Der Wert Europas in einer bedeutsameren Weltgeschichte
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Der Wert Europas in einer bedeutsameren Weltgeschichte

  1. 320 Seiten
  2. German
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Der Wert Europas in einer bedeutsameren Weltgeschichte

Über dieses Buch

Was ist Europa? Wie definiert es sich? Wofür steht es? Wie soll es sich weiter entwickeln?Europa befindet sich in einem Übergangsstadium zwischen unabhängigen Nationalstaaten und einem geeinten Europa. Die Krisen der EU - Finanzkrise, Migrationskrise, Brexit - haben die europäische Idee in Gefahr gebracht. Neben das Narrativ Europa als Friedensprojekt müssen weitere sinnstiftende Erzählungen treten, um einen von Emotionen getragenen, europaweiten gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen.Die Frage ist: Wie können wir aus nationaler Vielfalt eine europäische Einheit bilden? Eine solche Einheit scheint heute mehr denn je erforderlich, um den globalen Herausforderungen begegnen zu können. Es gilt, die grundlegenden Werte, Konzepte und Identitäten Europas zu betrachten und zu überlegen, was Europa für die Welt leisten kann.Mit Beiträgen u.a. von: Gabriel Felbermayr, Clemens Fuest, Jörn Leonhard, Rudolf Mellinghoff, Timo Meynhardt, Hans Ulrich Obrist, Yael Tamir, Roberto Viola

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Hans Ulrich Obrist mit Edi Rama im Gespräch

Neue Betrachtungen eines vertrauten Terrains

Das Gespräch führte Hans Ulrich Obrist mit SE Edi Rama, Premierminister von Albanien, beim Convoco Forum am 27. Juli 2019 in Salzburg.
Hans Ulrich Obrist: Ich freue mich sehr, auch dieses Jahr wieder bei Convoco mit dabei zu sein. Wie immer haben Corinne Flick und ich uns im Vorlauf zum Forum darüber unterhalten, welchen Künstler wir einladen. In den 1960er Jahren hatten die Künstler John Latham und Barbara Steveni, die Gründer der Artist Placement Group, die radikale Idee postuliert, dass jede Organisation, jede private oder staatliche Organisation und jedes Unternehmen in ihrem Vorstand oder Gremium einen Künstler oder eine Künstlerin als Artist in Residence fest integriert haben sollten. Dieses Konzept halten wir immer noch für eine sehr gute Idee.
Neulich stieß ich wieder auf eine Unterhaltung, die ich mit dem visionären Schriftsteller Umberto Eco vor seinem Tod 2016 geführt habe. Dabei hat er genau diesen Gedanken in Bezug auf Europa angesprochen. Er erinnerte sich daran, dass er zusammen mit Rem Kohlhaas und einigen anderen von der Europäischen Union eingeladen worden war, sich darüber auszutauschen, welche Rolle Kunst, Architektur und Literatur im Kern der EU spielen könnten.
Daher fanden wir es faszinierend, in diesem Jahr einen Künstler einzuladen, der gleichzeitig auch Politiker ist. Unzertrennlich sind die Kunst und die Politik bei Edi Rama. Edi Rama ist seit 2013 Premierminister von Albanien; von 2000 bis 2011 war er Bürgermeister von Tirana; er hat eine eigene künstlerische Sprache entwickelt, durch die er eine Plattform für Diskussion und Austausch geschaffen hat. Dieses Agieren eines Künstlers, der als politischer Aktivist in gesellschaftliche Strukturen interveniert, erinnert natürlich an Joseph Beuys. Interessanterweise hat sich Edi, der eine Ausbildung zum Maler absolviert hat, von Anfang an für die Rolle der Kunst in der Gesellschaft interessiert.
Edi Rama hat sich auch sehr deutlich über die Bedeutung von Europa geäußert. In der britischen Tageszeitung The Guardian wurde er mit der Aussage zitiert, dass Albaniens Beitritt in die EU endlich bedeuten würde, »sich vor dem Fluch der Geschichte in Sicherheit zu bringen«. Dieses Zitat erinnert mich an Jürgen Habermas, der dazu aufgerufen hat, das Projekt Europa solle sein demokratisches Potenzial in die Tat umsetzen und sich zur kosmopolitischen Gemeinschaft entfalten. Er meinte damit »eine grenzüberschreitende Willensbildung«, ein Bewusstwerden des gemeinsamen Schicksals.
Edi, wir haben uns über einen gemeinsamen Freund kennengelernt, den beeindruckenden Künstler und Filmemacher Anri Sala. Anri erzählte mir von der folgenden Begebenheit: Er wuchs in Tirana auf. Eines Tages im frühen Teenager-Alter kam er nach Hause und verlangte von seinen Eltern die Zustimmung, Künstler werden zu dürfen. Edi, du warst seinerzeit Anris Mentor. Er erzählte mir, dass für dich selbst alles mit der Malerei begonnen hat. Daher wollte ich dich bitten, uns davon und auch vom Beginn deiner Karriere als Künstler zu erzählen.
Edi Rama: Zunächst einmal vielen Dank für die Einladung. Ich bin der Premierminister von Albanien und seit ungefähr zwanzig Jahren in der Politik tätig. Doch eigentlich war die Kunst bereits seit meiner Kindheit der Sinn und Zweck meines Lebens. Ich bin weiterhin künstlerisch tätig – nur nutze ich jetzt eben mein Büro im Regierungsgebäude dafür. Nein, wirklich, im Ernst! Bitte lachen Sie nicht.
Ganz klar, die Tatsache, im kommunistischen Albanien geboren zu sein und sich mit Kunst zu befassen, war wirklich keine einfache Angelegenheit, denn zu dieser Zeit war Albanien das Nordkorea von Europa. Wir lebten nicht nur komplett abseits vom »verdorbenen« Westen, sondern auch abseits vom »verräterischen« Osten. Unsere Kunst war allein auf den sozialistischen Realismus reduziert. Wir wuchsen in einem Land auf, in dem die Kunst und die Kultur des 20. Jahrhunderts wortwörtlich verbannt und verboten waren. Ein Land, in dem zum Beispiel Gustav Mahler und natürlich auch Marcel Proust verboten waren und in dem in den späten achtziger Jahren der Unterricht an der Kunstakademie von Tirana mit Gustave Courbet endete.
Nach Courbet hatten wir vier Unterrichtsstunden bei einem deprimierten Professor, der in seinen Vorlesungen kein einziges Dia zeigte und der uns erzählte, welch schreckliche Zustände sich wegen dieser verwöhnten kleinbürgerlichen Jungs, die sich Impressionisten nannten, entwickelt hätten; und dann außerdem noch wegen dieses Psychopathen namens Vincent van Gogh; und weiterhin wegen eines asozialen Typen namens Paul Gauguin; und schließlich wegen dieses Teufels in Menschengestalt namens Pablo Picasso. Aber dies alles war für uns visuell nicht greifbar, denn einen Zugang zu diesen Bildern zu erlangen, war sehr schwierig und darüber hinaus auch noch gefährlich. Albanien war damals ein Land, in dem viele Dinge passierten, die man heutzutage nicht mehr für möglich halten würde.
HUO: Im Jahr 1999 lernte ich den damals noch sehr jungen Anri Sala kennen. Er studierte an der französischen Kunsthochschule Le Fresnoy und erzählte mir, wie du es geschafft hattest, seine skeptischen Eltern zu überzeugen, ihn die Laufbahn eines Künstlers einschlagen zu lassen. Anri berichtete mir außerdem, dass 1998, also im Jahre zuvor, dein Vater an einem Herzinfarkt starb. Du kamst für die Beerdigung zurück und hast Tirana seit damals nie wieder verlassen. Kurz darauf wurdest du zum Kulturminister ernannt. Kannst du uns ein wenig über diesen Einstieg in die Politik, wo du doch Künstler warst, erzählen?
ER: Ich kam zurück nach Tirana, um meinen Vater zu beerdigen, und kurz nach der Beerdigung wurde ich zum Kulturminister ernannt. Diese Begebenheit zeigt, dass der Ort, wo ich lebe, nicht immer einfach zu verstehen ist. Eigentlich bräuchte ich mehr Zeit dafür, das ein wenig näher zu erläutern. Es kam zustande, weil sich alle wichtigen Ereignisse, die während des Regimewechsels stattfanden, an der Kunstakademie abspielten. Ebenso wie in den anderen ehemaligen kommunistischen Staaten nahm die Anti-Regime-Bewegung Albaniens ihren Anfang in der Kunstszene, da diese den Mut aufbrachte, öffentlich Bilder verbotener Kunst zu zeigen, und damit die verschlossenen Kapitel der Kunstgeschichte aufschlug.
Rumänien war das letzte Land, das sich vom ehemaligen Sowjetreich lossagte. Albanien war seit 1960 vom Ostblock getrennt, weil es Stalin gegenüber loyal bleiben wollte. Innerhalb nur eines Jahres, von 1989 bis 1990, veränderte sich alles. Während dieses Jahres kamen die Dinge in der Kunstakademie in Bewegung und schufen eine aufgeladene Atmosphäre, aus der heraus alles explodierte. Der Tag dieser Entfesselung war der zehnte Todestag von John Lennon und bot somit den Anlass, zum ersten Mal an einem öffentlichen Ort eine Party zu feiern – eine Party, auf der sich Leute zusammen indizierte Musik anhörten und zusammen etwas Alkohol tranken. Das, was sich seit einem Jahr aufgestaut hatte, zusammen mit Lennons Song Power to the People waren die Zutaten für den explosiven Cocktail, der diese Bewegung ausbrechen ließ. Danach lebte ich weiter in einer Art Schizophrenie zwischen Kunst und Politik – aber nicht als Politiker, sondern als Bürger. Auf diese Weise entwickelte ich mich zu einem professionellen »Troublemaker«.
Zu diesem Zeitpunkt wurde mir dann im Jahre 1998 das Amt des Kulturministers übertragen, ohne dass ich überhaupt jemals zuvor daran gedacht hatte, irgendwann einmal Minister zu werden. Das Kulturministerium war das erste staatliche Regierungsgebäude überhaupt, in das ich einen Fuß setzte.
HUO: Natürlich wollen wir uns noch weiter über Politik unterhalten, aber ich möchte noch eine letzte Frage bezüglich dieser frühen Periode deines künstlerischen Schaffens stellen, denn du wurdest dann zum Bürgermeister von Tirana gewählt, was zu einem außergewöhnlichen Projekt führte. Du hattest dich nämlich dazu entschlossen, mit Hilfe von Farben der Stadt Hoffnung zu geben. Es wäre sehr interessant, mehr über dieses Projekt zu erfahren, mit dem du die Kunst direkt in die Gesellschaft getragen hast.
ER: Wie bereits gesagt, war Albanien damals das Nordkorea Europas, eine stark kollektivistische Gesellschaft, in der keinerlei Privateigentum erlaubt und letztendlich sogar Gott verboten war. Von allen kommunistischen Staaten Europas war Albanien das einzige Land, das unter dem Einfluss der chinesischen Kulturrevolution stand. Als sich das Regime von der Sowjetunion und seinen Satellitenstaaten loslöste, entwickelte Albanien eine neue Love Story zur Volksrepublik China. Es wurden Lieder geschrieben, in denen Albanien und China als die letzten Löwen ihrer Art besungen wurden.
Als das Regime zusammenbrach, begannen die Menschen nach ihrer eigenen Identität zu suchen. Unter dem Einfluss der chinesischen Kulturrevolution waren wir gezwungen, alle die gleiche Frisur und die gleiche Kleidung zu tragen. Tatsächlich wurde uns sogar vorgeschrieben, welchen Durchmesser unsere Hosenbeine haben durften, damit wir nicht wie die Beatles aussahen: nämlich genau 24 Zentimeter. Wirklich, ich mache keine Scherze! Ich erinnere mich an Zeiten, in denen wir zum Strand gingen, und als wir aus dem Zug stiegen, standen da ein paar Leute mit Scheren, die unsere Hosen kontrollierten – und wenn die Hosenbeine zu weit waren: Schnipp! Die Konsequenzen waren furchtbar.
Nach dem Regimewechsel bemühten sich die Leute, ihre individuelle Identität durch Privatbesitz wiederzuerlangen. Das hatte einen recht destruktiven Effekt, weil die Menschen nun begannen, um- oder auch wegzuziehen: Die Stadtbewohner wanderten nach Italien und in andere Teile Europas aus, während die Leute aus der Peripherie in die Städte zogen. Das hatte zur Folge, dass jeder Park und jeder Quadratmeter Land, der zu einem öffentlichen Grundstück gehörte, nun von den Zugezogenen in Anspruch genommen wurde. Zuerst stellten die Leute Tische in den Straßen auf und boten dort Verschiedenes zum Verkauf an. Dann fingen sie an, Kioske und später sogar ganze Gebäude zu errichten. Als ich Bürgermeister wurde, war Tirana eine Stadt ohne öffentlichen Raum.
Es gab einen großen Ansturm, sich die Welt über Fernseher, Kühlschränke und Waschmaschinen nach Hause zu holen. Übrigens waren Fernsehapparate damals nur mit Genehmigung erlaubt. Es gab Gremien, die darüber entschieden, wer diese Genehmigungen erhielt. In den Straßen von Tirana türmten sich die weggeworfenen Verpackungsmaterialien. Zur gleichen Zeit versuchten die Menschen, den vorhandenen Platz in ihren Wohnungen bis in den letzten Winkel funktionell auszunutzen. Auf diese Weise wurden Balkone als erweiterter Küchenraum genutzt. Erdgeschossfenster wurden zu Türen umfunktioniert, das Schlafzimmer wurde zum Blumenladen und das Wohnzimmer verwandelte sich in eine Bar. Leute in den obersten Stockwerken durchbrachen die Decken, um Platz zu gewinnen, denn damals lebten wir auf sehr engem Raum.
Anstatt Sozialwohnungen zu errichten, hatte das Regime 600.000 Bunker gebaut, um Albanien vor dem möglichen Angriff der amerikanischen »Imperialisten« zu schützen. Die Kosten für den Bau eines einzigen Bunkers entsprachen denen für eine 75 m2 große Wohnung. Das muss man sich einmal vorstellen – wie viele Wohnungen anstelle dieser Bunker hätten errichtet werden können!
So war die Lage, als ich Bürgermeister wurde. Niemand kümmerte sich mehr um das Äußere. Von außen wirkten die Gebäude wie einer Art populärem Dekonstruktivismus entsprungen. Kein einziger richtiger Architekt war da am Werk gewesen, sondern ein jeder hatte selbst Hand angelegt. Es war schrecklich, es war grau, es war zerstörerisch und es war verstörend. Aber was sollte man anfangen mit einem Budget, das sich nur auf null-Komma-etwas belief, während die Leute hohe Erwartungen hatten?
Also begannen wir, die Häuser einfach anzumalen. Das war aus der Not geboren. Sehr oft wurde dies fälschlicherweise als eine ästhetische Entscheidung interpretiert, aber tatsächlich war es eine politische Aktion mithilfe von Farben.
Wir leisteten unseren Eid und fingen an zu malen. Es war unglaublich, weil das Geld, das wir dafür verwendeten, eigentlich aus einem EU-Zuschuss kam, mit dem wir die Zufahrtsstraße nach Tirana hätten ausbessern sollen. Über die Farben entschied ich ganz alleine auf wenig demokratische Weise. Hätte aber eine Entscheidung darüber überhaupt demokratisch sein können? Ich glaube nicht, denn wenn wir demokratisch abgestimmt hätten, wäre am Ende die Farbe Grau herausgekommen. Einer mag Orange, ein anderer Blau – und der Kompromiss unter allen Farben ergibt Grau.
Während nun das erste Gebäude gerade bemalt wurde, ruft der Eigentümer der zuständigen Firma an und sagt: »Herr Bürgermeister, es geschieht gerade etwas ganz Schreckliches. Wir haben mit der Farbe, die Sie uns gegeben haben, angefangen zu streichen – und jetzt haben wir hier einen Verkehrsstau und Hunderte von Menschen stehen vor dem Gebäude […] und dann ist hier auch noch dieser französische Vorgesetzte, der sich offensichtlich total aufregt, denn er ist puterrot angelaufen und brüllt furchtbar herum.«
Also mache ich mich direkt auf den Weg und treffe auf diesen Franzosen, der tatsächlich hysterisch ist. Wir verwendeten damals ein sehr kräftiges, leuchtendes Orange, das eine Fläche von circa 20 m2 bedeckte. Ungefähr zweihundert Leute schauten zu, einige lachten, einige sahen schockiert aus.
Ich frage den Franzosen, was denn sein Problem sei, und er antwortet: »Was mein Problem ist? Was meinen Sie damit, was mein Problem ist? Schauen Sie sich das doch einmal an. Es sieht einfach furchtbar aus. Und das wird auch noch vom europäischen Steuerzahler bezahlt! Wie kann man denn mit diesem Geld ein Gebäude orange anmalen! Das entspricht doch nicht europäischen Standards!« Worauf ich antworte: »Na gut, dann werde ich auf meiner ersten Pressekonferenz wohl sagen müssen: Vergesst die Zensur des kommunistischen Regimes – die Europäische Union ist offensichtlich noch schlimmer! Denn die möchte uns anscheinend vorschreiben, mit welcher Farbe wir unsere Gebäude anstreichen dürfen.« Er entgegnet: »Nein, wir müssen da einen Kompromiss finden.« Daraufhin ich: »Mein Herr, die Farbe des Kompromisses ist Grau, und Grau haben wir schon zu Genüge. Also, lassen Sie uns fortfahren.«
Wir machten also weiter, und das Thema Farbe wurde zum größten Diskussionspunkt im ärmsten Land Europas. Sowohl im Radio, im Fernsehen als auch im Parlament wurde über Farben diskutiert. Es schien, als hätte sich Albanien in ein Café auf Montmartre zur Zeit der Impressionisten verwandelt.
Eine lärmende Minderheit war gegen all das. Ich startete eine Umfrage, die seit zwanzig Jahren in der Politik immer noch zu meiner Lieblingsumfrage zählt. Die Frage lautete: »Was halten Sie von der Farb-Aktion, die gerade in der Stadt durchgeführt wird? Möchten Sie, dass die Aktion endet, oder dass sie fortgeführt wird?« Von den Befragten sagten 67 Prozent, dass sie ihnen gefalle, und 85 Prozent wollten sogar, dass sie weiterlaufen sollte. Die Hälfte der Leute, die die Aktion nicht mochten, wollten also dennoch nicht, dass wir sie beendeten. Es gibt Momente im Leben, in denen man sagt, es gefällt mir zwar nicht, aber ich möchte auch nicht, dass es aufhört....

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Einführung
  6. Thesen
  7. Jörn Leonhard: Europa: Einheitsvorstellungen und Krisenbewusstsein
  8. Birke Häcker: Europäische Rechtsidentität(en)
  9. Stefan Korioth: Wohin treibt Europa? Ein Plädoyer für mehr Vielfalt in der Europäischen Union
  10. Yael Tamir: Warum Nationalismus – Gedanken zu einer europäischen Identität
  11. Timo Meynhardt: Europäische Werte und gute Führung: Rollendistanz wagen
  12. Stefan Oschmann: Europas großes Potenzial besser nutzen
  13. Roberto Viola: Europas strategische Autonomie in digitalen Technologien: Wunschtraum oder realistische Vision?
  14. Sven Simon: Was tun, Europa? Die EU zwischen alten Mythen und neuen Herausforderungen
  15. Kai A. Konrad: Die NATO und die strategische Autonomie Europas
  16. Claudia Wiesner: Europäische Identität in fordernden Zeiten: das Erfolgsmodell Europa selbstbewusst vertreten
  17. Hans Ulrich Obrist mit Edi Rama im Gespräch: Neue Betrachtungen eines vertrauten Terrains
  18. Matthias Karl: Rethink Markets: Kriterien einer agilen Wettbewerbspolitik
  19. Rupprecht Podszun mit Convoco im Gespräch: Freiheit ist nicht das Fehlen von Regeln
  20. Jörg Rocholl: Wie sollten Deutschland und Europa mit der wachsenden Bedeutung Chinas umgehen?
  21. Parag Khanna mit Convoco im Gespräch: Das asiatische Jahrhundert
  22. Gabriel Felbermayr: Europa und die globale Wirtschaftsordnung
  23. Fredrik Erixon: Das Ende einer Ära und der Beginn eines neuen Zeitalters: Strukturwandel in der europäischen Wirtschaft
  24. Christoph G. Paulus: Über den Wert der Vielgestaltigkeit Europas
  25. Die Autoren