VII Beispiele
Der Aufbau und die Dynamik von Ritualen läßt sich am einfachsten anhand von einigen Beispielen erklären. Dabei ist es naturgemäß am hilfreichsten, Beispiele aus verschiedenen Traditionen zu benutzen.
VII 1. Horus-Ritual
Im Alten Ägypten gab es in fast jedem Dorf eine kleine Statue des Harpokrates („Horus das Kind“). Er stand mit seinen Füßen auf einem Skorpion, einer Schlange und einem Krokodil. Unter dem Gott und den drei Tieren verlief an dem Statuensockel eine Rinne mit einem Ausguß.
Wenn jemand von einem Skorpion oder einer Schlange gebissen worden war, ging man zu dieser Statue, goß Wasser über sie und fing das Wasser, das über das Horus-Kind in die Rinne geflossen war, dann an dem Ausguß wieder auf. Dieses Wasser gab man dann dem Gebissenen zu trinken.
Dieses schlichte Heilungsritual bezieht sich darauf, daß Isis, die Mutter des Horus, in den Mythen den Horus einst von einem Skorpion-Biß geheilt hat.
Dadurch, daß der Gebissene das Wasser trank, das über die Horus-Statue geflossen war, wurde die Heilung des Horus durch Isis auch auf ihn übertragen. Dies ist eine schlichte Form eines Rituals, das auf der Analogie-Magie beruht.
VII 2. Schädelschalen-Magie
In dem Horus-Ritual findet sich auch das Prinzip, daß Kontakt verbindet – also eine Form der Assoziations-Magie ist. Der Kontakt besteht darin, daß Wasser über die Statue fließt.
Diese Form des schlichten Rituals ist auch von den Christen übernommen worden. Bis ins Mittelalter hinein war es üblich, den Segen eines Heiligen dadurch zu erlangen, daß man zu seiner Schädel-Reliquie pilgerte und aus seinem Schädel trank. Dadurch erhielt man die Verbindung zu diesem Heiligen.
Da jeder Heilige aufgrund seiner Biographie mit bestimmten Wundern assoziiert war, konnte man sich aussuchen, welcher Heilige für das eigene Problem zuständig war und dann aus dessen Schädel trinken.
Diese Tradition findet sich auch bei den Germanen und in Tibet. Sie ist einst vermutlich recht weit verbreitet gewesen.
VII 3. Kriegstanz
In den traditionellen afrikanischen Tänzen gibt es einen speziellen Ritual-Leiter: den Masterdrummer. Viele rituelle Tänze bestehen aus ca. einem Dutzend verschiedener Schrittfolgen, die alle gleich lang sind, z.B. acht 4/4-Takte lang. Zu diesen Schrittfolgen gehören jeweils bestimmte Drehungen, Sprünge, Gesten, Gesänge, Wechselgesänge, Rufe usw.
Der Masterdrummer hat die Aufgabe zu sehen, wann die Tänzer und Tänzerinnen mit der aktuellen Tanzsequenz das erreicht haben, wozu sie gedacht ist: die Konzentration sammeln, die Ahnen herbeirufen, eine Spannung aufbauen usw. Wenn das erreicht worden ist, leitet der Masterdrummer zu dem nächsten Tanz-Motiv über. Dafür gibt es ein einfaches System der Kommunikation zwischen dem Masterdrummer, den anderen Trommlern und den Tänzern:
Bei den meisten traditionellen Tänzen haben alle Bewegungsfolgen in einem Tanz dieselbe Länge, sie sind also z.B. alle acht Takte lang. Zu jeder dieser Bewegungsfolgen gehört ein bestimmter Trommelrhythmus, der sich von dem Rhythmus der anderen Bewegungsfolgen unterscheidet. Insbesondere der Teil, den der Masterdrummer bei jeder Bewegungsfolge trommelt, ist leicht unterscheidbar.
Wenn der Masterdrummer sieht, daß eine Bewegungsfolge ausreichend lange getanzt worden ist, wechselt er zu Beginn einer Bewegungsfolge in den Trommel-Rhythmus des Teiles, der als nächstes folgen soll. Die anderen Trommler und die Tänzer hören die Veränderung im Rhythmus und wissen, welche Bewegungsfolge und welcher Trommelrhythmus als nächstes kommen soll. Dabei wird die Bewegungsfolge, zu deren Beginn der Masterdrummer den Rhythmus gewechselt hat, zunächst noch von den anderen Trommlern in der bisherigen Weise weitergetrommelt und von den Tänzern auch in der bisherigen Weise getanzt. Acht Takte lang trommelt der Masterdrummer also schon den Takt der nächsten Bewegungssequenz. Zu Beginn der nächsten Bewegungsfolge wechseln dann alle zu der neue Bewegungsfolge, die der Masterdrummer durch seinen veränderten Rhythmus zu Beginn der letzten Bewegungsfolge angekündigt hat.
Auf diese Weise hat der Masterdrummer die Möglichkeit, die Lebenskraft zu leiten – wenn er z.B. sieht, daß die Tänzer in einem Kriegstanz die Bewegungsfolge, die der Zentrierung in sich selber dient, so lange getanzt haben, daß die meisten Tänzer gut zentriert und geerdet sind, kann er zu der Bewegungsfolge, die den Angriff darstellt, übergehen.
In dem ersten Jahr, in dem ich bei Papafiu afrikanischen Tanz gelernt habe, haben wir einen Kriegstanz eingeübt. Das war ziemlich anstrengend – Sprünge, Kreisen um sich selber, komplexe Armbewegungen, mit einem Holzschwert zuschlagen, Wechsel-Rufe zwischen Papafiu und uns, Anrufungen des Häuptlings Odessu, der einst nach einem Sieg die Kraft dieses Sieges in diesen Tanz gelegt hat … und dann auch noch aufpassen, daß man niemand anderem auf die Füße tritt oder ihn ausversehen mit dem Holzschwert erwischt …
Wieso haben die Ewe, zu denen die Kalifis und Papafiu gehören, vor ihren Kriegen nur solch einen Kriegstanz gemacht? Danach war man doch völlig erschöpft! Und dann konnten die anderen kommen und die vom Tanz völlig erschöpften Krieger einsammeln – wenn sie selber vernünftig genug waren, nicht zu tanzen …
Komischerweise kannten auch die Griechen und die Indianer und noch andere Völker Kriegstänze – eigentlich konnte es doch nicht sein, daß sich parallel bei verschiedenen Völkern dasselbe unsinnige Verhalten entwickelt hat oder daß sich ein uraltes unsinniges Verhalten so lange gehalten hat, daß man es selbst noch in der historischen Zeit bei verschiedenen Völkern wiederfinden kann …
Die Antwort auf diese Frage kam unerwarteterweise aus dem Finanzamt Bonn-Außenstadt, in dessen Archiv und Vordrucklager ich damals gearbeitet habe. Der Vorsteher des Finanzamtes hatte wieder einmal eine Verordnung erlassen, die ich schlichtweg unmenschlich fand und die nur dazu gut sein konnte, die Autorität des Vorstehers noch weiter zu festigen und die Angst seiner Untergebenen vor ihm zu schüren (er hat sich nach seiner Pensionierung bei den Abteilungsleitern für sein Verhalten entschuldigt).
Am Abend bin ich vom Finanzamt zum afrikanischen Tanz gegangen und war dabei noch ziemlich wütend über den Vorsteher – was sonst eigentlich gar nicht meine Art ist. Als wir uns auf den Tanz vorbereitet haben, habe ich da gestanden und an den Vorsteher gedacht und meine Fäuste geballt und innerlich gedacht „So, Herr Vorsteher! Mich kriegst Du nicht klein! Nun wollen wir mal sehen, wer der Stärkere von uns beiden ist!“
Die Wirkung dieses Entschlusses auf den Kriegstanz war erstaunlich. Auf einmal mußte ich nicht mehr auf meine Haltung, meine Gestik, meine Mimik, die Lautstärke meiner Stimme beim Anrufen des Häuptlings Odessu und ähnliche Dinge achten – all diese Dinge kamen wie von selber aus meinem Entschluß, dem Vorsteher des Finanzamtes die Zähne zu zeigen. Es war Spannung in meinen Bewegungen, mein Stampfen war kriegerisch, ich habe mit dem Schwert richtig zugeschlagen, meine Stimme war nicht zu überhören … und ich habe keinerlei Anstrengung gespürt, sondern stattdessen immer mehr Kraft bekommen – Odessu hat mir die Kraft seines Tanzes gesandt.
Als der Tanz zuende war, wollte ich gar nicht wieder aufhören und habe noch kurz alleine weitergetanzt. Ich glaube, der Vorsteher wäre nach diesem Tanz schon vor meinem bloßen Blick zurückgewichen.
Bei diesem Tanz habe ich sehr viel begriffen: Wenn man etwas tut, das man nicht will, verliert man Kraft – wenn man etwas tut, was man will, erhält man Kraft. Deshalb sollte man nur die Dinge tun, die man aus dem eigenen Herzen heraus tun will – und man sollte keine Dinge unterlassen, die man aus seinem Herzen heraus tun will. Dann lebt man wirklich und ist das, was man ist, und tut das, was man will.
Dieser Kriegstanz ist die ganze Zeit über ein perfektes Ritual gewesen – es hat sogar das „gewisse Etwas“ enthalten: die Kraft des einstigen Sieges, die von dem Häuptling Odessu in dieses Ritual gebannt worden war.
Das, was jedoch für das Funktionieren des Rituals gefehlt hatte, war meine Motivation, genau dieses Ritual durchzuführen – diese Motivation habe ich erst durch den Streit mit dem Finanzamts-Vorsteher erhalten. Da haben mein Tanzlehrer Papafiu und der Vorsteher des Finanzamtes in per...