II
TAG EINS
Fibi
Auf einer Skala von eins bis zehn bekam Aram eine Sieben. An guten Tagen eine Acht, und mehr als acht vergab Fibi nicht. Ed Sheeran oder Henning May waren eine Neun oder Zehn, aber aus ihrem Umfeld kam niemand auf mehr als acht. An schlechten Tagen war Aram immer noch ne Fünf, und sogar als er Dennis Kröger anrempelte, woraufhin ein halber Becher Cola auf Fibis Klamotten landete und Aram nur lachte, war er noch vier. Jeder andere wäre für so was bei zwei oder eins. Aram lachte sie nicht aus, sondern er lachte, weil er das rabiat nicht gewollt hatte. Sein Lachen war eins von der Sorte: Mensch, Fibi, Coladusche, willst du da nicht drüber lachen? Komm, ich lach schon mal, dann fällts dir leichter. Sie lachte zwar nicht, aber schlechter als vier konnte sie ihm nun auch nicht mehr geben.
Weil er das rabiat nicht gewollt hatte. Fibi merkte, dass sie schon anfing zu denken, wie Aram redete. Rabiat kam in jedem zweiten Satz vor, zumindest bei ihren Lifehack-Videos. Rabiat gebrauchte er rabiat oft. Ließ sich ja auch rabiat gut verwenden. Manchmal sagte er auch Ich krieg n Eisprung! oder nur Eisprung!, wenn er geplättet war. Diese Wendung benutzte Fibi nicht. Könnte missverstanden werden.
Das mit den Lifehack-Videos war Fibis Idee. Sie war bei YouTube mal in dieser Lifehack-Ecke kleben geblieben. Dein Schnürsenkel ist gerissen? Kein Ersatz? Zieh ihn raus und fädele ihn neu ein, aber lass die unteren Ösen frei – und schon passt der Schnürsenkel wieder. Mann, vier Millionen Leute klickten das!
Aram war der Einzige, der mitmachte. Der Einzige, der überhaupt begriff, worum es ging. Pina sagte nur: »Und was soll das bringen?« und guckte, als hätte Fibi eine Einladung zum Krötenlecken überbracht. Cleo war genau so eine Schlaftablette. »Ich versteh den Witz nicht!«, sagte sie, und weil es Fibi sinnlos fand, einen Witz zu erklären, war Cleos Chance auf vier Millionen Klicks dahin. Selbst Shaima, die Syrerin, über die Fibi wusste, dass sie sich mal für eine AG Bildbearbeitung eingetragen hatte, als Einzige, weshalb die AG dann auch ausfiel, gab ihr einen Korb: »Muss meiner Familie helfen.« Aram sagte gleich: »Nehm ich volley. Morgen?«
Am nächsten Tag hatten sie im Lidl den ersten Lifehack gedreht. Aram machte die Stimme aus dem Hintergrund, gab den scheißklugen Kommentator.
Du kennst das. Du hast rabiat viel eingekauft. Deine Tüte reißt gleich.
Aram filmte Fibi beim Packen hinter der Kasse. Als die Einkaufstüte knallvoll war, hob Fibi die Tüte an, bemerkte ihr Gewicht und schaute in die Kamera. Ihr Blick ein Hilfeschrei.
Die Lösung ist rabiat einfach, sagt die Stimme von Aram. Du musst untergreifen.
Fibi hebt die Tüte vor ihren Körper, fasst sie mit einem Arm unter und verlässt strahlend den Supermarkt.
Das war als »Mecklenburgische Lifehacks I« auf YouTube zu sehen, noch am gleichen Tag. Volley.
Nach vier Tagen hatten sie dafür zweihundertsiebzehn Klicks. Aram errechnete, dass sie in ungefähr zweihundert Jahren die Viermillionengrenze knacken. Also wurde die Reihe in »Rabiate Lifehacks« umbenannt, was die Klickzahlen binnen einer Woche rabiat hochtrieb: Vier Millionen Klicks waren nun schon nach siebzig Jahren zu erwarten.
Der nächste Lifehack ging ums Ungestörtsein. Du kennst das. Du bist in deinem Zimmer und willst auf keinen Fall erwischt werden.
Nun musste der Film was Entsprechendes zeigen. Aram wollte Kiffen zeigen, hatte aber kein Zigarettenpapier, keinen Tabak, kein Gras. Fibi hatte die Idee, dass man sich ja auch beim Rumknutschen und Rummachen nicht erwischen lassen will.
»Wir knutschen rum, und ich soll das gleichzeitig filmen?«, fragte Aram. Fibi hatte mal gehört, dass Männer – demzufolge auch Jungs – schon seit der Steinzeit behindert waren und nicht mehrere Dinge gleichzeitig tun können. Dafür gabs sogar einen Fachbegriff, allerdings hatte Fibi den vergessen. Aber rumzuknutschen und das gleichzeitig zu filmen war Aram schon rein wissenschaftlich unmöglich. Also ließen sie es. Dafür fand Fibi etwas Papier, mit dem sich etwas Jointähnliches bauen ließ. Aram filmte, wie sich Fibi den Joint gerade anzünden wollte, dann aber jemanden kommen hörte (der Film zeigt Aram von hinten, der entschlossen Stufen emporstapft). Fibi machte das Feuerzeug rasch aus, ließ es mit dem Joint unauffällig verschwinden, und als die Tür aufging, lächelte sie scheinheilig.
Die Lösung ist rabiat einfach – schließ dein Zimmer ab! Und nun …
Der Film zeigt eine Hand, die an der Türklinke rüttelt und gegen die Tür schlägt.
… brauchst du nur noch eine rabiate Ausrede.
Fibi sitzt entspannt rauchend auf ihrem Bett und ruft: »Ich bastle gerade dein Geburtstagsgeschenk, das soll ne Überraschung sein!«
Mit diesem Lifehack kamen sie binnen drei Wochen auf eine fünfstellige Klickzahl, was bedeutete, dass sie jetzt nur zehn Jahre für vier Millionen brauchen werden. Worauf Aram sagte:
»Mach was mit Drogen, und die Klicks gehen rabiat durch die Decke.«
So einer war Aram.
Aram war bestimmt bei der Achtundachtzig; er hatte in drei Tagen sein Probetraining. Die Achtundachtzig war in der Schweinezucht, die schon vor Jahrzehnten stillgelegt, aber nie abgerissen worden war; irgendjemand hatte inzwischen eine Achtundachtzig an die Betonplatten gesprayt, an denen früher die Silage abgekippt wurde. Vor den Betonplatten war eine ebene Hoffläche, und Aram schoss auf die Achtundachtzig, das heißt, jede Acht stellte mit ihrem oberen und unteren Kreis zwei Zielscheiben dar, und so hatte er vier Zielscheiben, die er aus etwa zwanzig Metern, oben rechts beginnend und entgegen dem Uhrzeigersinn, zu treffen versuchte, und zwar mit Karacho. Ein Treffer zählte nur, wenn der Ball von der Wand in hohem Bogen zurückflog; was den Boden berührte, kam nicht in die Wertung.
Als Aram vor drei Jahren das erste Mal an der Achtundachtzig trainierte, brauchte er für zwanzig Treffer über zwei Stunden. Inzwischen kam er, wenn Arams Vater sagte, »Aram, gehste noch für hundert Dinger an die Achtundachtzig«, keine Stunde später zurück.
Dass Aram an der Achtundachtzig war, konnte Fibi von Weitem hören. Der Ball an den Betonplatten ergab jedes Mal einen dumpfen Klatsch. Fibi wusste, dass sie Aram nicht von seinem Pensum abhalten konnte, sondern zuschauen musste, bis er fertig war. Er hatte den Klicker, der vom Aussehen an ein Zahlenschloss erinnerte und der bei jedem Draufdrücken klickte. Damit zählte er seine Treffer.
Aram spielte in Turnschuhen, halblangen Tarnfarben-Cargohosen und mit freiem Oberkörper. Sein T-Shirt hing überm Fahrradsattel.
»Klicker?«, fragte Fibi.
»Fünfundachtzig«, sagte Aram, ballerte den Ball an die Wand, in den oberen Kreis der hinteren Acht – und es klickte wieder.
»Bis wohin machste?«, fragte Fibi.
»Bis hundert«, sagte Aram.
Das war ja mal ne gute Nachricht. In nicht mal zehn Minuten ist er fertig.
Arams Acht hatte zuletzt gewackelt. Weil er glaubte, die hohen Klickzahlen seien dem Joint zu verdanken, wollte er nur noch Lifehacks machen, die irgendwie mit Drogen zu tun hatten. »Rabiat volley.« Fibi sah das nicht so eng. Aber bei ihrem nächsten Lifehack, bei dem es um einen kippelnden Tisch gehen sollte (wogegen gefaltetes Papier hilft), meuterte Aram, weil das »rabiat drogenfrei« und deshalb langweilig ist. »Wenn was rabiat drogenfrei ist, dann bist du das«, hatte Fibi erwidert, und das stimmte sogar, denn Aram hielt wegen seiner angepeilten Profikarriere seinen Körper in einem naturbelassenen, absolut giftfreien Zustand. Als in der Mannschaft erste Komasaufberichte kursierten, erklärte Aram, dass er keinen Alkohol trinkt, weswegen ihn ein Spielervater fragte, ob er Moslem sei. Hier in der Gegend hieß man Nick, Dennis, Justus, Markus oder René, da klang Aram wie die Abkürzung von arabischer Mann. Aram, der gerade von einer Berlin-Klassenfahrt zurück war, sagte angeblich dem Spielervater rabiat Ghettodeutsch: »Seh isch aus wie einer, der sein Arsch in Richtung Mekka hält?«
War möglich, dass die Geschichte stimmte, denn Aram war wirklich schlagfertig. Als Fibi seinen Namen noch nicht kannte, hatte er auf dem Schulhof eine Coladose in Richtung Papierkorb gekickt, und nur weil Fibi den Kopf einzog, wurde sie nicht getroffen. Die Geographielehrerin, Frau Tinkervild, hatte das gesehen und gesagt: »Ich bin entsetzt!« Worauf Aram erwiderte: »Ich bin Aram.« Seitdem wusste Fibi, wie er heißt.
Nachdem Fibi den Klicker noch einige Male gehört hatte, verstaute Aram den Ball in einem Fass, wo er nicht gleich gefunden wird, sollte sich mal jemand hierher verirren. Mit seinem Training war er durch.
»Was geht?«, fragte er.
»Wegen dem Lifehack mit dem Tisch«, sagte Fibi. »Ich hab n T-Shirt bestellt, mit nem großen Cannabisblatt drauf.«
Aram starrte sie an. Schwer zu sagen, ob er das jetzt gut oder bescheuert fand.
»Du siehst doch als Allererstes immer ein Bild aus dem Filmchen«, sagte Fibi. »Und wenn man mich sieht, mit nem Cannabis-T-Shirt …«
»Ich krieg n Eisprung!«, sagte Aram. »Nehmen wir volley!«
»Geht nicht«, sagte Fibi. »Das T-Shirt kommt erst am Freitag. Oder hast du so eins?«
Er machte eine Armbewegung, als ob er Konfetti in die Luft schmeißt. Sollte wohl Nein heißen. Typisch Aram. Immer die Stadionshow. Nie unplugged.
»Und jetzt?«, fragte er und radelte langsam los.
»Weiß nicht«, sagte Fibi und radelte hinterher.
Einer der Gründe, weshalb Aram eine Sieben, aber eigentlich eine Acht war: Aram hatte Ideen. Zwar waren sie oft Gulli. Aber immer noch besser als keine Idee.
»Wir können ja zur Sechsundneunzig«, sagte er, was schon mal klang wie der Auftakt zu einer Gulli-Idee. »Wenn ein Auto kommt, stellen wir uns auf die Straße, und wenn Bremsen quietschen – rabiater Hechtsprung.«
Die Stelle, an die Aram dachte, war echt fies. Fibis Vater hatte dort fast einen Radfahrer überfahren, und zehn Minuten später stand sie, Hand in Hand mit Aram, an dieser Stelle, und sie fand, hier ist ja gar nichts los, aber das war schon okay so, denn je länger kein Auto kam, desto länger hielt sie Arams Hand, oder er ihre, und dann sah sie ihm in die Augen, und dann fand sie, jetzt soll mal ein Auto kommen, sonst wird das hier noch liebesfilmpeinlich, denn auch Aram schaute ihr in die Augen.
Fibi riss sich von seiner Hand los, als sie von Weitem ein Auto hörte, und lief auf die Straße, doch als das Auto hupte, ließ sie sich fallen, kullerte in den Straßengraben und lachte. Aram stand noch auf der Straße, die Augen fest geschlossen, und er hielt sich sogar die Ohren zu. Das Auto – eine schwarze Riesenkiste – hupte und blinkte mit der Lichthupe, was völliger Blödsinn war, denn Aram hatte seine Augen ja zu. Aber der Fahrer dachte gar nicht daran, auf die Bremse zu gehen. »Aram!«, schrie Fibi – und im letzten Moment hechtete Aram in den Straßengraben. Auch er lachte, und als die schwarze Riesenkiste vorbeifuhr, sah er, dass der Fahrer zum Handy griff.
»Haste gesehen!«, rief Aram. »Der ruft jetzt die Hotline an, und dann geht ne Eilmeldung raus, ›Vorsicht an alle Autofahrer, rabiat geistesgestörte Jugendliche auf der Sechsundneunzig!‹ Wir kommen ins Radio!«
»Als geistesgestörte Jugendliche, na toll!«, sagte Fibi.
Sie machte noch ein paar Mutproben mit Aram, die sie mit dem Ha...