Schöne digitale Welt
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Schöne digitale Welt

Analysen und Einsprüche von Richard Gutjahr, Sascha Lobo, Georg Mascolo, Miriam Meckel, Ranga Yogeshwar und Juli Zeh

  1. 218 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Schöne digitale Welt

Analysen und Einsprüche von Richard Gutjahr, Sascha Lobo, Georg Mascolo, Miriam Meckel, Ranga Yogeshwar und Juli Zeh

Über dieses Buch

Das Zeitalter der Netzutopien ist zu Ende. Gerüchte und Falschnachrichten diffundieren durch die digitale Welt. Social Bots simulieren Meinungsströme. Troll-Armeen sind in sozialen Netzwerken unterwegs. Profi-Fälscher erstellen mit Hilfe von KI-Programmen realistisch erscheinende Videos, sogenannte Deep Fakes. Und Polit-Propagandisten nutzen Datenanalysen, um einzelne Zielgruppen mit speziellen Propaganda-Postings zu bombardieren.Die Hoffnungen, die das neue Medium einst auslöste, haben sich in die Dystopie der totalen Manipulation verwandelt. Aus Euphorie ist Ernüchterung geworden. Aber was ist beim Austausch der Zeichen eigentlich passiert? Und wie lässt sich der lähmende Aufklärungs- und Netzpessimismus überwinden? Was kann der Einzelne tun? Welche Aufgaben hat der Journalismus? Und wie könnte man Plattformen auf effektive Weise regulieren?Erhellende, streitbare und überraschende Antworten geben Richard Gutjahr, Sascha Lobo, Georg Mascolo, Miriam Meckel, Ranga Yogeshwar und Juli Zeh. Sie erklären den Medienwandel, analysieren die Neuerfindung unserer Informationswirklichkeit und machen deutlich, warum wir eine digitale Aufklärung brauchen, die sich von Horrorszenarien und Heilserwartungen gleichermaßen fern hält.

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Die Realität der Fiktion.
Eine biografische Skizze zu Juli Zeh – Vorbemerkung der Herausgeber

Im Juli des Jahres 2018 konnte man im Spiegel nachlesen, wie es um uns bestellt ist. Die Titelgeschichte des Magazins wurde mit der Zeile beworben »Es war einmal ein starkes Land«. Weiter hieß es: »Der Fußball und die Nationalelf waren schon oft ein Seismograph für die Lage des Landes – im Sommer 2018 erst recht«. Deutschland sei am Ende, fußballerisch, politisch, wirtschaftlich, so der Tenor des Artikels. Und deutlich werde, dass die Verfassung der deutschen Nationalmannschaft und die Verfassung des Landes mehr oder weniger identisch seien, der Fußball als ein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft und Politik tauge. Überall regiere die Müdigkeit, die Erschöpfung, die Auszehrung. Beworben wurde die Analyse zum Ausscheiden aus dem Wettlauf um den WM-Pokal im täglichen Newsletter des Magazins mit den Worten: »Es wird dunkel bleiben, erst einmal«.
Wer dies las und dem Gang der Argumentation folgte, der wurde mit einer Zeitdiagnose von unfreiwilliger Komik konfrontiert; eine durchweg schräge, aber doch ganz ernst gemeinte Parodie auf das Genre der Gegenwartsdeutung war es, die man hier vorgesetzt bekam. Denn wohlgemerkt: Es ging darum, dass irgendwer ein paar Mal zu oft den Pfosten und nicht das Tor getroffen hatte; es ging um ein verlorenes Fußballspiel als Indiz der heran nahenden Apokalypse. Selbstverständlich muss man eine solche Adhoc-Interpretation der Verhältnisse nicht wirklich ernst nehmen. Aber vielleicht ist dieses Verrutschen von Relevanz und Proportion selbst ein Symptom, Ausdruck eines Verlusts der Kategorien, der Maßstäbe, die nötig wären, um zu begreifen, was gerade geschieht. Und tatsächlich: Was geschieht eigentlich, wenn wir jenseits der Schlagworte und der Schnell-schnell-Erklärungen verstehen wollen, was sich vollzieht? Ist es der Aufstieg des Populismus, der drohende Zerfall Europas, ist es die Digitalisierung und die Neuordnung der Kommunikationsverhältnisse, ist es die erlebbare Polarisierung? Was ereignet sich im Mittelmeer? Und wie hängt alles mit allem zusammen? Was passiert eigentlich – gerade im Moment – in der Tektonik ganzer Gesellschaften? Und wer könnte eine Deutung liefern, die in die Tiefe geht und sich nicht mit dem Mini-Drama eines verlorenen Fußballspiels aufhält?
Damit kommen wir zu Juli Zeh. Sie hat Jura studiert und im Völkerrecht promoviert. Sie hat überdies ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig absolviert. Gleich ihr literarisches Debüt, der 2001 veröffentlichte Roman Adler und Engel war ein Welterfolg und wurde in 31 Sprachen übersetzt. Es folgten weitere Romane, Sachbücher, Essays, Theaterstücke, Kurzgeschichten, Medienauftritte, Artikel für viele große Zeitungen. Ihr Gesellschaftsroman Unterleuten wurde für das ZDF verfilmt und als Theaterstück aufgeführt. Wenn wir richtig gezählt haben, dann hat Juli Zeh – neben anderen Auszeichnungen wie dem Bundesverdienstkreuz – bis zum heutigen Tag 25 Literaturpreise bekommen. Und auch ihr gesellschaftspolitisches Engagement fand und findet starke Beachtung. Sie hat 2008 Verfassungsbeschwerde gegen den biometrischen Reisepass eingereicht. Sie hat aus Anlass des Überwachungsskandals einen offenen, von knapp 70.000 Menschen unterzeichneten Brief an die Kanzlerin formuliert und den Entwurf einer Charta digitaler Grundrechte entscheidend geprägt. Sie ist 2017 in die SPD eingetreten, um gegen die herrschende Politikverachtung ein Signal zu setzen. Und sie gehört zu den Gründungsmitgliedern einer Bürgerbewegung zur automatisierten Verschlüsselung digitaler Kommunikation.
Es gibt jedoch – jenseits dieser Rahmendaten, die den publizistischen Erfolg und das zivilgesellschaftliche Engagement belegen – eine weithin unterschätzte Dimension dieses Riesenwerkes aus Büchern, Artikeln und Aktionen. Nicht ausreichend gewürdigt wird, dass Juli Zeh Gesellschafts- und Demokratietheorie mit literarischen Mitteln betreibt. Sie liefert Deutungen der Gegenwart, Szenarien der Demokratiefähigkeit, die in die Tiefe gehen. Ihre Bücher sind ästhetischer Genuss. Aber sie sind oft auch die sprachliche und geistige Form, um die Szenarien unserer politischen Existenz im Großen wie im Kleinen durchzuspielen. Diese Szenarien handeln vom Absturz, der allgemein menschlichen Lust an der Verfeindung, dem selbstverschuldeten Demokratie- und Freiheitsverlust, der raschen Ideologisierung, ganz gleich, ob diese Ideologisierung von Populisten, Kontroll- und Überwachungsspezialisten, von Gesundheitsgurus oder den Esoterikern von nebenan betrieben wird.
Was geschieht eigentlich gerade? Es sind die Bücher von Juli Zeh, die eine Antwort geben, auch die Romane. Sie erzählen auch davon, wie der Mensch mit seiner Freiheit und einem elementaren Sinnvakuum umgeht, mit dem Abschied von tradierten Identitäten, mit dem Abschied von Zwangssystemen religiöser, politischer oder institutioneller Art. Wie leben wir in einer liberalen Demokratie miteinander, wenn die Geländer des Selbstverständlichen wegbrechen, wenn Traditionen und Gruppenzugehörigkeiten keinen Halt mehr geben? Und wie viel Freiheit können wir anthropologisch aushalten? Ganz viel Freiheit oder eigentlich doch ziemlich wenig? Flüchten wir uns irgendwann – nach der großen »Epoche der Abschaffung« wie es in ihrem Roman Corpus Delicti heißt – in einer merkwürdigen Dialektik wieder in neue Ideologien, weil wir übersehen haben, »dass auf jede Abschaffung eine Neuschaffung folgen muss?« Regiert dann das nackte Eigeninteresse und nur noch die persönliche Perspektive, werden die Ersatzreligionen der Selbstoptimierung und des Konsums mächtiger, wird die Arbeit am Ich zur Dauerbeschäftigung, weil kein umfassender Sinn mehr herrscht? Oder gelingt es uns, die demokratische Idee – auch in diesen erregten Zeiten – wieder mit einem inneren Leuchten auszustatten? So dass wir sehen und erkennen: die demokratische Idee könnte die eigentliche Ersatzreligion für aufgeklärte, mündige Bürger sein, weil sie zwischen dem Eigeninteresse und dem Gemeinwohl vermittelt. Weil sie es ermöglicht, kollektive Wahrheiten zu erfinden. Weil sie es erlaubt, gemeinsam Luftschlösser zu bauen, die außerordentlich stabil sein könnten, stabil aufgrund unserer Entscheidung und Entschiedenheit.
Juli Zeh hat in ihrer Rede die geistigen Linien ihrer eigenen Demokratie- und Gesellschaftstheorie mit großer Klarheit ausgeführt und weiter entwickelt. Sie hat in Zeiten, in denen selbst ein verlorenes Fußballspiel als Anlass für Untergangsbehauptungen taugt, die Entscheidungsmächtigkeit des Einzelnen betont und – quer zu dem längst handelsüblichen Pessimismus der Gegenwartsdeutung – auf der (potenziellen) Autonomie dieses Einzelnen bestanden. Und sie hat bei all dem das Denken, Reden und Schreiben als ein Abenteuer erlebbar gemacht, als ein elektrisierendes Sich-Vortasten in noch unbekanntes Gelände, das eines braucht: den Mut zur umfassenden Betrachtung, das Wagnis der Synthese.
Juli Zeh

Das Turbo-Ich.
Der Mensch im Kommunikationszeitalter

Einst gab es den auktorialen Erzähler. Er saß am sprichwörtlichen Kamin oder Lagerfeuer und gab sich dem Erschaffen einer Geschichte hin. Vor dem geistigen Auge der Zuhörer errichtete er eine Welt, die man gemeinsam betrachten konnte, durch die man etwas über sich selbst und die Dinge, die einen umgaben, erfuhr. Diese Art des Erzählens erzeugt Gemeinsamkeit. Sie verbindet unterschiedliche Perspektiven, erneuert die Absprachen darüber, was Wirklichkeit bedeutet, ist eine stetige Rückversicherung darüber, was den Menschen ausmacht. Das Entstehen-Lassen einer Geschichte, die mehr ist als die Selbstdarstellung einer einzelnen Person, erzeugt Gewissheit, ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Am Anfang war das Wort. Anders gesagt: der narrative Zugriff auf die Welt. Seit allem Anbeginn ist er die Grundlage der menschlichen Kultur.
Heute gilt: Am Anfang war das ICH.
Wenn aktuelle Debatten um den Zustand unserer Gesellschaft kreisen, wird nicht selten die Kommunikationstechnologie für die beobachteten Probleme verantwortlich gemacht. Der digitale Wandel, so die These, vollziehe sich in einem Fortschrittstempo, mit dem weder die einzelnen Bürger, noch die Gesellschaft im Ganzen mithalten könne. Nach dieser Betrachtung ist der ›Homo Digitalis‹ ein überreizter, überforderter, überbeschleunigter, kurz vorm Burnout stehender Informationskonsument, der sich schlingernd durch die unendlichen Weiten des Internets bewegt, während um ihn herum Schreckensmeldungen, Aufregungs-Hypes und Katzenvideos aufploppen. Das Internet, so wird geglaubt, hat uns die Stimmung versaut, es macht uns zu schlecht gelaunten Pulverfässern. Das Internet gilt als Empörungsraum, es erzeugt Shitstorms, verroht den Diskurs, annulliert Umgangsformen, schafft die Qualitätspresse ab. Im Jahr 2016 hat Sascha Lobo an dieser Stelle vom »Ende der Gesellschaft« durch Vernetzung gesprochen, und auch wenn er den Titel seines Vortrags nach eigener Aussage gar nicht so ernst gemeint hat, zeigt es doch, mit welch apokalyptischen Blickwinkeln selbst ausgewiesene Digitalitätsexperten jonglieren.
Was mir an solchen Analysen nicht gefällt, ist die Tatsache, dass sie technologischen Fortschritt wie eine Naturkatastrophe behandeln, die über die Menschheit hereinbricht. Die Gesellschaft wird nicht zum Urheber, sondern zum Opfer von technischem Fortschritt erklärt und darf sich fortan nach den Mustern erlernter Hilflosigkeit verhalten. Politiker legen mit traurigem Achselzucken die Hände in den Schoß und unternehmen keine ernsthaften Versuche, für die Fehlentwicklungen der technischen Revolution ein ausgleichendes Konzept zu entwickeln. In diesem Gestaltungsvakuum entwickeln sich die Technologie und ihre Nutzung dann eben nach den Gesetzen des ökonomischen Darwinismus. Das ist erstens ganz und gar nicht gut. Und zweitens geht es von falschen Prämissen aus. Es gibt ein schlichtes Zitat von Elfriede Hablé, das besagt: »Nicht die Welt macht diese Menschen, sondern diese Menschen machen die Welt«. Wenn wir also das Medienzeitalter verstehen wollen, müssen wir zuerst den Menschen dieses Zeitalters verstehen. Er ist kein Produkt, sondern Schöpfer dieser Epoche.

1.Conditio humana digitalis

Der moderne Mensch ist maßgeblich durch einen Parameter geprägt: die (fast) vollständige Befreiung von äußeren Zwängen. Ebenso gut könnte man sagen: durch den (fast) vollständigen Verlust von Bindungen. In den zurückliegenden zwei Jahrhunderten hat sich das Individuum in unseren Breitengraden erfolgreich von so ziemlich allem und jedem emanzipiert. Zuvörderst von der Religion. Dann vom Nationalstaat, von Vaterland und völkischer Identität. Von der patriarchalen Familie, vom Konzept des Berufs als Lebensaufgabe. Von politischen Ideologien und danach von politischen Weltbildern überhaupt. Von der Ehe als lebenslanger Bindung. An der Abschaffung der intimsten und vielleicht wichtigsten Gruppenzugehörigkeit der Menschen, nämlich der Geschlechteridentität, wird weiterhin unter Hochdruck gearbeitet. Es ließen sich noch unzählige weitere Beispiele finden. Das Prinzip ist klar: Die Befreiung des Individuums ist das Großprojekt der Moderne. Grundsätzlich ist Freiheit ja auch nach wie vor eine tolle Idee, und was da abgeschafft wurde (und wird) waren in der Hauptsache Unterdrückungssysteme oder kollektive Vorurteile, destruktive Ideologien oder Dogmatismen, also im Großen und Ganzen durchaus abschaffungswerte Dinge.
Trotzdem bin ich sicher, dass sich die Väter und Mütter der Aufklärung das Ganze im Ergebnis anders vorgestellt hätten. Was man vielleicht nicht oder zu spät bedacht hat, ist, dass der Mensch dringend, ja, lebensnotwendig eine Identität braucht, und dass Identität nur in Beziehung zu anderen Individuen entsteht, genauer gesagt, in geregelten Beziehungen zu anderen Individuen, also durch Gruppenzugehörigkeit. Ein Mensch muss wissen, wer er ist, wohin er gehört, auf welcher Grundlage er seine Meinungen bildet und seine Entscheidungen fällt. Diese Fragen konstituieren das Individuum, aber sie können nicht individuell beantwortet werden. Der Ursprungsglaube der Aufklärer, man müsse doch irgendwie nur seine Vernunft gebrauchen und fertig, ist zwar schön, aber nicht sehr realistisch. Zugehörigkeit ist also ein zentrales, ungemein starkes, archaisches Bedürfnis in jedem von uns. Zugehörigkeiten sind für den Geist das, was Kalorien für den Körper sind. In den verschiedenen Gruppen, zu denen wir traditionell gehörten, sei es Religion, Familie, Partei, oder Geschlecht, wurde die Wirklichkeit erzeugt, in der wir zu Hause waren. Denn als rein subjektive Angelegenheit ist Wirklichkeit ein äußerst wackliges Konzept.
Der Mensch lebt in seinen Zugehörigkeiten wie eine Schnecke in ihrem Haus. Wird das Haus zu klein oder beginnt zu bröckeln, fühlt sich der Mensch bedroht. Dann erscheint die Welt plötzlich groß und überbeschleunigt und hyper-komplex. Kein Wunder, denn Zugehörigkeiten sind auch die Grundlage für Urteilssysteme, also für die Möglichkeit, das auf den Einzelnen einstürzende Weltgeschehen nach ›relevant‹ und ›nicht relevant‹ zu sortieren. Zugehörigkeiten sind ein Filter, der die Welt auf ein erträgliches Maß reduziert. Also genau jene Arbeit leistet, die heute von algorithmischen Sortiermaschinen übernommen wird, welche mithilfe von ›Ego-Bubbles‹ verloren gegangene Ordnungssysteme ersetzen. Als der Mensch befreit wurde, streckte er nicht die Arme aus, drehte sich um sich selbst und jubelte zum Himmel hinauf: »Ich bin frei!« Sondern er ging auf die Suche. Es ist absolut bezeichnend, wonach der befreite Mensch sofort zu suchen begann: nämlich nach sich selbst. Selbstfindung, Selbstverwirklichung sind schon lange Volkssport. Menschen unternehmen Reisen, besuchen Seminare, kaufen Bücher, meditieren, klettern auf Berge, verausgaben sich im Beruf, um sich selbst zu spüren, um herauszufinden, wer sie sind. Inzwischen heißt es vielleicht eher ›Achtsamkeit‹ als Selbstfindung, am Ende wird aber auch den ganzen Tag in sich hineingehorcht und gewartet, ob da nicht jemand oder wenigstens etwas antwortet.
Da offenbart sich die tragische Seite der Befreiung: Wenn identitätsstiftende Bindungen wegfallen, kommt das Ich-Gefühl ins Wanken, und der Mensch beginnt panisch, in sich selbst herumzugraben. Das ist der Beginn eines fatalen Teufelskreises. Je mehr Aufmerksamkeit man auf sich selbst richtet, desto größer bläht sich das Ego. Umso weniger ist man in der Lage, überhaupt noch echte Bindungen einzugehen – und weiß folglich umso weniger, wer man wirklich ist. In der Folge schwinden weitere Zugehörigkeiten, simple Dinge wie Bindungen an einen bestimmten Ort, eine Stammkneipe, einen Sportverein, und der Mensch kreist noch stärker um sich selbst. Und immer so fort. Auf diese Weise ist er entstanden, der Gegenstand meines heutigen Vortrags, der moderne Mensch in seinem verblüffenden Zuschnitt. Ich habe ihm einen Namen gegeben: das Turbo-Ich. Eine psychologische Filter-Bubble, die hermetischer ist als alles, was das Internet zu bieten hat.
Seit es die Philosophie gibt, existiert ein ausgiebiger erkenntnistheoretischer Diskurs darüber, ob es so etwas wie Objektivität oder Realität im Sinne einer objektiv feststellbaren, von allen geteilten Wirklichkeit überhaupt gibt. Oder ob es immer nur subjektive Perspektiven geben kann, eine kreierte Wirklichkeit, die vom Einzelnen eher erfunden als erkannt wird. Heute scheint der Streit darüber, ob Wirklichkeit objektiv oder subjektiv konstruiert wird, zumindest für den Moment beendet. Selbst die doch so objektvititätsversesessene Physik hat mit der Quantenmechanik einen Zweig hervorgebracht, in dem (scheinbar objektive) Messergebnisse von der Existenz eines (subjektiven) Beobachters abhängen. Und spätestens seit dem Aufkommen von Digitalität ist die Fragmentierung von Wirklichkeit wohl beschlossene Sache. Von der ›Matrix‹ bis Facebook: Wir sind uns alle mehr oder weniger einig, dass die Welt nicht das ist, was der Fall ist, sondern das, was das jeweilige Subjekt sich selbst erzählt.
Philosophisch, politisch, psychologisch, digital: Das menschliche Ich steht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Von Politik, Medien und Werbung wird es ebenso umschwärmt wie von Biologie, Medizin und Neurowissenschaften. Nie zuvor hat das Ich so große Beachtung gefunden wie heute. Wir müssen uns das klarmachen: die Geburt, die eingehende Beschnupperung und schließlich grenzenlose Mästung des Ich in der heutigen Zeit ist ein geistesgeschichtlicher Umbruch, der schwerer wiegt als industrielle und digitale Revolution zusammen. Auf der einen Seite Befreiung, auf der anderen eine neue Fundamentalbelastung. Man stelle sich vor, welche Großanforderungen für jeden Einzelnen aus dem Ego-Trip resultieren! Sinn, Schicksal, Glück, Unglück, Liebe, Tod – das sind überlebensgroße Begriffe, mit denen die Menschen früher im Rahmen bestimmter Bezugssysteme umgegangen sind. Nicht der Einzelne war dafür zuständig, sondern eine (häufig religiöse) Institution. Das hat sich geändert. Übrig bleibt das Ich in gnadenloser Konfrontation mit sich selbst und mit der Welt.
Was für eine Überdehnung, was für eine grausame Überforderung!
So sind die Bedingungen. Das ist die ›Conditio humana‹ des Menschen im Medienzeitalter....

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Titel
  4. Widmung
  5. Inhaltsverzeichnis
  6. Aufklärungspessimismus als politische Gefahr. Über die falsche Lust am Untergang – eine Einführung
  7. Digitale Empathie. Eine biografische Skizze zu Richard Gutjahr – Vorbemerkung der Herausgeber
  8. Digital-Humanismus. Eine biografische Skizze zu Sascha Lobo – Vorbemerkung der Herausgeber
  9. Die Zeit des großen Verdachts. Eine biografische Skizze zu Georg Mascolo – Vorbemerkung der Herausgeber
  10. Das Eliza-Problem. Eine biografische Skizze zu Miriam Meckel – Vorbemerkung der Herausgeber
  11. Das Black Box-Gefühl. Eine biografische Skizze zu Ranga Yogeshwar – Vorbemerkung der Herausgeber
  12. Die Realität der Fiktion. Eine biografische Skizze zu Juli Zeh – Vorbemerkung der Herausgeber
  13. Quellen und Entstehungskontext
  14. Index