Narrative Wirtschaft

Wie Geschichten die Wirtschaft beeinflussen - ein revolutionärer Erklärungsansatz

Robert J. Shiller

• Verlag: Plassen Verlag
• Jahr: 2020
• eBook-ISBN: 9783864706677
• Auflage: 1
• Thema: Politik & Internationale Beziehungen
• Thema: Geschichte & Theorie der Politik

"Tech-Aktien steigen immer!" "Immobilien­preise fallen nie!" Stimmt das wirklich?Ob wahr oder nicht, solche Narrative, oder einfacher gesagt Geschichten, beeinflussen das Verhalten von Menschen und somit auch die Wirtschaft massiv.Wie entstehen Narrative? Wie gehen sie viral, wie gewinnen sie an Einfluss, wann verlieren sie diesen wieder? Welche Auswirkungen haben sie? Und, last, but not least: Wie lassen sich mit ihnen ökonomische Zusammenhänge und Entwicklungen besser verstehen und vorhersagen? Diese Fragen untersucht Wirtschafts-Nobelpreisträger Robert Shiller in seinem vielleicht wichtigsten Buch.

Teil III

Immer wiederkehrende ökonomische Narrative

Kapitel 9

Wiederholung und Mutation

In den vorherigen Kapiteln haben wir uns auf die Elemente der narrativen Wirtschaft konzentriert, untersucht, wie beliebte Storys viral gehen, sich zu Epidemien verwandeln und wirtschaftliche und politische Ereignisse beeinflussen. Wir haben die Diskussion durch mehrere Beispiele aus der wirklichen Welt illustriert, inklusive der Einsichten von Frederick Lewis Allen über die Weltwirtschaftskrise, der Analyse von John Maynard Keynes über die narrativen Ursprünge des Zweiten Weltkriegs, des Bitcoin-Narrativs und des Narrativs über die Laffer-Kurve.

In diesem Teil des Buches werden wir neun der wichtigsten narrativen Konstellationen betrachten. Diese immer wiederkehrenden Narrative werden nicht völlig verschwinden und sie tauchen in vielen verschiedenen mutierten Formen immer wieder auf. Sie berühren einige der wichtigsten Themen, die heutzutage in der Luft liegen: die Idee, dass Maschinen alle Arbeit ersetzen und eine Massenarbeitslosigkeit verursachen, dass eine Rückkehr zum Goldstandard größere monetäre Stabilität verursachen würde, dass Immobilien- und Aktienmärkte einen besonderen Wert haben, und dass Unternehmen oder Gewerkschaften böse sind. Diese sich stets verändernden und sich stets erneuernden Narrative beeinflussen das ökonomische Verhalten, indem sie das allgemeine Verständnis der Wirtschaft verändern, indem sie die öffentliche Wahrnehmung der wirtschaftlichen Realität verändern, indem sie neue Ideen darüber schaffen, was bedeutend, wichtig und moralisch ist, oder indem sie neue Drehbücher für das Verhalten des Einzelnen liefern.

Die Kapitel in diesem Teil demonstrieren, dass diese immer wiederkehrenden Narrative einen umfassenden und sich stets wandelnden Einfluss auf die heutige Gesellschaft haben und erklären, dass viele der Herausforderungen, die wir heute einzelnen, zeitgeschichtlichen Kräften zuschreiben, in Wahrheit von Narrativen beeinflusst sind – Geschichten, die sich über Generationen oder gar Jahrhunderte eingeprägt haben, aber die in neu konfigurierter Ausdrucksform wiedererscheinen. Sich mit diesen Beispielen zu befassen stellt unsere Ansichten über die Ökonomie infrage, sowohl in Bezug auf Phänomene im großen Maßstab, wie Wirtschaftskrisen und Kriege, über wichtige ökonomische Kräfte, wie den Aktien- und Immobilienmarkt, als auch zu sozial stützenden Institutionen, wie Arbeit und Technologie.

Wie wir gesehen haben, kann eine epidemische Krankheit, wie Grippe, Masern oder Mumps, wieder auftreten, nachdem eine Mutation ihre Ansteckungsrate verändert hat. Epidemische Krankheiten neigen dazu, wieder aufzutreten, nachdem eine Mutation eine erworbene Immunität überwindet, auch wenn manchmal die Mutation ein Ergebnis von Umweltveränderungen ist, die die Ansteckungsrate der Krankheit erhöhen. Bei der Grippe gibt es zum Beispiel regelmäßig auftretende Epidemien, die gelegentlich massiv und gefährlich sind, was von geringfügigen Unterschieden im viralen Genom oder von Umweltbedingungen abhängt. Daher hat die Grippe-Pandemie 1918, oft die Spanische Grippe genannt, mehr Menschenleben gekostet als der Erste Weltkrieg. Die Spanische Grippe verlief in der Epidemiologie spiegelbildlich zum Verlauf der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre in der Ökonomie, abgesehen davon, dass Narrative statt Viren die „Krankheit“ der Weltwirtschaftskrise weitertrugen. In beiden Fällen war die Ansteckungskraft besonders intensiv und überraschend. Bevor wir also die Details der langwährenden ökonomischen Narrative betrachten, ist es hilfreich, detailliert darzustellen, wie diese beiden essentiellen Mechanismen – Wiederauftreten und Mutation – ökonomische Narrative definieren und prägen.

Wie ökonomische Narrative mutieren

So wie Mutationen der Grippe eine neue Ansteckung mit dieser Krankheit auslösen, die ähnlich verläuft wie bei früheren Ausbrüchen, können auch ökonomische Narrative mutieren. Aber wir müssen behutsam vorgehen, wenn wir Ähnlichkeiten und Unterschiede auseinanderhalten wollen. Typischerweise weist ein Narrativ, wenn es erneut auf der Bildfläche erscheint – sagen wir in einem anderen Land oder ein paar Jahrzehnte später – Charakteristika auf, die sich vom originalen Narrativ unterscheiden – einen neuen Prominenten, der eine Rolle spielt, abweichende visuelle Bilder, eine andere Pointe. Zum Beispiel haben wir im Kapitel 12 die Narrative des Goldstandards und des Bimetallismus besprochen, die eine tiefgehende Ähnlichkeit mit dem Bitcoin-Narrativ haben, nur, dass William Jennings Bryan durch Satoshi Nakamoto ersetzt wurde. Das nächste Narrativ über neues Geld wird wieder den Namen einer anderen Berühmtheit tragen. Aber so wie Bryan heute weitgehend vergessen ist, wird Nakamoto in der Zukunft vergessen sein. Jemand, der in den kommenden Jahren eine sehr erfolgreiche neue elektronische Währung startet, wird am besten eine ansteckende Story dazu erfinden, indem er zum Beispiel den Namen einer bekannten Persönlichkeit damit verbindet. Diese Variation könnte für eine Ansteckung notwendig sein.

Eine Mutation in einem Narrativ kann auch auftreten, wenn ein Ereignis stattfindet, das die Assoziationen des Narrativs verändert. Zum Beispiel kann ein öffentliches Ereignis bekräftigen, ob ein Narrativ politisch korrekt ist oder nicht. Menschen zögern natürlich, Storys zu wiederholen, die sie in Verbindung mit einem solch skandalösen Ereignis bringen.¹⁶⁸

Mutationen in einem Narrativ oder seiner Umgebung können dazu führen, dass es ein ökonomisches Narrativ wird, indem es enger mit ökonomischen Entscheidungen verknüpft wird. Ebenso kann eine Mutation auftreten, die die Ansteckung erhöht, aber die Story so verändert, dass sie nicht mehr dasselbe ökonomische Narrativ ist. Dann könnte sie sich hinterher in eine andere Moral oder Lektion verwandeln. Wie wir weiter unten sehen werden, schuf ein Narrativ über Maschinen, die Jobs vernichten (Kapitel 13) ein Gefühl der Angst während der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren, aber dasselbe Narrativ mutierte (Kapitel 14) und rief im Dotcom-Hype der 1990er-Jahre das Gefühl hervor, es bestünden großartige Geschäftsmöglichkeiten. Diese Fälle können für diejenigen verwirrend sein, die ein Narrativ genauer untersuchen, denn einige Schlüsselworte des Narrativs können bei der Suche für eine viel längere Zeitspanne auftauchen, als die Periode, in der sie spezifisch wirtschaftlich ausgelegt wurden.

Narrative können für ökonomische Ereignisse relevant sein, selbst wenn das Auftreten des Narrativs nicht zeitlich mit dem Ereignis zusammenfällt. Wenn es zu einer Epidemie wird, kann ein Narrativ eine latente Angst auslösen, so wie die Angst, dass die Technologie eines Tages unseren Job überflüssig machen wird, was vielleicht Jahre später zu Veränderungen des ökonomischen Verhaltens führt, wenn ein anderes Narrativ oder Nachrichtenmeldungen das Gefühl hervorrufen, diese befürchtete Verdrängung stehe kurz bevor.

Wie ökonomische Narrative erneut auftreten

Die Mutationen, die ein Wiederauftreten von Narrativen verursachen, können zufällige Unfälle sein, aber wahrscheinlicher ist es, dass kreative Menschen, inklusive professionelle Marketingexperten, Politiker, Influencer oder einfach nur Menschen, die von sozialen Medien begeistert sind, an einem bestimmten Aspekt der Gestaltung beteiligt waren. Kreative wissen, dass die älteren Narrative ihr Potenzial bewiesen haben, indem sie vor langer Zeit viral gingen, aber dass sie nicht mehr ansteckend sind. Der Prominente, der mit dem originalen Narrativ verbunden ist, ist vielleicht mittlerweile vergessen oder in Ungnade gefallen. Das Narrativ könnte in einer Co-Epidemie mit einem anderen verlorenen Narrativ aufgetreten sein. Daher müssen die Kreativschaffenden versuchen, es mit einer bestehenden Epidemie in Verbindung zu bringen.

Wiederauftretende ökonomische Narrative neigen dazu, in internationalem Maßstab aufzutreten, zumal die Menschen bei den Nachrichtenmedien schon seit Langem gelernt haben, dass sie auch die Nachrichten in anderen Ländern beachten sollten, denn was in einem Land viral ist, kann oft auch in einem anderen ansteckend wirken. Aber wie ansteckende, epidemische Krankheiten tendieren narrative Epidemien dazu, in einigen Ländern stärker zu sein als in anderen. Außerdem sind narrative Epidemien in Ländern ähnlicher, die dieselbe Sprache sprechen oder eine gemeinsame Grenze haben. Die Beispiele in diesem Buch stammen größtenteils aus den Vereinigten Staaten, dem Land, in dem ich mein Leben verbrachte und das Land, in dem ich mich am besten auskenne und über das ich am meisten weiß. Außerdem haben die Vereinigten Staaten lange die Geschichte ihrer Wirtschaftszyklen aufgezeichnet. Das NBER unterhält eine Chronik über Konjunkturauf- und -abschwünge, die bis zum Jahr 1854 zurückreicht.

Einige Kritiker könnten argumentieren, institutionelle Veränderungen in den Vereinigten Staaten seien so tiefgehend und transformativ gewesen, dass man aus der fernen Geschichte nichts lernen kann. Aber die Ereignisse und die Reaktionen von vor 50, 100 und 150 Jahren sind dem erstaunlich ähnlich, was wir heute sehen und erfahren. In heutigen Narrativen sehen wir die Echos dieser historischen Perioden. Erinnern Sie sich an die Geschichte über den Trickbetrüger, der eine Wette auf einen Münzwurf mit den Worten anbot „Kopf, und ich gewinne, Zahl, und du verlierst“ und an den Trottel, der die Wette annahm? Dieses Kleinod eines Narrativs ist seit 1847 in Umlauf (und vielleicht noch früher). Zu dieser Zeit war sie mit den Storys über die Whig-Partei verbunden, über Zachary Taylor (den zwölften Präsidenten der Vereinigten Staaten) oder über Richard Cobden, den einflussreichsten Verfechter eines freien Marktes aus dem 19. Jahrhundert, an die heute kaum noch jemand denkt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts erzählten die Menschen nicht genau dieselben Storys mit denselben Interpretationen, die wir heute sehen, aber die Themen sind über diese lange Zeit hinweg erstaunlich ähnlich.

Große ökonomische Ereignisse, wichtige narrative Lektionen

Die im Folgenden aufgelisteten Ereignisse gehören laut Definition des NBER zu den größten ökonomischen Ereignissen in den Vereinigten Staaten seit 1854. Wir werden zu diesen Ereignissen noch häufiger in den späteren Kapiteln zurückkehren.

•Eine Wirtschaftskrise von 1857 bis 1859, gefolgt von der Abspaltung der Südstaaten in den Jahren 1860 bis 1861 und dem US-Bürgerkrieg (1861 bis 1865). Der Bürgerkrieg war der Krieg mit den meisten Toten in der US-Geschichte und ist verantwortlich für mehr Opfer als alle anderen US-Kriege zusammengenommen.¹⁶⁹

•Eine Wirtschaftskrise von 1873 bis 1879, die zur Veröffentlichung des in den Vereinigten Staaten meistverkauften Wirtschaftsbuches aller Zeiten führte, Progress and Poverty (1879) von Henry George, das den ungeregelten, freien Markt für eine sich verschlimmernde Ungleichheit verantwortlich macht.

•Eine Wirtschaftskrise in den 1890er-Jahren, in denen das NBER zwei Rückgänge der Wirtschaftsleistung auflistet, in den Jahren 1893–1894 und 1895–1897. Die ausgedehnte Wirtschaftskrise, während der die Arbeitslosigkeit stets über acht Prozent lag, dauerte von 1893 bis 1899. Diese Krise fiel mit einer aggressiven Phase in der US-Geschichte zusammen, in der die Vereinigten Staaten den Spanisch-Amerikanischen Krieg und den Krieg auf den Philippinen anfingen.

•Eine Serie von drei kürzeren Phasen sinkender Wirtschaftsleistung von 1907 bis 1914, die mit der Panik von 1907 begann und nur aufgrund der heroischen finanziellen Anstrengungen von J.P. Morgan und anderen Banken endete. Diese Ereignisse führten zur Schaffung des Federal Reserve Systems, um solche Bankenkrisen in der Zukunft zu verhindern. Auf diese Verwerfungen folgte im Jahr 1914 der Erste Weltkrieg.

•Eine kurze, aber extreme Wirtschaftskrise von 1920 bis 1921, zu der auch die schwerste Deflation gehörte, die je in den Vereinigten Staaten auftrat.

•Die Wirtschaftskrise nach dem Aktiencrash von 1929, die sich zu einer weltweiten Krise auswuchs. In den Vereinigten Staaten dauerte die ausgedehnte Krise von 1930 bis 1941, mit einer Arbeitslosenquote, die stets über acht Prozent lag. Die Great Depression bekam ihren Namen von dem Buch aus dem Jahr 1934 von Lionel Robbins mit demselben Titel. Zu ihr gehörten laut NBER zwei Rückgänge der Wirtschaftsleistung, in den Jahren 1929–1933 und 1937–1938. Auf die Weltwirtschaftskrise folgte unmittelbar der Zweite Weltkrieg.

•Eine schwere Rezession von 1973–1975, die mit einem Krieg im Nahen Osten und dem Ölembargo zusammenfiel. Der Ökonom Otto Eckstein nannte diese Periode die „Große Rezession“ (Great Recession) in seinem Buch von 1978 mit demselben Titel und legte damit einen Vergleich mit der Great Depression nahe.

•Eine schwere Rezession von 1980 bis 1982, zu der laut NBER zwei Rückgänge der Wirtschaftsleistung gehörten: ein kurzer Rückgang im Jahr 1980 und bald danach ein weiterer 1981–1982. Sie fiel mit einem Krieg im Nahen Osten zusammen. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Rezession die „Great Recession“ genannt, was erneut Assoziationen zur ...

Inhaltsverzeichnis

• Cover
• Impressum
• Titel
• Inhalt
• Vorwort: Was ist narrative Wirtschaft?
• Danksagungen
• Teil I Die Ursprünge der narrativen Wirtschaft
• Teil II Die Grundlagen der narrativen Wirtschaft
• Teil III Immer wiederkehrende ökonomische Narrative
• Teil IV Die narrative Wirtschaft voranbringen
• Anhang: Modelle von Epidemien auf ökonomische Narrative anwenden
• Endnoten
• Abbildungsverzeichnis
• Literaturverzeichnis