte Gebiet der heutigen Schweiz für über vierhundert Jahre Teil des Römischen Reichs. Das Keltische, das noch in einigen Ortsnamen wie Thun, Olten oder Zürich greifbar ist (Zinsli 1975), wurde durch die allmähliche Romanisierung nach und nach zurückgedrängt, freilich nicht ohne erheblichen Substrateinfluss auf das gesprochene Latein, was zu den unterschiedlichen heutigen regionalen Varietäten, wie zum Beispiel den rätoromanischen, lombardischen, frankoprovenzalischen und französischen Dialekten, führte.
Ab dem 3. Jahrhundert n.Chr. sind von Norden her erste Einfälle von Angehörigen des germanischen Stammes der Alemannen zu verzeichnen, deren Ansiedlung in der nachmaligen Schweiz nach heutigem Kenntnisstand nicht – wie lange angenommen – als Folge des Rückzugs der römischen Truppen aus Helvetien zu sehen ist. Vielmehr verstärkte sich der Zuzug der Alemannen, nachdem diese von den Franken siegreich unterworfen worden waren und wohl noch im 5. Jahrhundert nach Süden flohen. Ein Jahrhundert später, als das Gebiet der Burgunder sowie jenes der Alemannen unter fränkische Herrschaft geriet, kam es zu einer nachhaltigen alemannischen Besiedlung im Nordosten der heutigen Schweiz, während der burgundische Westen unbehelligt blieb. Dies führte zu einer West/Ost-Gliederung der nachmaligen Schweiz, in der sich nicht nur die fränkische Reichsteilung von 561 in ein östliches und westliches Gebiet spiegelte, sondern die bis heute als deutsches und französisches Sprachgebiet greifbar bleibt. Die Alemannisierung der späteren Deutschschweiz erfolgte dabei über mehrere Jahrhunderte hinweg: War das gut zugängliche schweizerische Mittelland bis zum Ende des 8. Jahrhunderts weitgehend alemannisch besiedelt, war dies bei den höher gelegenen voralpinen und alpinen Gebieten erst im Hochmittelalter der Fall. Die Grenzen zwischen Deutsch, Französisch und Italienisch haben sich dabei seit dieser Zeit nur noch geringfügig verändert: Bloss im Wallis rückte später das Französische auf Kosten des Deutschen vor, in der Region Murten das Deutsche auf Kosten des Französischen, während sich die Berner Stadt Biel/Bienne von einer einsprachig deutschen zu einer heute zweisprachigen Stadt entwickelte. Anders sehen die Verhältnisse für das Rätoromanische aus, das bis gegen die zweite Jahrtausendmitte im Norden bis zum Bodensee, im Westen bis an den Walensee (‚See bei den Welschen‘) gesprochen wurde. Das Churer Rheintal wurde erst im 15./16. Jahrhundert alemannisiert und das Rätoromanische dabei zunehmend in einzelne Täler des Kantons Graubünden zurückgedrängt (zur Entstehung der Sprachgrenzen s. Haas 2000a: 42–46).
Ab dem 7. Jahrhundert wurde der alemannische – ebenso wie der fränkische und bairische – Raum von den britischen Inseln aus missioniert. Um 611 dürfte Gallus, zusammen mit anderen irischen Wandermönchen, im Bodenseeraum angekommen sein und später an der Steinach seine Klause errichtet haben, wo im Jahre 719 das Kloster St. Gallen gegründet wurde. Dieses entwickelte sich unter fränkischem Einfluss zu einer der herausragenden Stätten der frühen deutschen Sprachkultur. Z...