Die Verantwortung der Linken
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Die Verantwortung der Linken

  1. 140 Seiten
  2. German
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Die Verantwortung der Linken

Über dieses Buch

Seit einigen Jahren gibt es in der Linken – ob es nun Mitglieder der SPD, der Grünen, der Linken oder parteilose Bewegungslinke sind – immer wieder Debatten darum, was der richtige Weg sei: Die einen kämpfen für Minderheitenrechte und retten das Klima, die anderen kümmern sich vor allem um ökonomische Fragen. Und zwischen beiden Seiten vergrößert sich der Riss. Die einen glauben, dass die anderen die "kleinen Leute" verraten, die anderen fürchten, dass gerade in der Klimakrise die Umweltfragen oder dass in Zeiten von zunehmendem Rassismus und Sexismus die Rechte von Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund vernachlässigt werden. In diesen Konflikt greift Jan Korte ein und stellt harte Forderungen auf: Es muss wieder ein Gleichgewicht zwischen den kulturellen und sozial-ökonomischen Ansichten der Linken hergestellt werden. Er fordert Verständnis, gerade auch für die Menschen, die nicht in den urbanen Zentren leben. Er fordert alle, die sich als Linke und Linksliberale betrachten, auf, wieder Verantwortung zu übernehmen – für die ganze Gesellschaft. Denn es gilt: Niemals herabblicken!

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II.Die kleinen Träume

Dass es im Kampf gegen Rechts und die Erosion der Demokratie sinnvoll wäre, wenn die politischen Eliten nicht rechtsextremes Zeug nachreden, habe ich im vorhergehenden Kapitel beschrieben. Eigentlich sollte dies eine tagespolitische Selbstverständlichkeit sein. Nicht nur moralisch, es zahlt sich auch parteipolitisch nicht aus. Das konnte man an den bayrischen Landtagswahlen 2018 eindrucksvoll begutachten. Das Kopieren der AfD durch die CSU führte zum Absturz der CSU und zu einem großen Zugewinn der AfD. Diese Frage von politischer Haltung ist in linken und auch liberalen Kreisen unumstritten und eines der wenigen Themen, auf die sich alle einigen können.
Die massiven Differenzen in der Debatte, ob in linken Zeitungen oder Blogs, in meiner Bundestagsfraktion, in Teilen der SPD bis hin zu Kneipenabenden beginnen bei der Gewichtung der Ursachen für die Rechtsverschiebung. Ich kenne Debatten, in denen allen Ernstes von Linken empfohlen wird all diejenigen abzuschreiben, die mal AfD gewählt haben oder irgendwelche Ressentiments im Kopf haben.
In meiner eigenen Partei gibt es Aussagen, denen zufolge man ganze Landstriche und Generationen abhaken könne, sie seien nicht mehr zu erreichen und die Menschen in ihrem rechten oder reaktionärem Weltbild nicht mehr veränderbar. Besonders beliebt und besonders blöde ist auch die Zuschreibung, dass das Hauptproblem alte, weiße Männer seien. Warum diese Gruppe das zentrale Problem sein soll – ich habe keine Ahnung, die jüngsten Wahlanalysen sprechen auch dagegen. Allerdings glaube ich, dass es auch alte, weiße Männer gibt, die ausgebeutet und in dieser Gesellschaft verletzt werden. In einigen Szenegruppen ist es allerdings gerade schwer in Mode, moralisch unumstößliche Urteile ohne politisch-ökonomische Analysen rauszuhauen. Dabei nimmt man sich einfache negative Zuschreibungen, bei denen gleichzeitig und offensichtlich die eigene moralische Überlegenheit manifestiert wird, und hält sich daran fest. Und fühlt sich toll.
Diese Teile der Linken empfehlen, die alten weißen Männer (und Frauen) zu vergessen, und ausschließlich auf antirassistische Bündnisarbeit zu setzen und sich auf die urbanen Zentren zu konzentrieren. Ihre Zielgruppe ist verkürzt gesagt: Jung, akademisch gebildet, lebt in den großen Städten und ist politisch interessiert, oft auch engagiert. Polemisch zugespitzt setzt diese Gruppe also auf diejenigen, die so sind wie sie selbst. Das ist eine legitime Position, auch wenn ich sie nicht teile. Zumindest nicht in ihrer Absolutheit. Natürlich freue ich mich sehr, wenn solche Leute sich engagieren und sich einmischen. Gerade weil ich als Abgeordneter selbst oftmals in diesen Kreisen verkehre.
Was mich in den Diskussionen mit diesen Kreisen allerdings aufregt, ist das Fehlen des Suchens nach den Ursachen für all die Entwicklungen der letzten Jahre. Warum entwickelt sich diese Gesellschaft so? Warum haben so viele Leute Panik? Woher kommt der Hass? Was passiert in der Mittelschicht? Was hat das mit politischer Ökonomie zu tun? Der alte TonSteine-Scherben-Slogan »Du bist nicht besser als der neben dir« ist zu sehr ins Abseits geraten. Denn das Mindeste, was Linke leisten sollten, ist, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Es kann ja nicht sein, dass sich Linke nicht mehr den ökonomischen Fragen stellen und die linke Grundanalyse von Gesellschaft, in der das »gesellschaftliche Sein, das Bewusstsein bestimmt« (Marx) kaum noch vorkommt. Denn ohne die Analyse des Sozialstaates und seines Abrisses, ohne Analyse der Verheerungen des neoliberalen Zeitalters kann die Barbarisierung nicht verstanden und schon gar nicht aufgehalten werden.
Leute entscheiden sich doch nicht einfach von einem Augenblick auf den anderen, Rassisten oder Antirassisten zu werden. Die sogenannte Globalisierung und ein nicht mehr vom Sozialstaat gezähmter Kapitalismus haben sehr wohl Auswirkungen auf das, was gerade in Deutschland, Europa und der Welt geschieht. Darauf hat Wilhelm Heitmeyer in seiner Untersuchung »Autoritäre Versuchungen« hingewiesen. Seine nicht ganz neue These lautet, »dass das Zusammenwirken von autoritärem Kapitalismus, sozialer Desintegration und Demokratieentleerung einem rabiaten Rechtspopulismus Vorschub leisten würde.«27 Diese Analyse ist nicht überraschend, sie muss aber wieder breit in den linken Diskurs implementiert werden.
Kurz: Ohne Analyse der Zerstörung des Sozialstaates kein Verständnis für die heutige Entwicklung. Ohne den Versuch, Menschen zu verstehen, denen durch die gesellschaftlichen Zustände und durch die Politik Gewalt angetan wird, gibt es keine neue Ära der Solidarität. Ohne das Heraustreten aus seiner eigenen Filterblase gibt es keinen Bezug mehr zu Menschen, für die man als Linker eigentlich da sein sollte. Ohne Bilder davon, was dieses System täglich Menschen antut, wird es kein Erreichen dieser Menschen, die Schutz brauchen, durch die Linken geben. Ohne eine Rundumerneuerung linker Sprache wird es kein Erreichen der Vielen geben. Und ja: Ohne das Erreichen von Kopf und Bauch wird die rechte Welle nicht zu stoppen sein. Wir brauchen weniger radikale Moral, sondern mehr radikale Analyse. Und daraus leitet sich ab, dass wir mehr konkrete Taten brauchen. Das bedeutet nicht, dass man etwa Minderheitenfragen hintanstellt. Es bedeutet, nicht in das Gerede von sogenannten Haupt- und Nebenwidersprüchen verfallen zu wollen, sondern es heißt, wieder ein Gleichgewicht, eine Suche nach Zusammenhalt und Würde – für alle! – neu zu entwickeln. Und dabei ist ein funktionierender, starker Sozialstaat von entscheidender Bedeutung.
Die innerlinken Probleme in dieser Debatte beginnen bereits damit, dass viele die Nase rümpfen, wenn für die Wiederherstellung des Sozialstaates argumentiert wird. In der Regel macht eine Seite dann darauf aufmerksam, dass auch der westdeutsche Sozialstaat der 80er Jahre nicht so gut funktionierte (stimmt in Teilen selbstverständlich, gerade etwa, wenn es um die Rolle von Frauen oder Migrantinnen und Migranten geht) und es ohnehin kein Zurück geben könne. In solchen Argumentationsweisen schwingt bereits eine gewisse Überheblichkeit mit. Wer so argumentiert, zeigt mehr oder minder bewusst, er habe schon den Durchblick und wisse, was gestrig und was zukünftig ist. Leider ist er damit – meist ungewollt – einer neoliberal-progressiven Erzählung auf den Leim gegangen. Richtig ist, dass es keine Verklärung geben darf, schon gar nicht mit Blick auf die bleiernen gesellschaftlichen Zustände damals. Keine Verklärung der spießigen Kohl-Ära, mit all ihrer neoliberalen Ideologie. Die Kritik am Sozialstaat jener Zeit und der gesellschaftspolitischen Situation damals ist gerechtfertigt und darf keinesfalls außen vor gelassen werden. Was jedoch ein ernsthaftes Problem bei dieser Argumentation ist, dass sie einen großen Teil der Bürgerinnen und Bürger und ihre Erfahrungen, ihre Geschichte nicht mehr im Blick hat.
Die einstmalige Stärke der Linken, nämlich ein erstrebenswertes Bild von der Zukunft zu zeichnen – und damit Massen zu gewinnen –, steht in allen linken Parteien und Bewegungen gerade nicht auf der Tagesordnung. Dafür ist die Linke viel zu schwach. Daher – so meine These – muss man klein und von vorn anfangen. Und damit ist ein Bezug auf etwas, was es schon gegeben hat, ein erster Schritt, weil er etwas vorschlägt, was es gab. Etwas, das möglich war. Oliver Nachtwey hat in seiner wichtigen Untersuchung »Die Abstiegsgesellschaft«28 beschrieben, dass der von Gewerkschaften, Linken und auch von der SPD erkämpfte Sozialstaat eine »Gesellschaft des Aufstiegs« war. Er schreibt: »Der Sozialstaat war in der sozialen Moderne eine zentrale Instanz des sozialen Fortschritts.«29 Sozialstaat bedeutete: »Meinem Kind wird es einmal besser gehen. Vielleicht wird es sogar mir einmal besser gehen.« Das war die Erzählung und das Versprechen; es war das Empfinden von Millionen Menschen in der Bundesrepublik. Und für die große Masse der Menschen stimmte das auch. Daran können sich noch viele erinnern, es ist keine Verklärung einer Vergangenheit, da es tatsächlich mehr Aufstiegschancen und mehr staatliche Absicherung gegeben hat als heute.
Dies zu reflektieren und aufzunehmen ist für eine Linke, die wieder stark werden will, von zentraler Bedeutung. Meine Mutter war ihr Arbeitsleben lang Krankenschwester. Sie hatte einen unfassbar anstrengenden Job, der einen körperlich und oft auch seelisch an die Grenzen gebracht hat. Ich erinnere mich noch genau an die von all den Desinfektionsmitteln wund gewordenen Hände meiner Mutter. Trotzdem war die Arbeit im Krankenhaus ein wesentlicher Teil ihres Lebens und sie war und ist stolz darauf. Wenn sie hört, dass die Wiederherstellung des Sozialstaates ein Rückschritt in die 80er/90er Jahre wäre, kann sie dies nicht verstehen. Es beachtet ihr Leben und ihre Geschichte nicht. Denn damals arbeitete sie mit mehr Personal oder mit wesentlich weniger Patienten, um die sie sich in der Notaufnahme kümmern musste. Sie hatte mehr Zeit für die Patienten, wurde nicht so gehetzt und gescheucht, wie später, als auch die Krankenhäuser nicht mehr den Kranken dienten, sondern der »Profitabilität«. Am Ende ihres Arbeitslebens musste sie mit weniger Personal und weitaus mehr Aufgaben Tag um Tag schuften.
Ich habe sie für dieses Buch nochmal danach gefragt. Sie hat meine Beobachtungen noch um eine weitere ergänzt, nämlich die, dass es früher in der Notaufnahme auch nicht so viele Menschen gab, die so offensichtlich kaputt und fertig waren, wie sie es in den letzten Arbeitsjahren erlebt hat. Denn oft bringt Armut auch körperlichen Verfall und Krankheit mit sich. Es ist keine propagandistische, linke Floskel, dass man Menschen Armut ansieht und zwar auch am gesundheitlichen Zustand. So sei nur daran erinnert, dass es in Westdeutschland früher nicht normal war, wenn Leuten über Jahre einige Zähne im Gebiss fehlten. Viele zahnärztliche Leistungen wurden dort früher nämlich komplett von der Krankenkasse bezahlt. Und ebenso war im Osten die ärztliche Grundversorgung eine Angelegenheit des Staates, die den Bürgern kostenfrei zur Verfügung gestellt wurde.
Menschen wie meine Mutter, die aus einfachen Verhältnissen kommen, haben mindestens genauso einen kritischen und differenzierten Blick auf die Dinge, wie Berufspolitikerinnen oder Aktivisten in meinem Umfeld, die zwar oft gute Analysen liefern, diese aber nicht mehr so präsentieren, dass meine Mutter sie für sich übersetzen kann. Oder – noch schlimmer – die sich gar nicht mehr die Mühe machen, Menschen wie meine Mutter, Reinigungskräfte oder Kassiererinnen in den Blick zu nehmen. Jede und jeder Linke wird diese Behauptung natürlich weit von sich weisen und sagen, dass er Menschen wie meine Mutter sehr wohl im Blick habe. Dann wird auf Aktionen, Artikel und Beschlüsse etwa auf Parteitagen verwiesen. Das Problem ist aber, dass diese oft wie Sonntagsreden daherkommen, ritualisiert abgespult und diese Menschen daher nicht mehr erreichen. Leute spüren, ob politische Anliegen glaubwürdig und empathisch vorgetragen werden. Daher ist die innerlinke Kritik an der Forderung nach Wiederherstellung des Sozialstaates ungewollt arrogant und verschließt den Zugang zu Leuten, denen heute eben kein anständiger Sozialstaat mehr zur Verfügung steht.
Ja, das Arbeitslosengeld war besser als Hartz IV. Ja, vor der Agenda 2010 gab es keine so massenhafte prekäre Beschäftigung. Ja, Leiharbeit wie es sie heute gibt, gab es damals nicht mal ansatzweise in dieser Masse. Was also kann man ernsthaft dagegen haben, zumindest den sozialen Standard wieder erreichen zu wollen, den es immerhin schon mal gegeben hat?
Das ist uns Linken nicht genug, ganz und gar nicht. Wir wollen mehr. Aber erst mal wieder dahin zu kommen, das wäre heute eine geradezu bahnbrechende Politik.
Dieses Beispiel steht sinnbildlich für die Probleme, deretwegen die Linke so ins Trudeln geraten ist. Viele wichtige Debatten sind für einen Teil der Menschen, für den Linke eigentlich immer da sein sollten, kaum noch zugänglich. Leute wie meine Mutter. Oder wenn ich an meinen Opa denke, der stolzer Stahlarbeiter gewesen ist und dessen große Wunscherfüllung seinerzeit ein blaues Mofa gewesen ist. Ich versuche mich oft zu hinterfragen: Spreche ich so, dass Opa mich verstehen würde? Wecke ich bei meiner Mutter politische Emotionen? Denke ich an die kleinen Träume dieser Menschen? Dieses selbstkritische Reflektieren ist innerhalb der Linken in den letzten Jahren definitiv zu kurz gekommen, es ist – nicht mit Absicht – irgendwann einfach verkümmert, da man sich anderen wichtigen Dingen zugewendet hat. Etwa dem Umweltschutz.
Hier sei noch ein Beispiel erlaubt. Die Tageszeitung taz berichtet von einem Wahlkampfauftritt von Olaf Scholz in Brandenburg. Der SPD-Mann gibt sich betont volksnah. Dann passiert dies:
»Ein alter Mann tritt heran und führt Beschwerde. Er lebe in einem Dorf ohne Geschäft, zehn Kilometer von der nächsten Stadt entfernt, der Bus fahre selten. Warum? ›Zu DDR-Zeiten war das besser‹, sagt er. Scholz hält das für eine gute Frage. Man müsse den öffentlichen Nahverkehr ausbauen, andererseits sei es so eine Sache mit den kleinen Geschäften. Die Leute machten ihre Großeinkäufe in den Malls und großen Supermärkten und ärgerten sich, wenn der Laden um die Ecke verschwinde. Deshalb, so Scholz, seien sie ja auch Schuld. Im Übrigen sei Technik die Lösung. Technik habe einen schlechten Ruf, zu Unrecht. Denn man könne mit digitaler Technik – ›App nennt sich das‹ – ein selbstfahrendes Auto bestellen, das einen in die nächste Stadt bringe. Leider gebe es bei selbstfahrenden Autos noch echte Probleme bei Kreisverkehren. Irgendwie liegt hier ein Missverständnis vor. Der Mann, über 70, wird es wohl kaum erleben, dass selbstfahrende Autos ihn, mit oder ohne Kreisverkehr, nach Straßburg in der Norduckermark bringen. Vielleicht wollte er nur etwas Verständnis. Aber Scholz ist kein Mann für Verständnis, er ist ein Mann für Lösungen.«30
Lösungen ja, aber dem Brandenburger ist damit nicht geholfen. Und das Schlimme ist – solche »Missverständnisse« passieren Leuten aus allen linken Parteien.
Um es noch einmal zu betonen: Die Themen der sogenannten neuen Linken, also Emanzipation und Identitätspolitik, waren und sind genauso wichtig wie ökonomische Fragen. Es darf kein wichtiger oder weniger wichtig geben. Man kann die heterosexuelle Arbeiterin ohne Migrationshintergrund nicht gegen den homosexuellen Antirassisten ausspielen. Beider Anliegen sind wichtig, beide sind Zielpublikum der Linken, beider Rechte gilt es zu schützen. Aber ein wichtiger Teil des Zielpublikums ist eben in den vergangenen Jahren in den Debatten nicht mehr vorgekommen. Die grundsätzliche Kritik von Linken am Staat als solchem haben die positiven Seiten eines funktionierenden und ausgebauten Sozialstaates zu wenig beachtet. Dies muss korrigiert werden. Ich selber hatte bei meinen politischen Anfängen als Grüner in einer Kleinstadt irgendwann den Blick für diese Fragen verloren und habe mich konzentriert auf ökologische und kulturelle Fragen, auf das Kämpfen gegen Diskriminierungen und für die Rechte von Minderheiten. Das hat mich bis heute geprägt und ich kämpfe, wie viele andere Linke auch, weiter ohne Abstriche für diese Menschenrechte. Nur: Ich will mich wieder für alle engagieren. Ich möchte wieder die Erzählungen wie die meiner Mutter, meines Opas und all derer, die so wenig vorkommen, beachten. Denn das Nicht-Vorkommen ist ein wichtiger Grund für das Abwenden von linken Ideen und auch Parteien.
Ein weiteres tagespolitisches Beispiel: Die Debatten über den Zustand der Bahn sind auch unter Linken ein beliebtes Thema, um Gesprächslücken zu schließen. Jeder hat etwas beizutragen, kann sich herrlich über Verspätungen, Zugausfälle und defekte Klimaanlagen erregen. Auf der politischen Ebene im Bundestag gibt es ohne Ende Expertinnen und Experten, die sicherlich gute Ideen, ausgefeilte Konzepte und Fahrpläne für eine bessere Bahn haben. So wird an der Bahn herumgedoktort. Eigentlich aber gilt es heute einen großen Plan aufzustellen, den die Leute als radikal, aber realistisch einschätzen. Nämlich die Rückgängigmachung der 1994 beschlossenen de facto Privatisierung der Bahn. Wir müssen eine Wiederverstaatlichung fordern. Und auch hier sind die Reaktionen bei vielen Menschen sehr positiv. Gerade deswegen, weil viele noch eine Ahnung davon haben, dass bei der DB oder der damaligen Reichsbahn der DDR die Schaffner vielleicht unfreundlicher, aber die Züge pünktlicher waren und auch noch in vielen ländlichen Regionen an Bahnhöfen in Kleinstädten und Dörfern hielten. Seither wurden Strecken stillgelegt, Bahnhöfe geschlossen und tausende von Stellen abgebaut. Das wissen viele Leute noch. Und da, wo Strecken nach vielen Auseinandersetzungen wiedereröffnet wurden, werden sie in der Regel gut angenommen. Und an diese Alltagserfahrungen müssen wir anknüpfen – und rauskommen aus dem kleinteiligen Politikmosaik.
Auch hier gibt es eine positive Bezugnahme auf das, was in diesem Staat real möglich ist und ein Anknüpfen an Erfahrungen der Menschen oder an ein Wissen, dass es mal anders ging. Es ist die gleiche Erzählung wie die Forderung nach der Wiederherstellung des Sozialstaates.
Diese Beispiele zeigen, dass die innerlinke Kritik am angeblichen Zurück viel zu kurz greift und die Linke, überspitzt gesagt, eine kräftige Dosis Retraditionaliserung gebrauchen könnte. Dafür sollte man sein eigenes Wissen, seine eigenen Analysen und seine eigene grundlegende Kritik an den kapitalistischen Zumutungen mal auf die Massentauglichkeit überprüfen – sofern man nicht ständig unter sich, also allein sein möchte.
Das besagte Versprechen, dass es meinem Kind einmal besser gehen wird, wurde auch von Teilen der Linken aufgekündigt. Wissentlich und mit klarer Ansage, in einer brutalen Art und Weise: mit der Agenda 2010. In der SPD, bei den Grünen und in vielen linksliberalen Kreisen glauben inzwischen auch einige an die Ideologie der CDU und der FDP, der zufolge der ungezügelte Kapitalismus etwas Natürliches ist, zu dem es keine Alternative gäbe. Daher muss hier weiter a...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Einleitung
  6. I. Rechtsverschiebung in der etablierten Politik
  7. II. Die kleinen Träume
  8. III. Die Verantwortung der Linken
  9. IV. Was könnte man denn nun tun?
  10. Anmerkungen
  11. Weiterführende Literatur