1 Überblick über die Grundlagen der Ethik
Ethik ist ein Teilgebiet der Philosophie. Sie wird auch als Moralphilosophie bezeichnet; ich verwende durchgehend den Begriff Ethik. Ihre Kernfrage lautet in der berühmten Formulierung von Kant: Was soll ich tun?
Sie gliedert sich in zwei große Teilgebiete: die Allgemeine Ethik und die Angewandte Ethik. Allgemeine Ethik befasst sich, ohne ein spezifisches Anwendungsgebiet im Auge zu haben, mit der Frage, wie wir zu guten Regeln für unser Handeln kommen. Angewandte Ethik gliedert sich wiederum in Bereichsethiken für unterschiedliche Lebensbereiche, etwa Medizin, Technik, Medien, Politik oder Umgang mit Tieren. Dieses Buch befasst sich mit Informatikethik, also mit einer Bereichsethik, also mit Angewandter Ethik.
Informatik wird meist eingesetzt, um eine Wirkung in einem anderen Lebensbereich als der Informatik selbst zu erzielen. Informatiksysteme in Kliniken und Arztpraxen dienen der Medizin, in Unternehmen dienen sie wirtschaftlichen Zielen, in Behörden dienen sie etwa sozialen Zielen oder dem Rechtswesen. Um nun bei der Beschäftigung mit Informatikethik nicht eine Vielzahl anderer Bereichsethiken, eben etwa die Medizin-, Wirtschafts- oder Sozialethik mitbehandeln zu müssen und damit zu überfrachten, muss Informatikethik sinnvoll von diesen abgegrenzt werden. Informatikethik befasst sich mit ethischen Fragen, die durch den Einsatz von Informatiksystemen in diversen Lebensbereichen entstehen, nicht jedoch mit allen in diesen Lebensbereichen entstehenden ethischen Fragen. Wenn es etwa um eine Entscheidung einer Bank geht, welchen Kreditkunden bestimmte Kredite eingeräumt werden, ist es Sache der Informatikethik zu untersuchen, ob Informatiksysteme an dieser Entscheidung mitwirken dürfen und welche Bedingungen sie dazu erfüllen müssen. Nicht Gegenstand der Informatikethik ist die Frage, ob es überhaupt zulässig ist, Kredite zu vergeben und dies von der Bonität des Kreditnehmers abhängig zu machen.
Lehrbücher über Angewandte Ethik setzen meist eine Kenntnis der Allgemeinen Ethik voraus und verweisen zu Beginn auf entsprechende Lehrbücher. Für den Unterricht etwa an einer Hochschule ist dies das passende Vorgehen: zuerst die Grundlagen lernen, dann die Anwendung. Dieses Buch jedoch wendet sich an die Hersteller, Betreiber und Nutzer von Informatikprodukten und -leistungen, also an alle interessierten Leser. Ihnen soll nicht zugemutet werden, zunächst dieses Buch aus der Hand zu legen und ein anderes über allgemeine Ethik lesen zu müssen. Also entwickle ich die für meine Zwecke benötigten Grundlagen der Allgemeinen Ethik.
Darstellungen ausschließlich der Allgemeinen Ethik müssen zwangsläufig recht abstrakt formuliert sein, da ein konkretes Anwendungsgebiet fehlt. Darunter leidet manchmal die Verständlichkeit. Deshalb entwickle ich die allgemeinethischen Grundlagen stets an Beispielen aus der Informatikethik oder anderen Gebieten, wodurch eine Verschränkung von allgemein- und bereichsethischen Betrachtungen entsteht. Diese Verschränkung führt, so hoffe ich, zu einem verständlichen Text – allerdings auch dazu, dass die Darstellung der Allgemeinen Ethik über die Abschnitte verstreut ist. Deshalb wird hier zu Anfang ein grober Abriss der in diesem Buch behandelten Themen der Allgemeinen Ethik gegeben.
Ein Teilgebiet der Ethik ist die Metaethik; sie befasst sich mit der sprachlichen Gestalt von Moralurteilen. In Lehrbüchern steht sie oft am Anfang. Der Text dieses Buches ist auch ohne Ausführungen über Metaethik nachvollziehbar. Ich werde Moralurteile in diesem Buch stets so formulieren, dass sie auch ohne metaethische Vorbildung klar als solche erkennbar sind. Deshalb erübrigt sich eine Darstellung der Metaethik; allerdings ist ein wichtiges Grundprinzip, das in 1.1.1 vorgestellte Gesetz von HUME, der Metaethik zuzurechnen.
Die eigentliche Ethik ist in Gebiete aufgeteilt, die sich in der Art unterscheiden, wie man zu Moralaussagen kommt und was in ihnen beurteilt wird. In der Pflichtethik (deontischen Ethik) werden Handlungen beurteilt, als geboten, verboten, erlaubt, akzeptabel, zu missbilligen, oder ähnliches. Sie ist das erste, was den meisten Menschen zum Thema Moral einfällt: Gebote und Verbote der Art „Du musst...“ oder „Du darfst nicht...“. Sie ist für den Handelnden und den Beurteilenden einer Handlung einfach anzuwenden, allerdings starr und in Gefahr, Situationen über einen Kamm zu scheren, die einer differenzierten Betrachtung bedürften. Sie ist Gegenstand von 1.2.2.
Dieser Gefahr entgeht die konsequentialistische Ethik (Wertethik, teleologische Ethik), die Folgen von Handlungen bewertet. Da die meisten Handlungen mehrere Folgen haben, muss sie zweierlei leisten: einzelne Folgen von Handlungen mit Werten versehen und diese Werte gegeneinander abwägen. Für beide Aufgaben gibt es zwar kein allgemein anwendbares und allgemein akzeptiertes Verfahren. Dennoch ist konsequentialistische Ethik nützlich, weil sie zu intensiver Untersuchung der Folgen von Handlungen, der durch sie geförderten und beeinträchtigten Interessen der Beteiligten, anregt. Gerade für neuartige Moralgebiete wie die Informatikethik, in der sich noch keine konsensfähigen pflichtethischen Regeln herausgebildet haben, kann sie als Grundlage für nahezu alle ethischen Betrachtungen dienen. Neben ihrer Einführung in 1.2.3 zieht sie sich deshalb durch die Abschnitte nahezu des gesamten Buches.
Von der Gesamtheit der Folgen einer Handlung zu unterscheiden sind die vom Akteur erwünschten Folgen, seine Absichten. Sie werden in der Gesinnungsethik beurteilt. Für die Aufstellung einer Bereichsethik ist sie kaum geeignet, da sie das konkrete Ausformen der Moralurteile dem Handelnden überlässt, was in 1.2.9 näher ausgeführt wird. Sie spielt im Rest des Buchs deshalb kaum mehr eine Rolle.
Bezogen sich die letzten drei Begriffe auf den Gegenstand der Moralurteile, bezeichnet die Diskursethik ein Verfahren, zu ihnen zu gelangen. Sie beschreibt einen im Grunde demokratischen Gestaltungs- und Entscheidungsprozess, der jedoch in mancher Hinsicht auf einem idealisierten Bild menschlichen Verhaltens beruht. Ihre Möglichkeiten und Grenzen werden in 1.2.8 diskutiert.
Eine zentrale Stellung bei jeder Betrachtung Allgemeiner oder Angewandter Ethik nehmen die Menschenrechte ein. Sie geben eine gewisse Orientierung bei der Lösung moralischer Aufgaben, da sie anderen Interessen übergeordnet sind. Allerdings stellen sie uns in vielfältiger Weise vor die schwierige Aufgabe, zwischen mehreren von einer Handlung betroffenen Menschenrechten abzuwägen, weshalb Betrachtungen über sie neben ihrer Vorstellung in 1.2.4 sich über weite Strecken des Buches ziehen werden.
Ein zentrales Konzept der Ethik, sowohl in der akademischen Literatur wie auch im Alltag, ist die Gerechtigkeit. In der Wirtschaftsethik begegnet sie uns auf Schritt und Tritt, wenn es etwa um den für eine Arbeit angemessenen Lohn geht. Wenn auch die Informatik oft wirtschaftlichen Tätigkeiten dient, habe ich wirtschaftsethische Themen weitgehend vermieden, weil sie schon in reichhaltiger Literatur behandelt werden. Die Informatikethik im engeren Sinn macht wenig Gebrauch vom Gerechtigkeitsbegriff, so dass er nur am Rande in einigen Fallstudien vorkommt.
Ethik ist ein jahrtausendealtes Wissensgebiet; entsprechend unüberschaubar ist die Literatur. Im Gegensatz zu Gebieten wie Recht, Naturwissenschaften oder Mathematik folgen Darstellungen der Ethik kaum einem einheitlichen Schema. Manche Autoren gehen historisch vor und stellen die Ethiken berühmter Philosophen, etwa ARISTOTELES oder KANT, vor. Andere folgen einer Gliederung wie der oben verwendeten, die allerdings eine erhebliche Variationsbreite aufweist. Die Frage, was man gelesen haben muss, um das Gebiet der Ethik zu beherrschen, kennt also keine klare Antwort. Die Leser dieses Buches können deshalb nicht erwarten, en passant einen vollständigen Überblick über Allgemeine Ethik zu erhalten; die Ausführungen beschränken sich auf das für den hier verfolgten Zweck Notwendige. Wer sich also selbst inspiriert fühlt, solche Überlegungen aktiv weiterzubetreiben, sollte sich, etwa anhand der hier wiederholt zitierten Lehrbücher, eine breitere Wissensbasis verschaffen.
1.1 Ethik und Moral
„Unter Moral versteht man in der Neuzeit meist die Gesamtheit der Normen zur Regelung des Zusammenlebens, die in einer Gemeinschaft gelten oder gelten sollen. ... Normen sind Handlungsregeln in Form von Geboten oder Verboten wie etwa ‚Du sollst nicht Lügen!‘, ‚Du sollst Notleidenden helfen!‘ ...“ (Fenner 2010, 3)
Diese Definition bestätigt, was viele von uns sich wohl intuitiv unter Moral vorstellen. Gebote wie die genannten werden uns schon im Kindesalter beigebracht mit dem Hinweis, dass sie in der Gemeinschaft gelten, dass wir sie also befolgen müssen, um mit den Menschen in unserer Umgebung in Eintracht leben zu können. Die genannten Beispiele geben allerdings nicht die ganze Bandbreite möglicher Normen wieder; insbesondere können Gebote und Verbote auch mit Bedingungen versehen sein, die etwa ausdrücken, wann eine Notlüge erlaubt ist oder dass wir Notleidenden nicht helfen müssen, wenn wir uns dadurch selbst in große Gefahr begeben.
Diskussionswürdig ist allerdings die Forderung „in einer Gemeinschaft gelten oder gelten sollen“. Wenn wir sie streng interpretieren, sind etwa Gebote in einem Buch wie diesem nicht Gegenstand der Moral, weil bis zum Erscheinen des Buches gar keine Gelegenheit bestand, sie einer Gemeinschaft vorzustellen, also kaum angenommen werden kann, dass sie dort schon als gültig angesehen werden. Man müsste also bis zu dem Zeitpunkt einer positiven Entscheidung der Gemeinschaft das Thema anders benennen, etwa „Prä-Moral“ oder „Moralvorschlag“. Das wäre sprachlich umständlich und würde kaum Nutzen bringen. Ein Autor könnte nun beanspruchen, es sei ja gerade seine Absicht, dass seine Aussagen „in einer Gemeinschaft gelten sollen“. Wer würde sich nicht wünschen, dass seine Ansichten von vielen seiner Mitmenschen geteilt werden? Wenn man „gelten sollen“ aber so individualistisch auffasst, verliert der Begriff seinen Sinn, eben weil er aus Sicht des Autors immer zutrifft.
Andere Autoren fordern die Gültigkeit in einer Gemeinschaft nicht, so etwa:
„Im Mittelpunkt der Moral stehen Urteile, durch die ein menschliches Handeln positiv oder negativ bewertet, gebilligt oder missbilligt wird.“ (Birnbacher 2013, 13)
Diese Definition ist in zwei Hinsichten weiter gefasst als die von FENNER. Zum einen ist keine Gültigkeit in einer Gemeinschaft gefordert. Außerdem beschränkt sie sich nicht auf Gebote und Verbote. Wenn jemand ein Verhalten eindeutig missbilligt, kann man das als Verbot ansehen; etwa ist die negative Bewertung „Es ist eine schlechte Erziehungsmethode, Kinder zu schlagen“ kaum anders zu deuten als ein Verbot, eben dieses zu tun. Wenn jemand dann aber fortfährt: „Ein leichter Klaps auf den Hintern ist gerade noch annehmbar“, ist dies eine tendenziell negative Bewertung, aber weder Gebot noch Verbot.
Etwas später schränkt BIRNBACHER diese weit gefasste Definition durch eine Reihe von Merkmalen von Moralurteilen ein, etwa durch den Anspruch auf Allgemeingültigkeit:
„Moralische Urteile sind ihrem Gehalt nach mehr als bloße Meinungsäußerungen. Sie appellieren an die Vernunft und das Empfinden anderer und reklamieren eine über das einzelne Subjekt hinausgehende Verbindlichkeit.“ (Birnbacher 2013, 24)
Diese Einschränkung ist für den Autor eines Ethikbuchs bequemer als die von FENNER, denn sie erlaubt ihm, seine Auffassungen als Moralurteile zu bezeichnen, auch wenn sie noch keine breite Akzeptanz gefunden haben, vorausgesetzt, sie geben nicht nur eine persönliche Vorliebe des Autors wieder. Damit sind im übrigen auch Moralurteile eingeschlossen, die von den Menschen einer Gemeinschaft als fragwürdig oder gar verwerflich angesehen werden. Wenn etwa jemand meint, es wäre höchste Zeit, die Prügelstrafe in der Schule wieder einzuführen, wird er in unserer Gesellschaft wenig Anhänger finden, seine Meinung stellt aber dennoch ein Moralurteil dar.
Dieser nüchterne Begriff des Moralurteils verhält sich ähnlich wie andere Begriffe für menschliche Erzeugnisse. Wir bezeichnen etwas als „Lied“ oder „Bauplan“ unabhängig von seiner subjektiv empfundenen oder objektiv gemessenen Qualität sowie der Zustimmung, die es in einer Gemeinschaft genießt. Solche Merkmale geben wir neben dem Grundbegriff zusätzlich an und sprechen etwa von einem guten, aber vom Gemeinderat noch nicht verabschiedeten Bauplan für ein Rathaus oder von einem schlechten, aber sehr beliebten Lied.
BIRNBACHERs Definition schließe ich mich insoweit an, als ich jede Aussage, die eine Handlung mit einem Anspruch auf Allgemeinheit bewertet, als Moralurteil bezeichne. Den Begriff der Norm vermeide ich, da er wegen seines Gebrauchs in anderen Lebensgebieten, etwa der Technik, eine weitreichende, durch Verabschiedung gewonnene Verbindlichkeit suggeriert. BIRNBACHER folge ich auch bei der Ausweitung des Begriffs über Gebote und Verbote hinaus. FENNERs Definition folge ich hinsichtlich der Moral als Zusammenfassung von Moralurteilen; so bilden etwa die in diesem Buch vorgeschlagenen Moralurteile eine von mir entworfene und meinen Mitmenschen zur wohlwollenden Prüfung vorgelegte Moral. Zusammengefasst also:
Ein Moralurteil ist eine Bewertung einer Handlung mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Eine Moral ist eine Sammlung von Moralurteilen.
Hier und im Rest dieses Buches verwende ich meist den Begriff Gebot für Gebote, Verbote und Erlaubnisse. Dies ist keine Einschränkung; denn alle drei lassen sich als Gebote formulieren:
Gebot: Man muss Handlung H tun.
Verbot: Man muss Handlung H unterlassen.
Erlaubnis: Es gilt nicht, dass man Handlung H unterlassen muss.
Ethik ist die Wissenschaft über Moralurteile. Sie enthält also selbst keine Urteile, sondern setzt sich etwa damit auseinander, wie wir zu solchen Urteilen gelangen, wie sie zueinander in Beziehung stehen, ob sie schlüssig sind.
Der Begriff der Ethik wird in der Praxis mancherorts verwendet, wo streng genommen der Begriff der Moral besser angebracht wäre. Wenn etwa ein Unternehmen eine Unternehmensethik für sich beansprucht, handelt es sich meist um eine Sammlung von Handlungsvorschriften, also Moralurteile, nicht jedoch um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung. Also müsste man so ein Erzeugnis als Unternehmensmoral bezeichnen. Ähnliches gilt für den Begriff der Berufsethik. Auch dieses Buch enthält als zentrales Resultat eine Reihe von Handlungsempfehlungen, könnte also auch ebensogut den Titel „Informatikmoral“ tragen. Es hat sich jedo...