Schritt für Schritt durch die Rauhnächte
»Um der Zukunft willen soll der Mensch
die Vergangenheit hochhalten,
sie soll ihm heiligen die Gegenwart.«
JEREMIAS GOTTHELF
Viel haben wir nun schon von den Ursprüngen der Rauhnächte erfahren und von den wilden Wesen, die in ihnen umgehen. Wir haben Schutzzauber kennengelernt und uralten Bräuchen nachgespürt. Wir können uns viel besser in das Leben der Ahnen und in die Wurzeln der einzelnen Bräuche hineinfühlen und erkennen große Gesamtzusammenhänge.
Mit all diesem Wissen ist es nun an der Zeit, die einzelnen Rauhnächte genauer zu erkunden. Welche Hintergründe liegen ihnen zugrunde, welche besonderen Möglichkeiten in Bezug auf Orakel und Rituale bieten sie und welche alten Brauchtümer sind noch in ihnen enthalten? Bei der Nachforschung zu den unterschiedlichen alten Bräuchen und Orakeln, welche sich auf die jeweiligen Tage beziehen, zeigte sich eine unglaubliche Fülle. Es kann sich hier also nicht annähernd um eine vollständige Aufzählung handeln, vielmehr wurden unterschiedliche Bräuche aus verschiedenen Regionen ausgewählt, um die enorme Vielfalt erkennbar zu machen.
Im Anschluss wird jeweils ein Vorschlag zur Gestaltung des Tages, oder ein Tagesthema aufgeführt, manchmal ergibt sich daraus auch die Anregung für ein Ritual. Dies kann aber beliebig gehalten und nach dem gerade gegenwärtigen Gefühl entschieden werden.
Abgerundet werden diese Kapitel von einem Märchen oder einer althergebrachten Sage, die zu der jeweiligen Nacht passen.
Zu Beginn, und sozusagen als Schwelle zu den eigentlichen Rauhnächten, wird die Thomasnacht vom 20. auf den 21. Dezember angeführt. Es wurde bereits geschildert, dass sie in manchen Gegenden zu den Rauhnächten zählt, in anderen Überlieferungen eher ein »Türöffner« ist. Auf jeden Fall ist die Nacht der Wintersonnwende eine außergewöhnliche und kraftvolle Nacht, in der sich viele alte Bräuche und Orakelmöglichkeiten bewahrt haben.
THOMASNACHT
(1. RAUHNACHT/SCHWELLENNACHT/
UNGERADE RAUHNACHT)
20./21. DEZEMBER/TAG 21. DEZEMBER
Bereits im Kapitel »Wie viele Rauhnächte gibt es?« wurde erläutert, dass es verschiedene Zählweisen gibt. Wird die Thomasnacht dazugezählt, sind es insgesamt 13 Rauhnächte. Wird die Christnacht als erste Nacht gewertet, kommt man auf zwölf Nächte. Hier wird die Variante der 13 Nächte in Klammern angeführt.
Namenstag/Name des Tages: hl. Thomas/Thomastag
Andere Namen: Thomasnacht/»Rumpelnacht« (in Bayern)
Empfehlung für eine Räuchermischung: 1 Teil Salbei/2 Teile Holunderrinde
Bauernregel: »Wenn Sankt Thomas dunkel war, gibt’s ein schönes neues Jahr.«
Bauernweisheit: Am Thomastag sollte der Braten für Heiligabend geschlachtet werden./Allgemein ein guter Schlachttag.
HISTORISCHE HINTERGRÜNDE
Am 21.12. ist in der evangelischen und anglikanischen Kirche, seit 1970 jedoch nicht mehr in der römisch-katholischen Kirche, der Gedenktag des Apostels Thomas, eines der zwölf Jünger Jesu. Im römischen Generalkalender wird der Gedenktag des hl. Thomas seither am 3. Juli begangen. Im Kalender der außerordentlichen Form des römischen Ritus blieb dagegen der ursprüngliche Termin erhalten. Auch im Volksmund wird weiterhin der 21. Dezember als Thomastag bezeichnet und die Nacht auf den 21. Dezember als Thomasnacht. Eine volkstümliche Aussage bezieht sich auf die länger werdenden Tage: »Ab dem Thomastag wächst der Tag um einen Hahnenschrei.«
Thomas war der Apostel, der an der Auferstehung Jesu Christi zweifelte und den anderen Jüngern mitteilte, er würde die Frohe Botschaft erst dann glauben, wenn er die Wunden des Auferstandenen mit seinen Fingern berührt habe.
Da am 21. Dezember die Wintersonnwende ist, ist der Thomastag der kürzeste Tag des Jahres. Dementsprechend ist die Nacht vom 20. auf den 21. Dezember die längste Nacht des Jahres. An diesem Tag erreicht die Sonne ihren tiefsten Stand über dem Horizont im Jahreslauf. Jesus siegte über den Tod, wie der Tag am 21. Dezember über die Nacht siegt. Symbolisiert durch den ungläubigen Thomas soll den Menschen zur Wintersonnwende klar gemacht werden, dass Jesus immer über die Dunkelheit triumphieren wird.
Seit jeher ist die Thomasnacht mit vielen Bräuchen und starkem Aberglauben verbunden. Die frühen Christen brachten die alten Geschichten, die sie von ihren Ahnen gehört hatten, mit dem heiligen Thomas zusammen. Der kürzeste Tag und die längste Nacht des Jahres wurden wegen der Dunkelheit mit den Zweifeln des Apostels gleichgesetzt.
Die Thomasnacht ist bereits eine traditionelle Räuchernacht. Im volkstümlichen Landleben wurden in der Thomasnacht vor allem einheimische Räucherstoffe wie Bilsenkraut, Salbei, Holunderrinde oder Fichtenharz verwendet.
Die Thomasnacht ist zudem eine machtvolle Losnacht. Es gibt unzählige Rituale und Losbräuche, die in ihr durchgeführt werden können. Die wichtigsten Orakel beziehen sich auf Liebesangelegenheiten, so haben zum Beispiel junge, ledige Frauen in dieser Nacht vielfältige Möglichkeiten, ihren künftigen Gatten »sehen« zu können.
In Bayern geht am Thomastag der »bluadige Dammerl« (= blutiger Thomas) um und versetzt mit seinem mitgetragenen Eisenhammer und einer schweren, rostigen Kette die Leute in Angst und Schrecken. Der bluadige Dammerl ist ansonsten Teil der Wilden Jagd, in dieser Nacht tritt er aber losgelöst von ihr auf. Im Thomashammer, den der »Dammerl mit dem Hammerl« mit sich trägt, findet man noch einen Verweis auf den alten Glauben: Das Attribut des Gottes Thor war ebenfalls ein Hammer.
BRÄUCHE UND RITUALE
•Was man in der Thomasnacht träumt, wird wahr. Legt man sich getrocknete Leinsamen unter das Kopfkissen, wird die Wirkung der prophetischen Träume noch verstärkt. Legt man sich verkehrt herum ins Bett – mit dem Kopf ans Fußende – wird einem im Traum eine Frage beantwortet, die man vor dem Einschlafen stellt.
•Pflückt man in der heutigen Nacht ein Zweiglein von einem Holunderbusch und stellt es in der Stube in eine Vase mit Wasser, kann man anhand der Triebe, die sich einstellen, ablesen, wie viele Kinder man einmal haben wird.
•Bayern: Will eine ledige Frau ihren Zukünftigen sehen, muss sie um Punkt Mitternacht aufstehen und mit dem Fuß gegen ihr Bett treten und dabei ausrufen:
»Bettstatt i tritt di,
Dammerl i bitte di,
lass mir erscheinen,
den Allerliebsten meinen.«
Blickt sie daraufhin in einen Spiegel, ist dort das Gesicht des Auserwählten zu erkennen.
•Bayern: Will eine Frau lediglich die Richtung gezeigt bekommen, in der der Zukünftige zu finden ist, muss sie erneut um Mitternacht zu einem Obstoder Holunderbaum gehen, diesen dreimal rütteln und dabei folgendes Verslein aufsagen:
»Bäumchen i’ schütt’l dich,
Dammerl i’ bitt’ di’,
lass mir ein Hündchen bellen,
wo sich die Lieb wird melden.«
Bellt in den folgenden Stunden ein Hund, weiß man die Richtung, in der das Haus des künftigen Mannes steht oder des Ortes, in dem er wohnt.
•Friesland: Von der Thomasnacht bis zur Dreikönigsnacht läuten durchgängig die Kirchenglocken, um die dämonischen Kräfte zu vertreiben.
•Teile des »Frauenbuschens« (= der Kräuterbuschen von Mariä Himmelfahrt) werden am Thomastag den Kühen ins Fressen gemischt, damit diese leichter kalben.
EIN BRAUCH IM BILD
Thüringen: Ein etwas rustikalerer Brauch für die Burschen: Das »Zaunstecken-Zählen«. Man denkt sich eine Zahl und zählt daraufhin die Zaunlatten rechts von der Gartentüre ab. Bei der gedachten Zahl angelangt, erfährt man dann etwas über die Zukünftige. Wird sie alt und gebrechlich wie eine morsche Zaunlatte und zeitlebens bei schlechter Gesundheit sein? Oder frisch, kräftig und schön anzusehen?
Leicht abgewandelt funktionierte dieser Brauch auch an Holzsprossen von Stallwänden oder mit Hilfe von Treppenstufen: Kommt man beim Zählen einer Reihe auf eine gerade Zahl, wird man eine liebevolle Frau zur Seite gestellt bekommen, ergibt sich aber eine ungerade Zahl, hat man eine ungemütliche Lebensgefährtin zu erwarten.
VORSCHLAG FÜR DIE GESTALTUNG DES TAGES
Rückblicken, innerlich Ordnung schaffen
Da der Thomastag eine gewisse Schwellenfunktion einnimmt, eignet er sich sehr gut als Tag für Rückbesinnung und innere Ordnung (siehe auch: »Vorbereitungen für die verschiedenen Rituale«). Wir könnten uns zum Beispiel heute Gedanken machen, was uns im letzten Jahr besonders belastet oder gekränkt hat und was wir bisher noch nicht abschließen konnten. Vielleicht gab es auch schädliche Angewohnheiten oder gar Menschen, die uns spürbar nicht gut getan haben? Mit dem heutigen Tag beginnt die Phase des Abschlusses. Keine andere Zeit im Jahr bietet sich so gut für das Loslassen an, wie die Rauhnachtstage. Wenn uns das bewusst wird, kann der Prozess in Gang gesetzt werden. Wir notieren die Dinge, die wir auslöschen wollen auf einen Zettel und verbrennen diesen im Feuer.
Mit Beginn der Thomasnacht verbleiben noch drei Tage bis zu dem eigentlichen Beginn der Rauhnächte. Schon in alter Tradition galt es, alle wichtigen Dinge bis dahin erledigt zu haben. Spätestens jetzt also sollte alles Offene beglichen und jegliche Unordnung in unserem Leben, sowohl innerlich als auch äußerlich, bereinigt werden, damit sich unser Geist auf die Heiligkeit der Tage vorbereiten kann. Eine letzte Kraftanstrengung kann nun noch erfolgen, ehe die Ruhe der heiligen Nächte Einzug hält.
EIN MÄRCHEN ODER EINE SAGE ZUR NACHT
In einem kleine...