Kapitel I: Das Verweilen
Das Smartphone und von transparenten Taschen - Bedürfen und Wünschen - Das Fernsehen und das zweiseitige Entfernen – Der Gender-Ansatz: Die Zwangsjacke der Mannesgleichheit - Familie und Tradition?! - Die Theodizee-Frage - Funktionieren und Erfüllen - Selbstzerstörerische Zufriedenheit: Die endlose Jagd nach immer mehr - Glückseligkeit: Die Gelassenheit des Gegenwärtigen - Ungelebte Gegenwart und illusionäre Zukunft - Freiheit, nicht Willkür! - Die sinnliche Erkundung einer Frau - Gut oder Richtig: Der Mensch bloß eine Ich-heit mit Spiegeln vor den Augen? - Wissen, Erkenntnis und Glauben - Bestimmen oder bestimmt Werden? - Das Prinzip des Guten und das Problem der modernen Philosophen - Philosophie und Sprache an der Universität
Montag
Seufzend blicke ich auf die Uhr. Es ist wieder einer dieser Momente, an denen ich mir sehnlichst wünsche, nicht direkt mit dem Studium angefangen zu haben: Wie gerne hätte ich all die Zeit dazu genutzt, mich durch die gesamte Philosophiegeschichte zu lesen und die restliche Zeit mit dem Schreiben zu verbringen. Aber was soll‘s – viel zu oft denke ich an die Vergangenheit oder an die Zukunft, obwohl ich doch eigentlich weiß: In der Vergangenheit zu leben, trübt den Blick auf die Zukunft – und in der Zukunft zu schwelgen, lässt diese niemals zu Gegenwart werden.
Mein Handy vibriert. Das ist auch so eine Sache – seit zwei Wochen frage ich meinen Vater, wann denn mein Vertrag endlich gekündigt sei. Und er antwortet seit zwei Wochen, dass er gleich nachsieht.
Rate mal, was passiert ist.
Eine Textnachricht von Chang.
Was denn?
Ich kann es wirklich kaum erwarten, bis ich dieses Smartphone los bin. Als wäre es nicht genug, dass es zeitraubend ist und meine Solidarität mit Ausbeutung und menschenunwürdiger Arbeit demonstriert, ist dieses kleine Ding der Schlüssel in meinen Kopf.
Eine feine, rote Schleife um das All inclusive Paket, mit welchem Geheimdienste von ehemaligen Garagenbewohnern geködert werden: Welcher Jäger sähe es nicht gerne, wenn das Beutetier sich in gutbürgerlicher Manier selbst erlegend auf der Ladefläche darbietet?
#J antwortet Chang nur.
Nicht dein Ernst?
Sie hat mich nach deiner Nummer gefragt – Soll ich sie ihr geben? Ich zögere und erinnere mich daran, weshalb ich in keinem sozialen Netzwerk vertreten bin. Auf der anderen Seite - versprach ich nicht, für alle Menschen ein offenes Ohr zu haben?
Ja gib sie ihr – mal schauen, was ich für sie tun kann.
Mit meinem Rückzug aus sozialen Netzwerken bin ich nicht nur lästige Menschen und vermeidbare Halbwahrheiten los geworden, ebenso wenig höre ich von Leuten, von denen ich glaubte, es seien mehr als Bekannte.
Naja, sich nun weiter damit aufzuhalten, wäre sinnloser Zeitvertreib. Ich sollte mich wieder der Logik zuwenden.
Hi Arman, hier ist die Julia??
Das ging schnell.
Dienstag
„Baba, wann läuft mein Vertrag endlich aus?“, frage ich.
„Was ist dein Problem mit dem Handy?“, erwidert er nur.
„Mir geht einfach viel Zeit verloren! Da nimmt man es kurz in die Hand und aus kurz wird dann schnell viel zu lang“.
„Dann diszipliniere dich!“, verlangt er: „Das Ding ist nun mal nützlich - du kannst schnell Sachen nachsehen, deine Mails hast du bei dir, Zugverbindungen alle auf einem Blick: Schaffe es, obwohl du es zu Verfügung hast, nur dann zu nutzen, wenn es wirklich nötig ist: Mails, Nachrichten und dergleichen“.
Mir dämmert, was er meint und ich bin überzeugt. Bin ich so schwach, dass ich nicht Maß zu halten weiß, ohne völligen Verzicht?
„Ja, aber was ist denn mit der Art, wie es hergestellt wird? Ich meine, die gehen so schnell kaputt, während Tastentelefone…“. „Wie lang hast du das?“, unterbricht er mich. Ich habe damals sein iPhone genommen. Ich hole es aus der Tasche, betrachte die halb kaputte Rückseite, das zusammenhaltende Klebeband, die um Gnade winselnde Kameralinse…
„Du hast es mir letztes Jahr gegeben“.
„Ich habe es vor mehr als fünf Jahren gekauft“.
Ja, eine stattliche Überlebenszeit – aber auch nur, weil einer seiner Kollegen es wiederbelebte, während wie glaubten, es hätte den Kreis der Familie verlassen.
„Benutze es noch, bis es völlig den Geist aufgibt“, meint mein Vater: „Dann kaufe ich dir eben ein neues, und das benutzt du weitere fünf Jahre. Solange man ein gewisses Maß hält, kann möge man sich die Technik zunutze machen. Gebe bloß Acht, dass du sie kontrollierst, statt anders herum. Mit anderen Worten: Diszipliniere dich!“.
Er hat recht, nur, wie nehme ich dem sonnenhungrigen Brillenträger, ob er denn nun das Avatar des amerikanischen Adlers oder das Logo des künstlichen Apfels trägt, die Sicht?
Wieder oben in meinem Zimmer, denke ich weiter darüber nach. Es erschreckt mich, wie wenig es mir ausmacht, dass ich mit jeder Sekunde, die ich in diesen kleinen Bildschirm sehe, jemand anderem Zugang zu mir verschaffe. Ich sitze in diesem Zimmer, meine alleine zu sein, die Vorhänge zugezogen, damit bei offenem Licht niemand reinsehen kann. Ich schließe die Haustür ab, damit keine Fremden in mein Haus können, schließe ich meine Zimmertür, möchte ich alleine sein, ungestört, nur für mich selbst.
Nur ist da dieser sonnenhungrige Brillenträger. Ihn kann ich nicht aussperren. Denn er ist in meinem Handy drin, und ohne mein Handy kann ich nicht mal mehr ins Badezimmer. Aber er zwingt mich ja nicht dazu, oder?
Ich bitte ihn selbst herein. Dass er da ist, weiß ich schließlich. Der sonnenhungrige Brillenträger guckt mir noch immer ungestört über die Schulter. Er sieht die Bilder, die ich von meiner kleinen Schwester mache, liest die Geheimnisse mit, die ich mit meinen Freunden teile und sieht die intimen Details über das lieblose Liebesleben von mir und meiner Frau, wie schlecht es bei der Paartherapie läuft, zu der wir alle vierzehn Monate zurückfinden – Er weiß ganz genau, wovor ich mich fürchte und wann ich mein Kind allein zu Hause lasse.
Und das ironische daran ist – er bricht nicht mein Schloss auf, um gewaltsam in mein Haus einzudringen, wie ein Dieb – sondern ich öffne ihm entblößt die Tür und bitte ihn herein?
Kannst du jetzt reden?
Ach stimmt, das hätte ich ja beinahe vergessen! Julia wollte mit mir reden. Ohne zu antworten rufe ich sie an. „Hi!“, grüßt sie.
„Was ist los?“, frage ich.
„Ja also…“, sie fängt an irgendetwas aus ihrem Leben zu erzählen. Dass sie immerzu an mich denken müsste, obwohl wir uns seit zwei Jahren nicht gesehen haben und so weiter.
„Was willst du jetzt von mir?“, frage ich ungeduldig. Bahnbrechende und unvergleichliche Liebesgeschichten, welche sich alle paar Monate mit wechselnden Protagonisten zu wiederholen wissen und kaum mehr als die Projektion der eigenen Sehnsüchte und Wünsche sind - Dafür habe ich keine Zeit. In diesem Augenblick verstehe ich, wie es dazu gekommen ist, dass kalifornische Wissenschaftler fieberhaft daran arbeiten, Schweineherzen in Menschen transplantieren zu können.
„Deshalb hast du mich nicht angerufen – zum Ausheulen hast du deine beste Freundin“, erwidere ich.
„Ja, man kann es ja nicht leugnen, dass wir beide eine Geschichte haben und ich musste immerzu an dich denken, ich weiß nicht und wirklich, ich wollte dich schon vorher kontaktieren, aber mein damaliger Freund hatte es mir verboten“.
Welche Geschichte? Wir waren Klassenkameraden…
„Ich weiß nicht…“, meint sie.
… und ich antwortete in der sechsten Klasse auf ihre Liebesbriefchen.
„… irgendwie will ich dich sehen!“.
„Er hat es dir verboten?“, frage ich.
„Ja!“.
Ich kann einfach nicht widerstehen und breche in schallendes Gelächter aus: „Nicht dein Ernst!“.
„Doch!“, sie fällt in mein Lachen ein – ihr ist nicht klar, über wen ich lache: „Da siehst du, was das für einer ist!“.
Es gleicht dem, wenn Freundschaften zerbrechen. Meistens fangen die Menschen an, schlecht über die Personen zu sprechen, die vorher noch ein Teil ihres Lebens waren und von ihnen jedem gegenüber hochgelobt wurden. Sie sind so sehr damit beschäftigt, sich selbst gut zu reden und den anderen schlecht zu machen - versagt hat schließlich der andere -dass sie nicht merken, was sie eigentlich über sich preisgeben.
„Hm – also ist jetzt niemand mehr da, der dir Dinge verbietet?“. „Neeein, jetzt kann ich alles machen“, erwidert sie in einem anzüglichen Ton, gefolgt von einem neckischen Lachen.
„Ich melde mich“.
„Ja, super! Und weißt du…“.
„Ich habe gerade zu tun – ich melde mich, in Ordnung?“.
„Ja, natürlich…?“, antwortet sie irritiert.
Ich will gerade auflegen, als sie noch sagt: „Nächste Woche hätte ich auf jeden Fall Zeit – da sind Ferien, dann könnten wir alles machen…“.
Ich lege auf. Im selben Moment taucht auf dem Bildschirm eine Nachricht auf:
Gib doch einfach dem Mädchen, was sie will! Die Arme wird dich sonst nie aus ihrem Kopf kriegen! Und außerdem – Hast du nicht das Bild gesehen, wie sie jetzt aussieht?
Ich tippe schnell eine Antwort, bevor ich den Flugmodus aktiviere, um mich weiterer Ablenkung zu entziehen.
Wo war ich stehen geblieben?
Genau, der Unterschied zwischen diesem Dieb und dem sonnenhungrigen Brillenträger ist, dass der Dieb sich Zugang zu meinem materiellen Besitz verschafft: Er bricht in mein Haus und stiehlt meinen Fernseher. Das Beispiel des Fernsehers ist fehl am Platz, damit tut er mir schließlich - wenn auch ungewollt - einen Gefallen. Es bedarf eines besseren Beispiels, was könnte so wichtig sein, dass bereits die Vorstellung schlaflose Nächte bereiten könnte…
Gefunden: Er stiehlt mein Geld. Dennoch: Ich kann ihn anzeigen, die Polizei rufen, die Versicherung herbeordern und selbst wenn er nicht geschnappt würde - ich hätte meine Ruhe, denn er hat was er wollte und ist weg. Zwar hat mein Leben einiges an Wert verloren, doch ließe sich dies durch ein paar Überstunden mehr und einer ungleicheren Teilung der Rechnung allmonatlicher Ausgänge mit meiner Ehefrau wieder hinbiegen.
Der sonnenhungrige Brillenträger hingegen – der ist anders. Er interessiert sich nicht für mein Geld und in mein Haus brechen, braucht er auch nicht: Er ist mir näher, als es sonst jemand wäre, jedes Mal, wenn ich den Bildschirm entsperre, treten wir beide in ein Verhältnis, das dem des Blinden zum Sehenden gleicht. Ich trage ihn bei mir, vor dem Schlafengehen schließe ich die Tür und knipse das Licht aus, bevor ich beruhigt einschlafe. Er ruht dabei ganz dicht bei mir, manchmal auf meinem Nachttisch, manchmal aber auch unter meinem Kopfkissen.
Er will meine Gewohnheiten kennen, voraussagen können, was ich morgen tue - er möchte wissen, was meine Geheimnisse sind, wann ich wo bin, mit wem ich spreche, wofür ich mich interessiere und was ich gerne hätte – dabei ist er unersättlich. Ihm genügt es nicht zu wissen, dass ich weder Terrorist noch interessiert an Veränderungen bin – er will mehr. Man spricht wegen ihm vom ,,Überwachungskapitalismus“: Denn jeder ist nicht nur überwachbar, sondern erpressbar. Oder wie ein Chef der berühmt berüchtigten Suchmaschine 2010 verkündete: In Zukunft werden wir es mit einer Massenveränderung der Namen zu tun haben. Da ist eben diese trügerische Hoffnung, der eigenen Internethistorie wenigstens dem Namen nach zu entkommen. Es ergeben sich neue Wege, wie mit Systemkritikern umzugehen… Zuvorkommend ist er dabei auch noch: Um mir ein gutes Gefühl zu geben, bietet er mir eine grenzenlose Welt, in der Fakten, Dauerhaftigkeit, Normen und Gesetze, Gefühle, Empathie und Sensibilität, sowie eine sich in Taten äußernde, wahrhaftige Solidarität nicht besonders wichtig sind.
Wir kommen beide zum Zug: Während ich im Netz umher surfen kann, meine Lieblingsprominenten in ihrem Treiben beneide und mit meinen digitalen Freunden in digitalen Kontakt treten darf, surft er in meinen Bildern herum, beobachtet mich und liest mit, wenn ich eine lange Textnachricht mit dem Satz „Aber das musst du für dich behalten!“ beende. Mittlerweile gibt es gar ein Chat-Programm, welches ermöglicht, Bilder zu verschicken, die nicht von meinem Gegenüber gespeichert werden können. Schließlich kann ich nicht wissen, was mein Gegenüber mit diesen macht, sobald er meiner überdrüssig ist.
Irgendwo in den Nutzungsbedingungen, die ohnehin niemand liest, steht sicherlich: Mit Ausnahme des sonnenhungrigen Brillenträgers. Was spräche dagegen? Ganz sicher nicht der Verlust von Privatsphäre. Wir sind mittlerweile so transparent, dass wir sogar durchsichtige Taschen tragen. Galt die Tasche einer Dame einst als unantastbares… Ach, hör schon auf! Was für Unantastbarkeit, was für Intimität? Was zählt, ist, den Trends zu folgen. Deshalb sind wir auch großzügig mit dem sonnenhungrigen Brillenträger, wenn er mal mit unseren ,,Geheimnissen“ nicht so gewissenhaft umgeht. Mit Wahrheiten nehmen wir es ohnehin nicht so genau, am deutlichsten bekam das Edward Snowden zu spüren. Immerhin brach hier der sonnenhungrige Brillenträger unsere Rechte in staatlichem Auftrag.
Aristoteles sagt, dass selbst Zwänge freiwillig sind, weil ich mich freiwillig dazu entscheide, mich dem Zwang zu unterwerfen - Freiheit ist eine Illusion geworden.
Ein gutes hat das Ganze: Des Kaisers neue Kleider bleibt zeitlos. Mit zwei Unterschieden:
Erstens ist nicht unser Körper entblößt, zweitens wissen wir um unsere Nacktheit.
Es scheint uns nur nicht viel auszumachen, wir bezahlen sogar dafür.
Julia, halte dich am besten von Männern fern und kümmere dich um dich selbst. Kriege einen klaren Kopf, achte auf dein Studium. Und lass dich von keinem ausnutzen oder dir vorschreiben, was du zu tun hast. Verdiene dir etwas Besseres. Und melde dich n...