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Der Weg zu Cézanne: ,,Die Lehre der Sainte-Victoire" (1980)
THEMA UND STRUKTUR DER "LEHRE"
Eine Lehre ist immer eine Erleichterung.1
In der "Lehre der Sainte-Victoire" wandert der Ich-Erzähler unter dem Eindruck der Kunst Cézannes durch die Landschaft rund um die Montagen Sainte-Victoire in Südfrankreich, die das bevorzugte Objekt des Malers gewesen ist. Der Erzähler nähert sich der Montagne von Aix aus, überquert das dem Bergmassiv südlich vorgelagerte Hochplateau und hat dabei in Puylobier ein Erlebnis mit einem aggressiven Hund. Schließlich besteigt er von der Ortschaft Vauvenargues aus den Gipfel. Die ,,Kreise um die Sainte Victoire"2werden weitergezogen, und so wiederholt der Erzähler "Bergbesteigungen" im Kleinen in Paris und Berlin; er besucht seinen Vater in Norddeutschland und reist dann zusammen mit der Mantelnäherin D. erneut in die Provence, um abermals die Montagne zu erklimmen. Das Schlusskapitel erzählt eine Wanderung durch den Morzger Wald bei Salzburg.
Die Erzählung ist in neun Kapitel unterteilt, die teilweise wiederum in durch Absätze markierte Abschnitte gegliedert sind. Die reduzierte Handlung bildet einen Leitfaden, der den Bericht des Ich-Erzählers von seinen Wahrnehmungen in der Natur, seine Deutung der Kunst Cèzannes, seine schriftstellerische Entwicklung und sein Verhältnis zur Malerei sowie seine poetologischen Überlegungen durchzieht.3
Der Bericht von den verschiedenen Wanderungen ist natürlich keine zufällig gewählte Konstruktion zur Entfaltung des eigentlichen Themas. Das vor allem in der Romantik häufig verwendete Motiv des Wanderns kann auch in dieser Erzählung als Ausdruck der Suche, hier der Suche eines Schriftstellers nach Sinn und Form des Schreibens verstanden werden.4
DER MALER PAUL CÉZANNE
Cézanne
Bei ihm lernten
Felsen und Bäume
durchsichtig sein
Hügel aus Äther
unwiderruflich
Grüne Essenz
Grün
in blauer Haut
Der Umriß
die Helle innen:
Stoff ohne Schwerkraft.5
Paul Cèzanne (1839 - 1906), Male raus Aix-en-Provence, gilt neben George Seurat, Paul Gauguin und Vincent van Gogh als derjenige Künstler, der die ,,formalen und geistigen Grundlagen der Kunst unseres Jahrhunderts erarbeitet hat."6
Von 1882 bis 1890 befasste sich Cèzanne zum ersten Mal intensiv mit dem alles beherrschenden Bergrücken seiner Heimat, der Montagne Sainte-Victoire, zu Deutsch ,,Berg des heiligen Sieges". Um die 20 Arbeiten zeigen die Montagne Sainte-Victoire von dem südwestlich von Aix gelegenen Hof Bellevue aus, der seit den 80er-Jahren im Besitz der Schwester des Künstlers, Rose, und ihres Mannes Maxime Conil war.7In diesen frühen Bildern stellte Cézanne den Berg noch als Begrenzung einer weiten Ebene dar, womit er einer traditionellen, tiefenräumlichen Landschaftsmalerei verpflichtet blieb. Erst in den späteren Bildern der Montagne, die in einer erneuten Auseinandersetzung mit dem Motiv seit etwa 1900 entstanden, wurde der Bergrücken zum dominanten Element. Dabei versucht der Maler durch grobe, ineinander verzahnte Farbflecken nicht die tatsächlichen Farben und Formen wiederzugeben, sondern Farbeindrücke unterschiedlicher Bildzonen, Licht- und Schattenregionen zu beschreiben.
Die wiederholte Auseinandersetzung mit ein und demselben Motiv ist für Cèzannes gesamtes Schaffen charakteristisch. Wenn er in den letzten Lebensjahren immer wieder zur Montagne Sainte-Victoire zurückkehrt, so will er sich darauf konzentrieren, den Berg sehend zu erfassen. Dabei geht es ihm nicht darum, die Wirklichkeit zu kopieren, sondern ein bildnerisches Äquivalent für seinen Seheindruck zu schaffen.8Der Maler nennt das wahrnehmende Empfinden der Natur ein Lesen. Dieses Lesen bezieht sich auf eine Form des Sehens, die von Max Imdahl mit dem Begriff des ,,sehenden Sehens" im Unterschied zu ,,wiedererkennendem Gegenstandssehen"9gekennzeichnet worden ist:
,,Gemeint ist vielmehr das sehende Sehen als ein von allem Vorwissen oder von allen Gewißheiten aus nichtoptischen Erfahrungen weithin gereinigter Erkenntnisakt, als die in dem menschlichen Bewußtsein und für dasselbe sich vollziehende Hervorbringung der Welt ausschließlich in Rücksicht auf die sichtbare Erscheinung."10
Von den Impressionisten, vor allem von Pissaro, hat Cèzanne gelernt, dass Malerei nicht in der Übersetzung von imaginären Bildern in die Wirklichkeit besteht, sondern auf einem genauen Studium der Erscheinungen beruht, also mehr in der Natur als im Atelier zuhause ist. Doch die Impressionisten suchten nicht in erster Linie die Objekte, sondern die Atmosphäre, in welcher Objekte uns begegnen, darzustellen. Cèzanne geht noch einen Schritt weiter: Er möchte die Realität finden, ohne die Empfindungen aufzugeben, die Natur darstellen, ohne den unmittelbaren Eindruck zu verleugnen.
Farbeindrücke sind für ihn keine bloßen Lichtreflexe, sondern raumbildende Werte. Die Form des Gegenstandes ist für das Sehen kein an sich abgeschlossenes, vielmehr ergibt sich die Form aus der Modulation der Farbwerte, im Unterschied zur traditionellen Modellierung von Volumen durch Licht und Schatten. In den Bildern vom ,,Mont Saint-Victoire" setzt Cèzanne flächige Farbwerte, ohne jede abbildende Beziehung zur gesehenen Landschaft.11Anstelle der Linie als fester Umriss der Dinge tritt bei ihm die Farbe in den Vordergrund. Sie bringt die Form eines Gegenstandes zur Erfüllung.
Cèzannes Ziel ist also die Einigung beziehungsweise die Parallelität von Natur und Kunst. Auch für Handke spielt die Analogie als Erzählverfahren eine wichtige Rolle. Seine Orientierung an den künstlerischen Gestaltungsverfahren des Malers aus Aix stellt also den Versuch dar, analog oder - anders ausgedrückt - ,,parallel" zu arbeiten. Bereits in der Studie über den Maler Peter Pongratz macht Handke darauf aufmerksam, dass ,,die Schemata fürs Schreiben und Malen"12vergleichbar sind. Der Erzähler verfolgt aber bei seiner Beschreibung keine historische Linie, sondern er zielt auf eine philosophisch fundierte Erkenntnistheorie. Seine Deutung Cézannes zeigt eine Parallele zu einem kurzen Text Heideggers über den Maler.13Die ,,Lehre" versucht jenes ,,Eindringen in die Gefahr der äußersten Beziehung zu den einfachen Dingen",14das der Philosoph am Maler entdeckt. Dadurch wird das Schreiben in eine Nähe zu Cèzannes Malen gerückt, über das Heidegger ausführt:
,,Im Spätwerk des Malers ist die Zwiefalt
von Anwesenden und Anwesenheit einfältig geworden,
,,realisiert" u...