1. Prolog
Zu den Quellen…
Als Projektmanager kämpft man an vielen Fronten. Unrealistische Zeitpläne, unklare Ziele, technische Probleme und nicht zuletzt die eigene Frustration – so heißen die Windmühlen, gegen die wir modernen Don Quichottes antreten. Natürlich wissen wir im Prinzip, was zu tun ist. In der Praxis löschen wir jedoch oft Feuer. Wir reagieren, anstatt zu agieren. Ganz nebenbei haben wir noch unser Privatleben mit seinen Höhen und Tiefen. Partner mit eigenen Wünschen, pubertierende Kinder und private Termine, die sich nur schwer in den ohnehin vollen Kalender einfügen, sorgen für zusätzliches Reibungspotential.
Dem Helden dieses Büchleins, Jorge, geht es nicht anders. Jorge ist Mitte Vierzig und arbeitet für ein großes High-Tech-Unternehmen. Er ist schon länger Projektmanager. Er hat daher bereits eine Menge erlebt und einige Schulungen genossen. Auch seine Frau Lenya bewegt sich im Projektumfeld und steuert als Coach und Mentor immer wieder – oft auch ungefragt – Ratschläge bei. Aus diesem Erfahrungsschatz heraus schöpft Jorge Strategien, die ihm helfen, den Fokus zu behalten und auch unter widrigen Umständen den Projektalltag zu meistern. Ganz nebenbei findet er den Grund für eine mysteriöse Krankheit heraus, welche die ganze Firma lahmlegt und sogar vereinzelt Leben kostet.
Die Personen in diesem Buch sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind selbstverständlich rein zufällig, wenn man davon absieht, dass Inspiration irgendwo herkommen muss. Natürlich sind meine eigenen Erfahrungen eingeflossen. Wie sollte es auch anders sein? Ich möchte jedoch explizit darauf hinweisen, dass diese Erfahrungen aus vielen verschiedenen Projekten bei unterschiedlichen Arbeitgebern und unterschiedlichen Kunden stammen. Es sind daher keine direkten Rückschlüsse möglich, so verlockend sie auch sein mögen. Sollte sich dennoch jemand in einer Episode oder einem Charakterzug wiedererkennen, so nehme er bzw. sie es als Kompliment (falls positiv) oder als Anregung zum Nachdenken (falls nicht ganz so positiv).
Obwohl als Krimi geschrieben, versteht sich dieses Buch als Projektmanagement-Lehrbuch. Es enthält eine sehr persönliche Sammlung an Punkten, die Jorge (und ich) immer wieder hilfreich finden. Neben klassischen Methoden des Projektmanagements, wie z.B. der Aufwandsabschätzung oder der Risikoanalyse, finden sich viele Soft-Skill-Themen in und zwischen den Zeilen. Dabei geht es sowohl um den Umgang mit anderen als auch um den Umgang mit sich selbst. Wem ein Krimi zu unseriös ist, der möge das Lehrbuch zum ASQF® Certified Professional for Project Management (CPPM) lesen.1 Der vier-tägige CPPM-Kurs richtet sich an alle, die Projektmanagement-Aufgaben übernehmen. Dabei sind explizit nicht nur die Projektmanager mit offizieller Funktion angesprochen. Gerade im agilen Umfeld verteilen sich die typischen Projektmanagement-Aufgaben auf viele Köpfe, darunter auch auf die der Entwickler.
Ob die Welt ein weiteres Buch über Projektmanagement braucht, ist fraglich. Was die Welt jedoch definitiv braucht sind Geschenkideen. Daher hat dieses Büchlein insgesamt 24 Kapitel (Prolog und Epilog mitgezählt). Zu jedem Kapitel gehört eine Info-Graphik, welche die wesentlichen Punkte zusammenfasst. Betrachten Sie es als Adventskalender mit 24 Türchen oder als 8-tägige Intensivkur (morgens, mittags, abends jeweils Eine).
Viel Spaß beim Lesen!
2. Allein im Biergarten
Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich.
Abgekämpft setzte sich Jorge mit seinem Bierkrug an einen freien Tisch im Schatten. Das war wieder mal so eine Woche gewesen, in der er zwar ständig rotiert hatte und doch mit dem Gefühl ins Wochenende ging, nichts erreicht zu haben. Mit den Gedanken war Jorge noch immer bei der Arbeit. Heute hatte er praktisch den ganzen Tag in Besprechungen gesessen. Die tägliche Statusbesprechung war noch soweit ok gewesen. Die jährliche Sicherheitsunterweisung – eigentlich eine Veranstaltung mit Anwesenheitspflicht – hatte er geschwänzt und war nur kurz aufgetaucht, um sich in die Anwesenheitsliste einzutragen. Die so gewonnene Stunde hatte er stattdessen genutzt, um die Sitzung des Lenkungskreises vorzubereiten, die direkt im Anschluss an die Sicherheitsunterweisung stattgefunden hatte. Natürlich war ihm in der Eile ein Fehler unterlaufen. Die Zahlen konnten so nicht stimmen, aber er hatte bislang noch keine Zeit gefunden, sich die Sache genauer anzuschauen.
Seufzend nahm Jorge einen kräftigen Schluck. Jetzt, am Freitagabend, wäre es im Büro schön ruhig. Er könnte sich die Zahlen noch einmal vornehmen und dabei überlegen, wie er das Projekt wieder auf Spur bringen könnte. Alex hatte jedoch darauf bestanden, dass sie sich endlich mal wieder treffen sollten. Das Wetter war herrlich und Jorge entspannte sich langsam. Zum Glück musste er wenigstens hinsichtlich seiner Familie kein schlechtes Gewissen haben. Die Kinder waren beide auf Klassenfahrt und seine Frau hatte an diesem Freitag ebenfalls eine Verabredung mit Freundinnen.
Wo Alex nur blieb? Jorge kannte Alex aus dem Informatik-Studium. Sie hatten beide kurz nacheinander ihren Abschluss gemacht und dann in verschiedenen Geschäftsbereichen desselben Konzerns als Software-Entwickler angefangen. Auch ihr Werdegang war ähnlich verlaufen. Beide hatten zunächst die Verantwortung für kleinere Projekte übernommen. Mit der Zeit hatte man ihnen dann immer mehr und teilweise auch größere Projekte übertragen. Zurzeit hatte Jorge vier „Baustellen“, um die er sich gleichzeitig kümmern musste. Trotzdem war es ihnen gelungen, Kontakt zu halten. Unter anderem hatten sie sich regelmäßig in der Kantine getroffen. Doch dann war Alex plötzlich spurlos von der Bildfläche verschwunden. Jorge schämte sich heute noch für die drei Monate, die er gebraucht hatte, um zu merken, dass Alex krankgeschrieben war. Burnout. Der Klassiker.
Inzwischen hatte sich Alex innerhalb der Firma versetzen lassen und hatte statt einer Karriere als Projekt- und später vielleicht mal Abteilungsleiter einen Posten als Qualitätsmanager in Teilzeit angenommen. Alex schrieb nun Verfahrensanweisungen und prüfte alle möglichen Dokumente auf Einhaltung der Regeln. Jorge kam das ziemlich öde vor, aber Alex widersprach ihm dann regelmäßig. Vielleicht war das auch nicht ganz falsch. Bei ihrer gemeinsamen Silvesterfeier war ihm aufgefallen, wie viel Zeit Alex inzwischen mit Freunden und Familie verbrachte. Daraufhin hatte Jorge seit langem mal wieder gute Vorsätze für das neue Jahr gefasst: Weniger nutzlose Besprechungen, dafür mehr Sport. Keine sinnlosen Überstunden mehr. Sich nicht mehr so weit vereinnahmen lassen, dass man nachts von der Arbeit träumte.
Natürlich hatte ihn der Arbeitsalltag nach zwei Wochen wieder eingeholt. Keine Zeit für Sport, denn heute Abend war noch diese wichtige Besprechung. Außerdem stand eine Freigabe an, für die noch… Gute Gründe gab es immer, noch ein paar Stunden länger im Büro zu bleiben. Wenn er abends heimkam, waren die Kinder schon im Bett – oder sollten es jedenfalls sein.
Ob Alex die Verabredung vergessen hatte? Unwahrscheinlich. Die WhatsApp mit dem Biergarten-Vorschlag war erst vor wenigen Stunden gekommen. Hoffentlich war nichts passiert. Alex fuhr leidenschaftlich gerne Rad und kurvte oft abenteuerlich durch die Stadt. Das teure Rennrad war schon mehrfach gestohlen worden, aber Alex kaufte sich immer wieder neue, zuletzt ein E-Mountainbike.
Jorge überlegte. Inzwischen war es zu spät, um noch einmal in die Firma zu gehen. Dann fiel ihm der Link ein, den Alex ihm vor ein paar Tagen weitergeleitet hatte. Er holte sein Smartphone wieder aus dem Rucksack. Der Titel klang vielversprechend: „Gegen chronischen Zeitmangel – 3 Prinzipien des Zeitmanagements“. Jorge begann zu lesen…
1. Prinzip: Erledige das Unangenehme vor dem Angenehmen.
Diesem Prinzip liegt ein ganz einfacher, psychologischer Effekt zu Grunde. Wer erst das Unangenehme erledigt, wird sich damit beeilen, um auch noch Zeit für das Angenehme zu haben. Umgekehrt kann man sich endlos mit dem Angenehmen beschäftigen, da ja danach nur Unangenehmes ansteht. Im ersten Fall schafft man beides, im zweiten Fall nur eins und es bleibt ein schlechtes Gewissen.
Dieses Prinzip leuchtete Jorge sofort ein. Er kannte dieses Gefühl der Lähmung, wenn man eigentlich eine Aufgabe erledigen musste, dazu jedoch keine Lust hatte, aber auch nicht guten Gewissens etwas anderes anfangen mochte.
2. Prinzip: Erledige das Wichtige vor dem Dringenden.
Alle Aufgaben lassen sich in „wichtig“ und „weniger wichtig“ sowie in „dringend“ und „weniger dringend“ einteilen. Selbstverständlich erledigen wir diejenigen Aufgaben zuerst, die sowohl dringend als auch wichtig sind. An die Aufgaben, die weder dringend noch wichtig sind, werden wir hingegen keinen müden Gedanken verschwenden. Falls überhaupt, sind diese Aufgaben als Letztes dran. Die eigentliche Frage stellt sich nur für die beiden verbleibenden Quadranten („dringend, aber nicht so wichtig“ bzw. „wichtig, aber noch nicht dringend“).
Tendenziell neigen wir dazu, zunächst das Dringende zu erledigen. Schließlich ist es ja dringend. Doch das ist falsch! Fast alle Aufgaben werden mit fortschreitender Zeit irgendwann dringend. Plötzlich finden wir uns mit wichtigen, dringenden Arbeitspaketen wieder, die wir parallel zu (vergleichsweise) unwichtigen, aber natürlich ebenfalls dringenden Aufgaben bearbeiten müssen.
Klar, dachte Jorge. Es ist selten, dass etwas Unwichtiges plötzlich wichtig wird. Außerdem bestand immer die Hoffnung, dass jemand anderes früher die Nerven verlor. Allerdings fand er die Einteilung in „wichtig“ und „unwichtig“ manchmal schwierig, ganz abgesehen davon, dass sie ja auch nicht zwangsläufig selbstbestimmt war. Was war mit Punkten, die einem persönlich wichtig waren, der Firma jedoch eher nicht? Er beschloss, dass jede Regel auch Ausnahmen haben durfte, solange man sich darüber klar war, wessen Prioritäten man folgte.
Jorge las weiter.
3. Prinzip: Teile die Zeit ein.
Nichts ist schlimmer als ständige Kontextwechsel. Dagegen hilft ein Arbeitsplan. Aufgaben, die unsere volle Konzentration erfordern, sollten wir am Stück erledigen. Stellen Sie sich selbst einen Termin im Kalender ein. Leiten Sie das Telefon so lange um, deaktivieren Sie die E-Mail-Benachrichtigung und schließen Sie die Tür. Sollten Sie keine Bürotür haben, versuchen Sie, in einen Raum zu gehen, wo man Sie nicht sofort findet. Nutzen Sie ein Besprechungszimmer.
Jorge schnaubte. Als ob es bei ihnen in der Firma ungenutzte Besprechungszimmer gäbe. Allerdings hatte er sich tatsächlich schon einmal in ein Café geflüchtet, nur damit ihn keiner störte. In seiner Not hatte er ganz altmodisch mit Stift und Papier gearbeitet und das Ergebnis am Ende eingescannt.
An Tagen, die ohnehin durch Besprechungen zerstückelt sind, kann man all den Kleinkram erledigen, der sich angesammelt hat. Fangen Sie an solchen Tagen größere Aufgaben gar nicht erst an. Zeit wird einem nicht geschenkt. Man muss sie sich nehmen.
Nachdenklich betrachtete Jorge die Lampions, die über ihm im Baum hingen. Er steckte das Smartphone ein und beschloss, nach Hause zu fahren. Vielleicht war Lenya ja schon daheim.
3. Grundsatzdiskussion
…über den Unterschied zwischen „gleich“ und „gerecht“.
Jorge riss die Augen auf. In der Küche hörte er Teller klappern. Er fühlte sich erfrischt. In letzter Zeit hatte er öfters nachts wachgelegen und gegrübelt. Die letzten zwei Nächte hatte er jedoch gut geschlafen.
Es war ein schöner Sonntagmorgen im Mai. Sie würden auf der Terrasse frühstücken können. Der Blick in den Spiegel zeigte ihm, dass der leichte Sonnenbrand auf seiner Nase wieder abgeklungen war. Der Platz im Biergarten hatte nur einen Teil der Zeit im Schatten gelegen. Gestern war er seit langem mal wieder mit seiner Frau ins Kino gegangen. Der Artikel über das Zeitmanagement hatte ihn darauf gebracht.
Jorge warf einen kurzen Blick auf sein Smartphone. Immer noch keine Nachricht von Alex. Gestern hatte er x Nachrichten auf WhatsApp geschrieben und sogar dreimal auf dem Festnetz angerufen. Schließlich hatte er eine Botschaft auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, doch bislang hatten sich weder Alex noch Christine gerührt. Christine war Alex’ Lebensgefährtin. Jorge machte sich langsam wirklich Sorgen.
Beim Frühstück nutzte Lenya die Abwesenheit der Kinder für eine Grundsatzdiskussion. Ihre Tochter wünschte sich nämlich zum Geburtstag ein Smartphone mit Vertrag. Lenya war prinzipiell dafür, da sie so besser Kontakt zu ihrer 16-jährigen Tochter halten könne. Jorge war weniger überzeugt. Es war ja nicht so, dass Julia kein Smartphone hatte. Nur halt kein Smartphone mit Internetzugang auch unterwegs. Wo sollte das denn hinführen? Und was war mit Christoph? Müsste der dann nicht ähnlich bedacht werden? Christoph war nur 18 Monate jünger als Julia und würde sicherlich sofort ein ähnliches Smartphone haben wollen.
Es entspann sich eine Diskussion über die Frage, was eigentlich gerecht sei. Jorge fand es ungerecht, die beiden Kinder ungleich zu behandeln. Lenya erinnerte ihn jedoch an die Geschichte mit Julias Referat neulich. Als es um die Bewertung von Julias Leistung in der Schule ging, hatte er die Sache nämlich völlig anders gesehen. Julia hatte das Referat mit zwei anderen gehalten, die jedoch bei weitem nicht den gleichen Einsatz gezeigt hatten. Sie waren sich einig, dass das schöne Plakat einzig und allein Julia zu verdanken war. Alle drei hatten jedoch die gleiche Note bekommen. War das denn gerecht? Eher nicht. Andererseits, war es denn ger...