1Formen und Begriffe
1.1Erscheinungsformen von Schulabsentismus
Der Erfolg präventiver und interventiver Handlungsmaßnahmen bei Schulversäumnissen ist davon abhängig, wie spezifisch sie an die unterschiedlichen Erscheinungsformen angepasst werden. Die folgende Klassifikation von Schulabsentismus bezieht sich auf die ursächlichen Faktoren, legitimiert sich durch deutlich unterscheidbare Bedingungen und ist international anerkannt (Thambirajah, Grandison a. De-Hayes 2013; Hallam a. Rogers 2008; Kearney 2001, 2016; Reid 1999, 2014; Ricking, Schulze u. Wittrock 2009). Demnach lassen sich grundlegend drei Erscheinungsformen voneinander abgrenzen: (1) Schulschwänzen, (2) angstbedingte Schulmeidung und (3) elternbedingte Schulversäumnisse/Zurückhalten, bei dem die Fehlzeiten von Eltern herbeigeführt oder toleriert werden.
Abb. 2: Synoptischer Blick auf die Erscheinungsformen (Ricking 2014)
Um sich als Lehrkraft den Fragestellungen des Schulabsentismus gegenüber gut zu positionieren, ist es unabdingbar, sich eingehend mit diesem vielschichtigen Phänomen auseinanderzusetzen. Dabei ist das Problem Schulabsentismus nicht einfach einzuschätzen bzw. zu diagnostizieren. Individuelle Problemkonstellationen setzen sich aus dem Zusammenwirken von Bedingungsfaktoren beim Schüler, der Familie, der Schule und den Peers zusammen und resultieren schließlich in Schulmeidung. Übergänge in neue sozial-ökologische Kontexte (Transitionen) – wie Umzüge oder Schulwechsel – stellen ein besonderes Risiko für gefährdete Schüler dar. Beeinträchtigungen im Lernen und/oder Verhalten wie auch psychische Störungen sind als weitere Risikofaktoren für Schulabsentismus und Schulabbruch zu nennen.
Schulabsentismus umfasst als Oberbegriff alle Formen und Intensitäten illegitimer Schulversäumnisse (Ricking et al. 2009). Es ist somit ein facettenreiches Phänomen mit vielen möglichen Ursachen, Entwicklungsverläufen, Intensitäten und Folgen und lässt sich folgendermaßen definieren:
»Schulabsentismus umfasst diverse Verhaltensmuster illegitimer Schulversäumnisse multikausaler und langfristiger Genese mit Einflussfaktoren der Familie, der Schule, der Peers, des Milieus und des Individuums, die einhergehen mit weiteren emotionalen und sozialen Entwicklungsrisiken, geringer Bildungspartizipation sowie einer erschwerten beruflichen und gesellschaftlichen Integration und die einer interdisziplinären Prävention und Intervention bedürfen« (Ricking, Albers u. Dunkake 2016, S. 147; Ricking u. Hagen 2016, S. 18).
Der Begriff Schulabsentismus ist in diesem Kontext charakterisiert durch die physische Abwesenheit eines Schülers aus dem Wirkbereich der Schule. Er beschreibt verschiedene Formen und Ursachen von Schulversäumnissen und umreißt als Fachbegriff alle Verhaltensmuster, bei denen Schüler ohne Berechtigung der Schule fernbleiben. Im weiteren Sinn verdichtet sich hier auch die Frage der Teilhabe von Heranwachsenden am Bildungssystem. Im Folgenden soll ein Überblick über die wesentlichen Merkmale verschiedener Formen von Schulabsentismus gegeben werden.
1.1.1Schulschwänzen
Beim Schulschwänzen handelt es sich um ein Verhaltensmuster, bei dem Schüler im Rahmen einer ablehnenden Einstellung die Schule, den Unterricht oder die Lehrer missbilligen und dies regelmäßig durch Fernbleiben vom Unterricht oder Zuspätkommen deutlich machen (Ricking 2003). Dabei gehen sie vormittags einer attraktiveren Beschäftigung oft außerhalb des elterlichen Hauses nach. Der Begriff des Schulschwänzens ist somit bei Schulversäumnissen einschlägig, die auf einer aversiven Haltung gegenüber der Schule basieren, von denen die Erziehungsberechtigten häufig keine Kenntnis haben und die auf das Betreiben des Schülers zurückgehen. Lehrkräfte berichten zudem nicht selten von Schülern, die zwar dem Unterricht fernbleiben, sich jedoch auf dem Gelände der Schule, z. B. in der Raucherecke oder im Schulcafé aufhalten. Für sie spielt die Schule als sozialer Raum eine wichtige Rolle, der den Kontakt zu Gleichaltrigen ermöglicht, weniger als Bildungseinrichtung. Schüler, die häufig die Schule schwänzen, haben i. d. R. eine negative Einstellung zur Schule, fühlen sich in der Schule unwohl und denken häufig, dass es sinnlos ist, dem Unterricht beizuwohnen, und fühlen sich in der Schule unwohl. Die Antizipation dieser negativen Schulsituation schließt immer mögliche Alternativen ein. Damit sind alle Situationen und Ereignisse von Bedeutung, die Schüler statt des Schulbesuchs am Vormittag erleben könnten – alle Aktivitäten und Anreize für Schüler in unserer Lebenswelt, die subjektiv lohnender sind und somit den Absentismus positiv verstärken. Dabei kann es sich um gemeinsame Computerspiele, um die Einkaufsmeilen der Innenstädte oder darum handeln, ausschlafen zu können (Ricking 2014). Das Vermeiden der unlustgetönten schulischen Leistungssituation und das Überwechseln in befriedigendere Verhaltensweisen außerhalb der Schule bekräftigt die erkennbare Doppelmotivation. Es geht beim Schulschwänzen folglich nicht allein um das Meiden des Unterrichts, sondern oft auch um das in dieser unbeaufsichtigten Zeit Mögliche. Die Vermeidungsoder Fluchtreaktion besitzt eine psychisch entlastende Funktion und befreit ad hoc von Angst, Unsicherheit, Hilflosigkeit oder Langeweile. Jungen mit abhängigkeitsgefährdetem oder abhängigem Computerspielverhalten ziehen auch in Schulzeiten den Computer dem Klassenraum vor, was sich negativ auf die Schulleistungen auswirkt und sich in einer höheren Fehlquote widerspiegelt (Rehbein u. Borchers 2009). Als familiale Risikofaktoren gelten u. a. geringe Bildungsambitionen, eine unzureichend ausgeprägte erzieherische Aufsicht und seitens der Erziehungsberechtigten wenig Unterstützung für schulische Belange (Dunkake 2007). Mit problematischen Verhaltensweisen aus dem dissozialen Formenkreis wird intensives Schulschwänzen regelhaft in Verbindung gebracht. Drogenkonsum oder Delinquenz bilden sich mit höherer Wahrscheinlichkeit als bei Kindern und Jugendlichen mit regelmäßigem Schulbesuch aus (Frings 2007). In der Schule ist die Verbindung zwischen Schulschwänzen und Leistungsversagen sehr deutlich, v. a. bezüglich Schülern mit hohen Fehlquoten (Baier 2012). Regelmäßige Misserfolge, die sich in ungünstigen Leistungsbewertungen oder Klassenwiederholungen äußern, sorgen auf Dauer für mangelnde Lernmotivation, belastete pädagogische Beziehungen und Meidungsverhalten. Viele der betroffenen Schüler fühlen sich angesichts schulischer Anforderungen frustriert und überfordert und entwickeln Verhaltenstendenzen, diesen aus dem Weg zu gehen (Oehme 2007). Einige Schüler mit Leistungsproblemen verdichten ihre meist langjährigen negativen Erfahrungen im Bereich des Schulversagens so zu aversiven Erwartungshaltungen gegenüber folgenden schulischen Anforderungen. Ricking und Dunkake (2017, S. 97–98) fassen die Risikofaktoren des Schulschwänzens auf der Basis der Krefelder Studie zusammen:
•schlechte Schulleistungen (z. B. in Form von Schulnoten oder einem absteigenden Schulwechsel),
•ein seitens der Schüler wahrgenommener streng-gleichgültiger Erziehungsstil des Klassenlehrers,
•dauerhafte oder zeitweilige Trennung von beiden leiblichen Elternteilen (z. B. Pflegefamilie, Trennung der Eltern, Heimaufenthalt),
•niedriger sozioökonomischer Status der Eltern (z. B. Arbeitslosigkeit),
•familiale Erziehung: viel Kritik und Ablehnung durch die Eltern, Gewalt in der Familie, wenig Unterstützung,
•geringes kulturelles Kapital in der Familie,
•Anbindung an eine (deviante) Clique (meist außerhalb des Klassenverbandes),
•deviantes Verhalten der Schüler,
•intensiver Zeitvertreib vor dem Fernseher/Computer.
Sälzer (2010, S. 197) resümiert in der Diskussion ihrer Forschungsresultate: »Indikatoren des Sich-unwohl-Fühlens in der Schule scheinen ein starker Beweggrund für Absentismus zu sein, …« Im Laufe der Jahre verliert die Schule auf diese Weise viele Schüler. Ihnen kommt die Lernfreude abhanden, sie sehen immer weniger Sinn im schulischen Tun und zweifeln an der persönlichen Bedeutung ihrer Lernhandlungen. Motivationstheoretisch betrachtet sind diese Schüler oft erfüllt von Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit – was das schulische Lernen untergräbt und als wesentlicher Risikofaktor für Schulschwänzen anzusehen ist. Die Schule verliert an Bedeutung – sie wird gleichgültig (Ricking u. Wittrock 2016).
1.1.2Angstbedingte Schulmeidung/Schulverweigerung
Angst wird allgemein als Reaktion auf eine subjektiv erlebte Bedrohung definiert und gilt als relevantes Motiv der zweiten Formgruppe des Schulabsentismus. Die betroffenen Schulpflichtigen haben aufgrund ihres Angsterlebens beträchtliche Probleme, den Unterricht zu besuchen, und ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit, die sie i. d. R. nur im familialen Bereich finden. Schulverweigerung beschreibt also die häufig mit internalisierenden Angstsymptomen einhergehende Vermeidung des anstehenden Schulbesuchs (King a. Bernstein 2001; Knollmann et al. 2010). Bei dieser Erscheinungsform bleiben die Schüler am Vormittag zu Hause, begehren gegen einen anstehenden Schulbesuch sehr deutlich auf, zeigen jedoch keine dissozialen Verhaltensweisen und beklagen sich oft über Krankheitssymptome (u. a. Kopf- und Bauchschmerzen, Schlafstörungen), die sich nicht auf Körperliches zurückführen lassen (Kearney 2016).
Hierbei wird zwischen Schulangst und der Schulphobie unterschieden.
Eine Schulangst geht entweder auf leistungsbezogene oder soziale Problemlagen innerhalb der Schule zurück. Die Angst, in Prüfungen zu versagen oder in der Klasse etwas präsentieren zu müssen, kann bei einzelnen Schülern ein Ausmaß annehmen, dass sie diese Situationen bewusst meiden. Daneben sind soziale Ängste nicht zu vergessen, die zu ähnlichem Meidungsverhalten führen können, wie beispielsweise beim Mobbing/Bullying (Kindler 2009). Mobbing geschieht systematisch und findet zunehmend auf Plattformen sozialer Netzwerke statt (sog. Cybermobbing). Die Opfer, die über einen längeren Zeitraum bedroht, bloßgestellt, schikaniert oder gequält werden, machen einen Bogen um die Schule, um sich zu entlasten und in Sicherheit zu bringen. In der Studie von Ricking und Dunkake (2017) wird deutlich, dass häufiger Mädchen mit Migrationshintergrund davon betroffen sind. Demnach gehören Jugendliche mit Schulangst seltener einer Clique an und leiden unter einem geringen Selbstvertrauen wie auch häufiger unter Prüfungsangst. Im Rahmen der Netzwerkanalysen wurde deutlich, dass gerade Klassen, in denen ein schlechtes Klassenklima vorherrscht, einen erhöhten Anteil an Schülern mit Schulangst aufweisen. Immerhin geben 23 % der Schüler an, sehr häufig unter ihr zu leiden (Ricking u. Dunkake 2017).
Die Schulphobie zeigt sich oftmals als emotionale Störung mit Trennungsangst (ICD-10 F93.0), die im Bereich der nicht schulisch verursachten Ängste eine wichtige Rolle einnimmt. Im Mittelpunkt steht die An...