Karl Heinz Brisch
Bindung und Geborgenheit Grundlagen, Intervention und Prävention1
Zusammenfassung
Die Bindungstheorie stellt einen wissenschaftlich fundierten Rahmen dar, um wesentliche Aspekte einer gesunden körperlichen, psychischen und sozialen Entwicklung eines Kindes zu verstehen. Der sichere Aufbau von Bindungsbeziehungen beschränkt sich nicht auf die leibliche Elternschaft, sondern ist auch in der Fremdbetreuung durch professionelles und feinfühliges Verhalten möglich. Die entwicklungsfördernde Qualität von Kinderbetreuungseinrichtungen ist hierbei von größter Bedeutung.
1. Einleitung
Der englische Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby begründete in den 1950er-Jahren die Bindungstheorie (vgl. Bowlby 1958). Diese besagt, dass der Säugling im Laufe des ersten Lebensjahres auf der Grundlage eines biologisch angelegten Verhaltenssystems eine starke emotionale Bindung zu einer Hauptbezugsperson entwickelt. Das Bindungsverhalten drückt sich insbesondere darin aus, dass der Säugling Nähe zur Bindungsperson sucht, wenn er Angst erlebt. Das Bindungsbedürfnis wird durch Trennung von der Bindungsperson sowie durch äußere oder innere Bedrohung und Gefahr aktiviert. Für das unselbstständige menschliche Neugeborene und Kleinkind ist die Schutzfunktion durch eine Bezugsperson von lebenserhaltender Bedeutung. Hieraus entwickelt sich ein sehr frühes Gefühl von Ur-Vertrauen, das mit Bindungssicherheit und einem Gefühl von »Geborgenheit« in Beziehungen assoziiert ist (vgl. Bowlby 2008). Dieses Gefühl, das sich im ersten Lebensjahr entwickelt, bleibt während des gesamten Lebens aktiv und ist jederzeit – besonders in stressvollen Situationen – quasi intuitiv abrufbar (vgl. Brisch 1999).
2. Die Bedeutung der Feinfühligkeit
Durch intensive entwicklungspsychologische Forschungsarbeiten und Längsschnittstudien konnten verschiedene Konzepte der Bindungstheorie empirisch validiert werden (für einen umfassenderen Überblick siehe Grossmann/Grossmann 2004 u. 2012).
Als Mitarbeiterin von John Bowlby untersuchte Mary Ainsworth die Bedeutung des feinfühligen Pflegeverhaltens der Bindungsperson (vgl. Ainsworth 1997 u. 2003). Sie fand heraus, dass Säuglinge sich an diejenige Pflegeperson binden, die ihre Bedürfnisse in einer feinfühligen Weise beantworten. Letzteres bedeutet, dass die Pflegeperson die Signale des Säuglings richtig wahrnimmt und sie ohne Verzerrungen durch eigene Bedürfnisse und Wünsche auch richtig interpretiert. Weiterhin muss die Pflegeperson die Bedürfnisse angemessen und prompt – entsprechend dem jeweiligen Alter des Säuglings – beantworten. Je älter der Säugling wird, umso länger können auch die Zeiten sein, die ihm bis zur Bedürfnisbefriedigung zugemutet werden.
Der Sensibilität der Mutter für die Signale ihres Säuglings sowie ihre emotionale Verfügbarkeit sind hier von großer Bedeutung (vgl. George/Solomon 1989). In der täglichen Pflege- und Spielerfahrung einer Mutter oder eines Vaters mit ihrem oder seinem Kind werden aber auch Erinnerungen und Gefühle aus der eigenen mütterlichen Kindheit und den Bindungserfahrungen mit den eigenen Eltern wachgerufen. Die damit verbundenen angenehmen sowie emotional belastenden Gefühle und Bilder können durch Projektionen die Feinfühligkeit und das Verhalten gegenüber dem eigenen Kind bereichern oder auch erheblich behindern. Im schlimmsten Fall werden wiedererlebte Erinnerungen – etwa eine Missbrauchs- oder eine Verlassenheitserfahrung – mit dem eigenen Kind wiederholt (vgl. Brisch 2013; Rauwald et al. 2013).
Analysen der sprachlichen Interaktion zwischen Mutter und Säugling konnten eine sichere Bindungsentwicklung des Kindes vorhersagen, wenn die Mutter aufgrund ihrer Empathie in der Lage war, die affektiven Zustände ihres Säuglings angemessen zu verbalisieren (vgl. Meins 2013).
2.1. Bindungsqualität des Kindes
Werden die Bedürfnisse des Säuglings in dieser von Ainsworth geforderten feinfühligen Art und Weise von einer Pflegeperson beantwortet, so besteht eine relativ große Wahrscheinlichkeit, dass der Säugling zu dieser Person im Laufe des ersten Lebensjahres eine sichere Bindung (Typ B) entwickelt. Dies bedeutet, dass er diese spezifische Person bei Bedrohung und Gefahr als »sicheren Hafen« und mit der Erwartung von Schutz und Geborgenheit aufsuchen wird.
Wird die Pflegeperson eher mit Zurückweisung auf seine Bindungsbedürfnisse reagieren, so besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass der Säugling sich an diese Pflegeperson mit einer unsicher-vermeidenden Bindungshaltung (Typ A) bindet. Ein unsicher-vermeidend gebundenes Kind wird etwa nach einer Trennungserfahrung die Bindungsperson eher meiden oder nur wenig von seinen Bindungsbedürfnissen äußern. Es hat sich an die Verhaltensbereitschaften seiner Bindungsperson angepasst: Nähewünsche werden vom Säugling erst gar nicht wirklich intensiv geäußert, da er ja weiß, dass sie von seiner Bindungsperson auch nicht entsprechend intensiv mit Bindungsverhalten im Sinne von Nähe, Schutz und Geborgenheit gewähren beantwortet werden. Dies führt aber zu einer größeren inneren Stressbelastung des Säuglings, die an erhöhten Werten für das Hormon Cortisol gemessen werden kann (vgl. Spangler 1998). Werden die Signale manchmal zuverlässig und feinfühlig, ein anderes Mal aber eher mit Zurückweisung und Ablehnung beantwortet, so entwickelt sich eine unsicher-ambivalente Bindungsqualität (Typ C) zur Bindungsperson, zum Beispiel zur Mutter. Diese Säuglinge mit einer unsicher-ambivalenten Bindung reagieren auf eine Trennung von ihrer Hauptbindungsperson mit einer intensiven Aktivierung ihres Bindungssystems, indem sie lautstark weinen und sich intensiv an die Bindungsperson klammern. Nach einer kurzen Trennung – wenn diese überhaupt gelingt – und der baldigen Rückkehr der Mutter sind sie für längere Zeit kaum zu beruhigen und können zum neugierigen Erkundungsspiel in einer ausgeglichenen emotionalen Verfassung fast nicht mehr zurückkehren. Während sie sich einerseits an die Mutter klammern, zeigen sie andererseits aber auch aggressives Verhalten. Wenn sie etwa bei der Mutter auf dem Arm sind, strampeln sie und treten mit den Füßchen nach der Mutter, während sie gleichzeitig mit ihren Ärmchen klammern und Nähe suchen. Dieses Verhalten wird als Ausdruck ihrer Bindungsambivalenz interpretiert.
Erst später, nach den beschriebenen Mustern, wurde noch ein weiteres Bindungsmuster gefunden, das als desorganisiertes und desorientiertes Muster (Typ D) bezeichnet wurde (vgl. George/Solomon 1998; Schuengel et al. 1999). Eine solche desorganisierte Bindung, wie sie bereits bei zwölf Monate alten Säuglingen beobachtet werden kann (vgl. Hesse/Main 2000), ist insbesondere durch motorische Sequenzen von stereotypen Verhaltensweisen gekennzeichnet. Oder aber die Kinder halten im Ablauf ihrer Bewegungen inne und erstarren für die Dauer von einigen Sekunden, ein Verhalten, das auch als »Einfrieren« (Dissoziation) bezeichnet wird (vgl. Main/Hesse 1990).
Einander emotional widersprechende Bindungserfahrungen könnten zu den desorientierten Bindungsverhaltensweisen des Kindes führen, die somit Ausdruck eines desorganisierten »inneren Arbeitsmodells« der Bindung zur spezifischen Bindungsperson sind. Die Mutter wurde für dieses Kind dann nicht nur zu einem sicheren emotionalen Hafen, sondern auch manchmal zu einer Quelle der Angst und Bedrohung, weil sie sich etwa in Bindungssituationen aggressiv und damit ängstigend beziehungsweise auch selbst sehr ängstlich gegenüber ihrem Kind verhielt (vgl. Lyons-Ruth et al. 2011).
3. Vorteile einer sicheren Bindung
Aus vielen Längsschnittstudien ist bekannt, dass ein sicheres Bindungsmuster ein Schutzfaktor für die weitere kindliche Entwicklung ist (vgl. Grossmann/Grossmann/Waters 2005; Werner 2000). Sicher gebundene Kinder reagieren mit einer größeren psychischen Widerstandskraft (Resilienz) auf emotionale Belastungen wie etwa eine Scheidung der Eltern. Eine unsichere Bindungsentwicklung dagegen ist ein Risikofaktor, sodass bei Belastungen leichter ein psychischer Zusammenbruch droht oder Konflikte in einer Beziehung weniger sozial kompetent geklärt werden.
So zeigen etwa Kinder mit unsicheren Bindungsmustern schon im Kindergartenalter in Konfliktsituationen weniger pro-soziale Verhaltensweisen und eher aggressive Interpretationen des Verhaltens ihrer Spielkameradinnen und Spielkameraden (vgl. Suess et al. 1992). Im Jugendalter sind sie eher isoliert, haben weniger Freundschaftsbeziehungen und schätzen Beziehungen insgesamt als weniger bedeutungsvoll für ihr Leben ein (vgl. Zimmermann et al. 1997).
3.1. Ursachen von Bindungsstörungen
Wenn pathogene Erfahrungen des Kindes – wie Deprivation, Misshandlung, Verlust, Gewalt – nur vorübergehend oder phasenweise auftreten, können sie häufig mit desorganisiertem Bindungsverhalten assoziiert sein. Sind sie dagegen das vorherrschende frühe Interaktionsmuster mit den Bindungspersonen und wurden die pathogenen Bindungserfahrungen über mehrere Jahre gemacht, können hieraus Bindungsstörungen resultieren. Selbst nach Milieuwechsel, etwa durch Adoption, und unter besseren emotionalen familiären Bedingungen können diese Störungen weiter bestehen bleiben und eine hohe Belastung für die neue Adoptiveltern-Kind-Beziehung darstellen (vgl. Rutter/O’Connor/the ERA Study Team 2004). Bindungsstörungen können sich im schlimmsten Fall zu überdauernden psychopathologischen Mustern einer schweren Persönlichkeitsstörung verfestigen (vgl. Brisch 2011).
Die längsschnittlichen Untersuchungen über die emotionale Entwicklung von Säuglingen und Vorschulkindern, die unter den Bedingungen schwerer früher Deprivation in rumänischen Heimen aufgewachsen waren und dann von englischen und kanadischen Familien adoptiert wurden, litten teilweise auch Jahre nach der Adoption noch an den Symptomen von ausgeprägten reaktiven Bindungsstörungen mit zusätzlichen Störungen der Aufmerksamkeit und mit Überaktivität (ADHS=Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung). Weiterhin zeigten sie solche Verhaltensstörungen, die Symptomen aus dem autistischen Erkrankungsspektrum ähnelten (vgl. Kumsta et al. 2012). Obwohl sich bei 20% der Kinder im weiteren Entwicklungsverlauf eine Tendenz zur emotionalen Normalisierung zeigte, fand sich insgesamt eine hohe Stabilität für die pathologische Symptomatik (vgl. O’Connor et al. 2003). Je länger die Erfahrung der frühen Deprivation unter Heimbedingungen gewesen war, desto ausgeprägter waren die Symptome der ADHS. Die gefundenen Effekte konnten nicht durch schlechte Ernährung, niedriges Geburtsgewicht oder kognitive Defizite der Kinder erklärt werden (vgl. Doom et al. 2015; Kreppner et al. 2001).
3.2. Bindung und Trauma
Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen desorganisierten Bindungsmustern der Kinder und ungelösten Traumata der Eltern gibt (vgl. Jacobvitz/Leon/Hazen 2006; Lyons-Ruth 2008b; Lyons-Ruth et al. 2003; Schore 2003). Solche Eltern haben in der eigenen Kindheit Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung erlebt. Sie mussten Verluste wichtiger Bezugspersonen verkraften oder erlitten andere schwere Traumata. Das Verhalten des eigenen Kindes, etwa das Schreien eines Säuglings, »triggert« das einst erlebte Trauma, da es etwa an das eigene Weinen und den eigenen Schmerz erinnert. Dadurch können bei der Mutter oder dem Vater dissoziative oder auch traumaspezifische und das Kind ängstigende Verhaltensweisen ausgelöst werden (vgl. Hesse et al. 2003).
Der stärkste Prädiktor für eine desorganisierte Bindung ist die Kindesmisshandlung (vgl. Lyons-Ruth/Block 1996). Am zweitstärksten wirken sich erlebte Traumata der Eltern auf die Entwicklung desorganisierter Bindung des Kindes aus. Traumatisierungen und damit einhergehendes dissoziatives, ängstigendes Verhalten der Erziehungsperson beeinflussen die Entwicklung einer desorganisierten Bindung mehr als Scheidung der Eltern oder Depression (vgl. Green 2002).
Es gibt Studien, die einen Zusammenhang zwischen frühen Verhaltensproblemen – besonders bei Jungen – und unsicher-desorganisierter Bindung feststellen konnten (vgl. Greenberg/Speltz/Cooper 2006; Speltz/Deklyen/Greenberg 1999). Es wurde eine Verbindung zwischen ungelösten Traumata der Eltern beziehungsweise desorganisierten Bindungsmustern der Kinder und aggressiven Verhaltensproblemen und Defiziten sprachlicher Fertigkeiten bei diesen Kindern gefunden (vgl. Bureau/Easlerbrooks/Lyons-Ruth 2009; Lyons-Ruth 2008a; Lyons-Ruth et al. 2011; Lyons-Ruth/Jacobvitz 2008; Verhage et al. 2018).
4. Bindung und Fremdbetreuung2
Das Bindungsbedürfnis des Säuglings ist ein starkes motivationales Entwicklungssystem im Kontext mit anderen motivationalen Systemen. Dabei ist die sichere Bindungsentwicklung im Bezug zu einer Bindungsperson nicht durch die genetische Verwandtschaft bedingt, sondern durch das feinfühlige Verhalten derjenigen Personen, die den Säugling pflegen. Dies macht es möglich, dass sich ein Säugling über einen längeren Bindungsprozess an Personen binden kann, die ihm zunächst vollkommen fremd sind, wie etwa an Pflegeoder Adoptiveltern, ebenso an Erzieherinnen und Erzieher sowie Tagesmütter und Tagesväter in der Fremdbetreuung. Die sichere Bi...