General Hausvater
eBook - ePub

General Hausvater

,Die Insel'', Internat der Inneren Mission, Celle

  1. 296 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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General Hausvater

,Die Insel'', Internat der Inneren Mission, Celle

Über dieses Buch

Ein Tatsachenbericht über die Zeit des Autors als Schüler im Internat "Die Insel" in Celle in den 1960-er Jahren. Er beschreibt die spürbaren pädagogischen Nachwirkungen der NS-Zeit.

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Information

ENDLICH SAMSTAG

Der Samstag war, wie ich schon mal sagte, ein besonderer Tag. Nicht nur, weil man in der Schule nur vier Stunden hatte, alles war irgendwie entspannter. Wohl auch, weil man endlich, wenn auch nur für einen Nachmittag, in die Freiheit entlassen wurde, vorausgesetzt man hatte keine Ausgangssperre wie ich schon so einige Male. Aber an diesem Wochenende sah es nicht danach aus. Während des Frühstücks konnte ich es kaum erwarten, dass ich endlich an der Amelungstraße in den Bus steigen und zur Schule fahren konnte. Alles ging mir viel zu langsam. Aber trotz aller Unruhe traf ich wie jeden Samstag kurz vor acht Uhr an der Schule ein. Ich hatte mich mit Birgit in der ersten großen Pause verabredet. Sie hatte auch nur vier Stunden, somit konnten wir gemeinsam nach der Schule in die Stadt fahren. Aber erstmal mussten wir die ersten zwei Schulstunden hinter uns bringen. Die große Pause kam, ich war aufgeregt. Ich wusste ja gar nicht, was auf mich zukam oder wie man so einen gemeinsamen Nachmittag mit wenig oder besser fast gar keinem Geld gestalten sollte. Ich traf mich mit Birgit auf dem Schulhof. Nun gingen wir gemeinsam um das Handballfeld, genau wie ich die Tage und Wochen schon vorher es mit meinen Klassenkameraden gemacht hatte, die mir jetzt entgegenkamen. Sie fragte mich, wann wir uns denn treffen könnten. Ich erklärte ihr, wie das bei uns mit den Essenszeiten und vor allem den Freizeiten im Allgemeinen aussah. Sie war entsetzt. Sie wollte nicht glauben, dass jemand so wenig freie Zeit für sich haben konnte. Ich beschrieb ihr den Tagesablauf an einem Samstag. Sie hatte eine sehr gute Idee: ,,Wenn du am Samstag länger bleiben kannst, dann sag doch, dass du zu meiner Oma gehst, die müssen ja nicht wissen, dass du mich besuchst.‘‘ Das war etwas ganz Neues für mich. Mit dieser Idee könnte ich mich nach dem Essen in die Reihe an den Tisch des Herrn stellen und sagen, ich gehe zu Birgits Oma und bleibe auch zum Abendbrot dort. Dann müsste ich erst um 22 Uhr wieder in der ,,Insel’’ erscheinen. Das war eine richtig gute Idee. Birgit sagte mir, dass ihre Oma Gums mit Nachnamen hieß, den Straßennamen wusste ich ja schon. Den Namen und die Adresse brauchte ich für das Ausgangsbuch. Ich war gespannt, was der Herr Ausgangsbuchchef sagen würde, wenn ich mich über das Abendbrot hinaus abmelden würde. Die Pause ging schnell um, die letzten beiden Stunden auch. Wir fuhren mit demselben Bus nach der Schule in die Stadt. Endstation Stechbahn. Susanne war natürlich auch dabei, sie musste ja alles begutachten. Wir hatten noch eine Stunde Zeit. Ich ging mit Birgit durch den Schlosspark, Susanne in die Stadt durch die Geschäfte. Birgit und ich überlegten, wie wir den Nachmittag verbringen wollten. Die Geschäfte machten mittags schon zu, also blieb nur Spazierengehen oder Eisdiele. Wir entschieden uns für beides. Kurz vor dreizehn Uhr trafen wir Susanne wieder an der Stechbahn. Ich verabschiedete mich ganz höflich von Birgit per Handschlag, Susanne ebenso. Ich würde Birgit ja schon um 15 Uhr wiedersehen, wir hatten uns an der Stechbahn verabredet. Unterwegs sagte Susanne mir, dass ihre Überprüfung der Dame positiv ausgefallen sei. Sie fand Birgit sehr nett.
In der ,,Insel’’ angekommen, brachten wir unsere Sachen ins Zimmer und gingen sofort zum Essen, immerhin waren wir ja beide verabredet, sie wollte wohl mit Detlef ins Kino gehen. Am Tisch wie immer am Samstag eine gelöste Stimmung, es ging ja für ein paar Stunden in die Freiheit. Der Eintopf war da nur Nebensache. Nach Pudding und Abschlussgebet standen die ersten schon am Tisch des Herrn, der das Ausgangsbuch aufschlug und mit den Eintragungen begann. Ich stellte mich in die Reihe. Susanne stand vor mir, ich wusste, bei ihr ging das Eintragen schnell. Wenn sie ins Kino gehen wollte, konnte sie lange Diskussionen nicht gut vertragen.
Jeder musste, wenn er bis zum Herrn vorgerückt war, sein Vorhaben laut kundtun, dann wurde es fein säuberlich eingetragen. Wenn man Glück hatte, geschah das ohne Kommentar. Ich hatte kein Glück. Als ich an der Reihe war und mein Anliegen vortrug, ,,Familie Gums, auch beim Abendessen nicht da‘‘, erhellte sich der Gesichtsausdruck des Oberbuchhalters. Mir war nicht ganz klar, womit ich ihm nun eine Freude bereitet hatte. Aber er ließ mit seiner Erklärung nicht lange auf sich warten: ,,Schüler Schneider geht zur Familie Bums!‘‘ Er lachte laut, sein Kopf war rot vor Lachen. Zum Glück war dieses Wort damals noch nicht so bedeutungsmäßig belegt, wie heute, sonst hätte ich auf diesen Witz verzichten müssen. Allerdings fand ich es damals auch nicht wirklich lustig. Weil es selten vorkam, dass der Herr ,,Insel’’-Oberbefehlshaber in meiner Gegenwart schallend lachte, waren natürlich alle aufmerksam geworden. ,,Familie Bums, Schüler Schneider geht zur Familie Bums. Das muss mir ja eine schöne Familie sein! Da bekommt er auch Abendbrot? Oder werden da Bomben gebastelt bei Familie Bums?‘‘ ,,Nein, wir basteln keine Bomben, die Familie heißt Gums, nicht Bums. Außerdem kennen sie ja meine Einstellung zu derart schwachsinnigen Gegenständen wie Bomben und Gewehren.‘‘ Sein Lachen hörte abrupt auf. Er wurde dienstlich. ,,Woher kennt er die Leute, Schüler Schneider?‘‘ ,,Von der Schule natürlich.‘‘ ,,Er ist also ein Mitschüler von ihm. Ich brauche die Adresse.‘‘ Damit er nicht auf die Idee kam, nach dem Namen des Mitschülers zu fragen, sagte ich ihm schnell die Anschrift, Bultstraße samt Hausnummer. Ich beobachtete, wie er mit sauberer Handschrift den Namen Gums samt Adresse eintrug. Ein Psychologe hat mal gesagt, jeder Mensch, egal wie er ist oder aussieht, hat irgendwas an sich, was sehr schön ist. Die Handschrift des Herrn Kinkelin war wirklich richtig schön, also zumindest wenn er schrieb. Das ganze Haus und die Erziehungsmethoden hier trugen ja auch seine Handschrift, das sah aber nicht so gut aus.
Er hatte mich abgearbeitet, der nächste war an der Reihe. Ich hatte bis 22 Uhr Ausgang, erst nach den Sommerferien konnte ich, dann 16 Jahre alt, bis 23 Uhr eintragen lassen. Susanne grinste mich an. ,,Das hast du ja gut hinbekommen! Aber mal ehrlich, der Nachname von der ist wirklich sehr lustig.‘‘ Ich musste sie aufklären, dass nur Birgits Oma so hieß, Birgit hatte einen anderen Nachnamen, nur wollte ich das dem Ausgangsbuchchef nicht sagen, falls er Nachforschungen anstellen würde. Ich verabschiedete mich von Susanne, wünschte ihr einen schönen Nachmittag und sauste nach oben, duschen und Haare waschen waren natürlich vor einer so wichtigen Verabredung unumgänglich. Giovanni war im Zimmer, er zog sich um. Ob er eine Freundin hatte, wusste ich nicht. Er hatte nach den Eskapaden mit seinen beiden Damen das Thema Frauen beziehungsweise Freundin nicht mehr angesprochen. Er wollte auch wohl in die Stadt. Wenn ich Glück hatte, würde ich von ihm mit Birgit zusammen gesehen. Dann könnte ich ihm beweisen, dass man auch mit meiner Frisur Mädchen kennenlernen kann. Allerdings würde er dann sofort petzen gehen, er musste ja irgendwie wieder Punkte beim General machen. Das Verhältnis zwischen beiden hatte anscheinend arg gelitten. Vielleicht war es doch besser, wenn ich ihn nicht traf. Pünktlich beziehungsweise viel zu früh fand ich mich an der Stechbahn ein. Ich setzte mich auf den Zaun an der Kirche, wo wir des Mittags auch immer saßen, wenn wir auf unseren Bus warteten. Im Volksmund wurde dieser Zaun die Hühnerleiter genannt, wir mussten wohl aussehen wie die Hühner auf der Stange. Jetzt war ich das einzige anwesende Huhn, aber so hatte ich einen guten Überblick über alle ankommenden Busse und die aussteigenden Fahrgäste.
Die Stechbahn war auch immer Treffpunkt für die damaligen Celler Rocker, alles Jungs so zwischen sechzehn und zwanzig Jahren, die irgendeiner Arbeit nachgingen, meistens auf dem Bau oder in anderen Handwerksberufen beschäftigt. Alle fuhren Mopeds, die meisten Kreidler Florett, die Jüngeren, also unter 18, durften nur Mopeds mit kleinem Nummernschild fahren. Allerdings fuhren diese Maschinchen nur 50 km in der Spitze. Die Älteren hatten Mopeds mit großem Nummernschild, dann fuhren sie 80 km/h. Immerhin sprach man hier von Motoren von 3,6 bis 6,25 PS. Allerdings war das nur die Theorie. In der Praxis sah es so aus, dass die kleinen Maschinen so um die 80 km/h fuhren und die großen Kreidler es auf 120 km/h brachten. Hatte ich schon erwähnt, dass auch einige der Rocker in Autowerkstätten arbeiteten? Natürlich wurde dann in der Freizeit an den Maschinen geschraubt und verändert. Wenn die Jungs in ihren schwarzen Lederjacken so im Haufen zusammenstanden, die Maschinen fein säuberlich in einer Reihe auf die Ständer gestellt, machten sie vor allem für einige ältere Mitbürger einen bedrohlichen Eindruck, obwohl sie nur auf der Stechbahn standen, rauchten und sich über ihre Maschinen unterhielten. Sie pöbelten keine Leute an, klauten nicht alten Omis ihre Handtaschen oder randalierten, zumindest habe ich es nie anders gehört. Trotzdem fragten sich die alten Leute mit Blick auf die vermeintlichen Rocker, wie das wohl alles weiter gehen solle. Dabei war alles sehr erträglich, wenn die Jungs ihre Maschinen nicht bewegten. Sobald die Kickstarter getreten wurden, ein unangenehmes Geknatter losging und die Luft durch blaue Zweitaktwolken total verpestet wurde, konnte man froh sein, wenn endlich der letzte Rocker in der Marktstraße verschwand. Allerdings machten sie meistens nur eine kleine Runde, das hieß, sie fuhren am Markt links, bogen in die Kanzleistraße ein, dann runter bis zum Schloss, dann weiter bis zum Großen Plan, links in die Poststraße rein und kamen nach nicht einmal fünf Minuten wieder an der Stechbahn an, wo ihre Maschinen in der Reihenfolge ihres Eintreffens nebeneinander aufgestellt wurden, alles wie gehabt. Damals hatte die Innenstadt von Celle sehr viele Einbahnstraßen, alle führten unweigerlich immer auf die Stechbahn. Die Jungs hatten also gar nicht viele Möglichkeiten, sich und ihre Maschinen mal einem breiteren Publikum zu präsentieren. Also brachen sie nach kurzer Zigarettenpause zu einer neuen Runde durch Celles Innenstadt auf.
Ich sah, dass der Bus aus Richtung Hannoversche Straße schon beim Kaufhaus Kepa vor der roten Ampel stand. Da kamen mir zum ersten Mal Bedenken, ob Birgit auch wirklich kommen würde. Diese Möglichkeit hatte ich bis dahin noch gar nicht in Erwägung gezogen. Als der Bus hielt und sich die Tür öffnete, stieg sie als erste aus, ich war erleichtert. Wir hatten den ganzen Nachmittag für uns, konnten machen was wir wollten, allerdings mit der Einschränkung, dass es nicht viel kosten durfte. Es war Mai, es war warm, also entschlossen wir uns, erstmal einen ausgiebigen Spaziergang zu machen. Wir gingen die Zöllnerstraße runter, am Heiligen Kreuz rechts in Richtung Steintor. So kamen wir an die Aller, waren mitten im Grünen und, was ganz wichtig war, völlig allein. Wir redeten viel und stellten fest, dass wir eigentlich in der gleichen Situation waren. Wir waren beide irgendwie auf uns gestellt, unsere Eltern kümmerten sich nicht wirklich um uns, wir waren beide nicht in einer normalen Familiensituation, wobei sie nie von ihrem Vater sprach, er war nie existent. Unser Leben, wie wir es führen mussten, verband uns. Aber heute, so erzählte sie, würde ihre Mutter kommen, wohl extra, weil ich zum Abendbrot da sein würde und sie wissen wollte, mit wem sich ihre Tochter abgibt, immerhin war sie erst 14, erst im September hatte sie Geburtstag.
Die Zeit verging viel zu schnell, das Silentium dauerte gefühlt immer viel länger. Um 18 Uhr hatte Birgits Oma den Tisch gedeckt, also war es besser, wenn wir uns eine halbe Stunde vorher an der Stechbahn mit dem Bus in Richtung Bultstraße in Bewegung setzten. Der Bus hielt genau vor dem Haus an der Ecke Bultstraße/Steffensstraße, also kamen wir pünktlich bei Frau Gums an. Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht nervös war, als Birgit die Wohnungstür aufschloss. Ihre Oma und Mutter kamen uns auf dem Flur entgegen. Irgendwie hatte ich das Gefühl als würde jetzt mit mir das gemacht, was Susanne schon bei Birgit am Mittag gemacht hatte, ich wurde begutachtet. Birgit stellte uns vor. Ihre Oma war eine kleine zierliche Frau mit der für ältere Damen damals üblichen Dauerwellenfrisur, ihr Blick war sehr streng. Sie befürchtete wohl, dass sowohl ihre erzieherische Verantwortung als auch ihre erzieherischen Maßnahmen gegenüber ihrer Enkeltochter durch mich in ungeahnte Höhen würde steigen müssen. Ihre Mutter war eine freundliche schlanke Frau mit schwarzen halblangen Haaren, etwas größer als ihre Tochter, aber auch sehr hübsch.
Das Haus war wohl in den dreißiger Jahren gebaut worden, die Decken etwas höher als heutzutage, die Aufteilung klassisch, ein langer Flur, als erstes Zimmer links war Birgits Zimmer, dann kam das Esszimmer und, verbunden durch eine doppelflügelige Holz-Glas-Tür, das Wohnzimmer, geradeaus ging es in das Schlafzimmer der Oma, daran anschließend auf der rechten Seite das Badezimmer und dann zum Schluss gleich am Eingang rechts die Küche mit einer Speisekammer und einem Balkon. Gekocht wurde mit Gas. Im Esszimmer war der Abendbrottisch gedeckt, es gab eigentlich das gleiche zu essen wie in der ,,Insel’’, nur alles ein bisschen besser. Und eine Tischdecke hatten wir im Internat natürlich auch nicht. Jeder nahm sich eine Scheibe Brot, ich nahm mir Butter, begann meine Scheibe damit zu bestreichen und beantwortete die ersten Fragen. Natürlich war die erste Frage, warum ich im Internat sei und nicht zu Hause zur Schule gehe. Nun hieß es wachsam sein. Ich konnte nicht gut sagen dass meine Eltern sich nur stritten und uns nicht unbedingt bei sich haben konnten. Das wäre zu problembehaftet gewesen, wahrscheinlich hätte ich dann Birgit gar nicht mehr sehen dürfen. So erzählte ich ihnen, dass mein Vater Leiter vom Bauamt (das war schon mal ein Pluspunkt, höherer Beamter) des kleinen Landkreises Bersenbrück sei, dort die Schulsituation sehr umständlich mit langen Schulwegen verbunden sei und man darum beschlossen hatte, mich und meine Schwester in ein Internat zu schicken, um die Schulsituation zu entschärfen. Ich war stolz auf mich. Das hatte ich so toll erklärt, ich schmierte mir mein Brot und aß gesittet mit Messer und Gabel. Nur irgendetwas irritierte ich. Ich beobachtete meine drei Damen. Was taten sie und ich nicht, oder besser gesagt, was tat ich und sie taten es nicht. Jetzt fiel es mir auf, sie alle hatten eine Scheibe Brot auf dem Teller. Ok, das hatte ich auch. Der Unterschied war, dass meine Scheibe schon belegt und schon angeschnitten war, ihre noch nicht. Zugegeben, das Messer der alten Dame kam mir schon etwas stumpf vor, aber das hatte ich beim Durchtrennen der Kruste mit Kraft und Geschicklichkeit auszugleichen gewusst. Ich sah wahrscheinlich etwas hilflos Birgit an, die neben mir saß. Freundlich sah sie mich an: ,,Können wir auch mal das Buttermesser haben?‘‘ fragte sie nett. Mein Gott, ein Buttermesser, wer um alles in der Welt benutzt ein Buttermesser? Außer mir anscheinend alle. Vielleicht sollte ich das mal in der ,,Insel’’ einführen. Nun hatte ich mir soviel Mühe gegeben, Mutter und Oma von Birgit klar zu machen, dass ich aus gutem Hause komme, einem Höheren-Beamten-Haushalt, da passiert mir so ein Missgeschick mit einem Buttermesser. Aber ich rettete die Situation mit der Feststellung: ,,Oh, ich habe ja zwei Messer an meinem Teller‘‘, und legte das Buttermesser wieder an seinen Platz, woraufhin die anderen Scheiben schnell geschmiert wurden. Nun konnte das Gespräch fortgesetzt werden. Jetzt wollten alle auch wissen, wie es denn in so einem Internat ist, wie man dort lebt. Natürlich sagte ich nichts von meinen Querelen mit dem Herrn Hausgeistlichen, ich wollte kein schlechtes Licht auf mich geworfen wissen. Aber ich sprach den Punkt Ausgang sehr ausführlich an in der Hoffnung, nun in den Gesichtern Entsetzen zu sehen. Aber weit gefehlt. Das war ein Punkt, den Mutter und Oma sehr beruhigend fanden. Somit war ihrer Tochter schon vom Internat her der tägliche Umgang mit mir untersagt. Nach dieser Information und dem Wissen, dass ich der Sohn eines höheren Beamten bin, wurde das Gespräch entspannter.
Nach dem Essen räumten wir alle den Tisch ab, das kannte ich ja nun von den Mahlzeiten im Internat, eine leichte Übung für mich, auch wenn es im Internat beim Tische abräumen manchmal etwas rauer zuging. Birgit wollte nach dem Essen nochmal nach draußen, sie wollte mir etwas sehr Schönes zeigen, wie sie sagte. Ich war gespannt, was es in der Nähe der Bultstraße so Sehenswertes geben sollte. Wir bogen in die Steffensstraße ein, rechts in die Nordmeyerstraße bis zur Spörckenstraße. Nach nicht einmal 100 Metern standen wir vor einem Sandweg, der quer durch Celle verlief, den Fohlenweg. Dort konnte man lange spazieren gehen, man konnte auf Bänken verweilen und von dort sich die Landschaft anschauen oder andere schöne Dinge tun. Gleich am Beginn machte der Fohlenweg eine scharfe Rechtskurve. In dieser Kurve stand links unter hohen Bäumen eine Bank, wie unter einer Laube. Dort konnte man sogar bei Regen sitzen, wenn man keine andere Möglichkeit eines schützenden Daches hatte. Das sollte unsere Bank werden. Schön war, dass so wenige Leute den Weg benutzten. Wir gingen den Weg noch weiter runter, manchmal mussten wir eine Straße überqueren, dann setzte sich der Sandweg aber weiter fort. Wir waren lange unterwegs, sodass wir erst um 21 Uhr wieder bei Birgits Oma eintrafen, die sehr froh war, dass ihre Enkeltochter wohlbehalten wieder zu Hause war. Birgits Mutter war auch froh, dass sie wieder zu Hause war, allerdings dachte sie da wohl mehr an sich, denn an dem Abend habe ich sie nicht mehr gesehen, sie war schon wieder nach Hannover gefahren.
Da ich die Wegstrecke zwischen der ,,Insel’’ und der Bultstraße zeitlich noch nicht so einschätzen konnte, ging ich lieber etwas früher zum Internat zurück. Ich wollte die Strecke zu Fuß zurücklegen, weil ich mir dachte, dass der Bus, wenn er mich erst zur Stechbahn bringt und dann zur Amelungstraße, etwas länger brauchen würde. Kurz nach 21 Uhr machte ich mich auf den Rückweg. Birgit wollte mich noch ein Stück begleiten, was mir auch ganz lieb war, denn den Weg war ich noch nie zu Fuß gegangen. Das wäre das Schlimmste, was mir noch hätte passieren können, wenn ich mich verlaufen hätte. Dann hätte es am nächsten Morgen beim Frühstück geheißen: ,,Schüler Schneider hat sich gestern Abend auf dem Rückweg von Familie Bums in Celle verlaufen!‘‘ Herr Kinkelin hätte in diesem Fall mit Sicherheit viele Lacher gehabt.
Birgit und ich unterhielten uns die ganze Zeit, bis wir am Lauensteinplatz standen und ich feststellen musste, dass Birgit die ganze Wegstrecke mitgekommen war und sie nun alles allein wieder zurück laufen musste. Am Lauensteinplatz verabschiedeten wir uns endgültig. Der Abschied fiel uns nicht so schwer, immerhin sahen wir uns am morgigen Sonntag nach dem Mittagessen schon wieder.
Wohlgelaunt kam ich in der ,,Insel’’ an. Im Essenssaal lag das Ausgangsbuch, in das man sich nach seiner Heimkehr wieder eintragen musste, damit niemand verloren ging. Der Herr Oberbefehlshaber stand am Tisch. Als er mich erblickte, legte er sofort wieder seine Witzplatte auf: ,,Schüler Schneider, ist er wieder wohlbehalten eingetroffen? Dann kann der Bums ja nicht sehr stark gewesen sein!‘‘ Ich hörte gar nicht zu, war nur froh, dass der Oberhirte des ,,Insel’’staates gute Laune hatte. Ich trug mich als zurückgekommen mit Uhrzeit ein und wollte nach oben in mein Zimmer gehen, als mir Giovanni auf der Treppe entgegen kam. ,,Na, hat es ordentlich gebumst? Du warst ja bei Familie Bums‘‘, grinste er höhnisch. Es schien so, als würde Giovanni wieder in sein altes Muster zurückfallen und überheblich werden. Ich achtete gar nicht auf sein Gerede und ging ins Zimmer, ich wollte nur noch ins Bett und schnell schlafen, ich hatte viel zu viele schöne Gedanken im Kopf als mich über meinen Zimmergenossen in irgendeiner Weise zu ärgern. Aber vorher noch der abendliche Weg in den Waschraum, in dem es immer nach Zigarettenqualm stank, weil der Raucherraum sich gleich nebenan befand. Es kam vor, dass sich in dem Raum drei Jungen befanden, aber nur eine Zigarette, die dann nach Art der Friedenspfeife von einem zum anderen wanderte und jeder einen langen Zug nahm. Das war zwar nicht sehr hygienisch, befriedigte aber anscheinend die Nikotinsucht der Mitinsassen. Nach einer schnellen Katzenwäsche wollte ich nur noch ins Bett.
Nachdem der Samstagnachmittag so schön verlaufen war, konnte ich den nächsten Tag kaum erwarten. Als Giovanni auch in sein Bett kriechen wollte, hatte ich mir schon die Decke über den Kopf gezogen und freute mich auf den kommenden Tag. Ich hatte endlich jemanden, dem ich nicht egal war und der sich um mich Gedanken machte. Ich konnte an dem Abend nicht gut einschlafen, in Gedanken plante ich schon, was wir unternehmen könnten. So ganz viel Auswahl hatten wir ja nicht. Aber wir waren mobil, das heißt, wir hatten beide eine Monatskarte für den Stadtbus, wir konnten also in dem Bereich hinfahren wo es uns beliebte.
Endlich der nächste Morgen. Vor dem Frühstück wie im Allgemeinen jeden Tag und im Besonderen am Sonntag die Morgenandacht. Pfarrer Kinkelin stand hinter seinem Stuhl. Am Anfang ein Lied, von ihm angesagt. Die Schüler sangen kräftig mit, nachdem Kurt-Heinrich den Ton angegeben hatte. Ich war schon damals ein sehr pragmatischer Mensch. Da ich sowieso nicht mitsang, nahm ich mir auch kein Gesangbuch mit zum Tisch. Somit wurde das Buch auch gehörig geschont. Meine Gedanken waren nicht bei frommen Liedern, sondern gingen in eine ganz andere Richtung. Ich plante immer noch den Nachmittag. Herr Kinkelin ließ mich gewähren. Für ihn stand ich nur teilnahmslos hinter meinem Stuhl, meine Gedanken lesen konnte er noch nicht.
Nach dem Frühstück wurde der Essensraum wieder zur Kirche. Ich war dieses Mal nicht an der Reihe. Ich ging in mein Zimmer und holte meine Gitarre raus, ich hatte mir ein paar Noten besorgt und wollte diese Sachen durchspielen, Giovannis negatives Gerede diesbezüglich ignorierend. Er kam nur kurz rein, holte seine Jacke und verschwand wieder, ich hatte freie Fahrt. Da unter mir im Essensraum gesungen wurde, passte es ja, dass auch ich Musik machte. Auf die Entfernung und m...

Inhaltsverzeichnis

  1. Widmung
  2. Inhaltsverzeichnis
  3. Vorwort
  4. Die Entscheidung
  5. Einzug in die ,,Insel’’
  6. Mein Zimmer
  7. Das erste Abendbrot
  8. Die erste Auseinandersetzung
  9. Eine neue Auseinandersetzung
  10. Ein rettender Einfall mit Konsequenzen
  11. Ärger mit einem Brief
  12. Das erste Wochenende
  13. Mein erster Sonntag in Celle
  14. Olli lüftet ein Schreckliches Geheimnis
  15. Der Heilige Geist erscheint
  16. Olli bringt sich in Schwierigkeiten
  17. Unerwartete Wende
  18. Herr Kinkelin will mir eine Freude bereiten
  19. Herr Kinkelin macht mir noch eine Freude
  20. Mein erster Faschingsabend in der ,,Insel’’
  21. Ein nächtliches Abenteuer
  22. Eine große Veränderung
  23. Giovanni zeigt mir ein Kunststück
  24. Rache an Giovanni
  25. Giovanni bekommt Probleme
  26. Eine Einladung
  27. Fazit vor den Ferien
  28. Osterferien
  29. Das neue Schuljahr beginnt
  30. Unser erstes gemeinsames Abendessen
  31. Der lange Larry
  32. Herr Kinkelin macht eine neue Baustelle auf
  33. Eine ganz neue Situation
  34. Endlich Samstag
  35. Herr Löser rastet aus
  36. Giovanni bringt sich selbst zur Strecke
  37. Weihnachtspost
  38. Ein neues Jahr beginnt
  39. Und wieder haben wir Karneval
  40. Polizeieinsatz
  41. Der nächste Polizeieinsatz
  42. Krank in der ,,Insel‘‘
  43. Die vergessenen Kinder von Celle
  44. Leben heißt Veränderung
  45. Mit Essen spielt man nicht
  46. Noch einmal Hannover
  47. Schon wieder eine Feier
  48. Ich lerne vikarische Gepflogenheiten kennen
  49. Endspurt
  50. Am schönen Rhein
  51. Die letzte Überraschung
  52. Schulabschluss
  53. Das Ende
  54. Nachwort
  55. Bildergalerie
  56. Impressum