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Zehntes Kapitel
Das ist ein Klingen und Dröhnen
Ein Pauken und Schalmei'n –
Und dazwischen schluchzen und stöhnen
Die lieblichen Engelein!
Heine
Ganz allein und vergessen hatte Josephine in dem Nebensaal gestanden, als Prinzess Sylvie am Arm ihres Tänzers den lockenden Walzerklängen gefolgt war und die umstehenden Herren und Damen in etwas zügelloser Hast nachgedrängt hatten. Mit glanzlosem Blicke starrte sie vor sich nieder auf die wirr verschwimmenden Sternmuster des persischen Teppichs, auf die weißen Blumenblätter, welche zerdrückt von ihrem Kleide hernieder wehten und ebenso unter der erbarmungslosen Sohle Vorübereilender starben, wie ehemals die Rosenblüte im Park zu Lehrbach, die Graf Günthers stolzer Schritt zermalmte, da er just gesagt: »Wem nie durch Liebe Leid geschah.« Ja, ihr war Leid geschehen, tiefes, namenloses Herzeleid! Noch aber lag es wie ein schwerer, unheilvoller Traum auf ihrer Seele, noch war sie unfähig, sich die ganze Größe ihrer Qual begreiflich zu machen. All' das fremde Getriebe betäubte sie und legte sich wie Zentnerlast auf ihre Sinne, sie hätte aufschreien mögen in namenloser Pein und presste dennoch die Lippen zusammen und fühlte, dass ihre Kehle zugeschnürt war. Sie hätte zusammenbrechen mögen unter der Wucht ihres zermalmten Glückes und stand dennoch mit brechenden Knien hoch aufgerichtet und starr wie ein steinernes Bildnis. Ach, könnte sie weinen. Ach, wäre sie allein! Dieser Kerzenglanz sticht ihr die Augen aus, diese wüsten Musikklänge reißen ihr Herz und Seele auseinander, ganz einsam und verlassen ist sie, und dennoch wogt es wie grelle, bunte Fiebergebilde um sie her.
Eine Stimme schlägt an ihr Ohr. »Fräulein Josephine«, sagt sie so weich und innig, »wie schwer haben Sie es mir gemacht, Sie zu finden! Kommen Sie, lassen Sie uns tanzen!«
Da schauen ihre blauen, fast unnatürlich glänzenden Augen zu ihm auf. »Sie wollen mit mir tanzen, Herr von Hattenheim?«, fragte sie leise, mit zitternder Stimme.
Erschrocken fast neigte er sich zu ihr: »Gewiss, Fräulein Josephine, ich habe mich unendlich darauf gefreut, denn es ist seit langen Jahren zum ersten Mal heute, dass ich hier am Hofe tanze!«
Ein Blick trifft ihn, so warm, so dankerfüllt, so unendlich glücklich und doch in Tränen schwimmend.
»Wie gut sind Sie!«, flüstert sie, »wie treulich Sie es mit mir meinen! Gewiss, Sie, der keine Kornähre, noch so klein und schlicht, im Staub zertreten kann, Sie lassen auch kein Menschenherz im Jammer verkommen, und das begreife ich heute erst, erst heute!« Sie hat die beiden Hände zusammengelegt, ein Zittern fliegt drüber hin.
»Fräulein Josephine, was ist Ihnen? Mein Gott, welch' eine Veränderung!« stottert er, bis unter die blonden Haarwellen erglühend; »sind Sie krank? Sie scheinen mir so bleich!«
Sie schüttelt mit herzzerreißendem Lächeln das Köpfchen.
»Es gibt Krankheiten, für die kein Kraut gewachsen ist, aber die sieht kein Mensch.«
»Wollen Sie nicht tanzen?« Er fasste ihre Hand und legte sie auf seinen Arm.
Da fühlte er einen jähen, leidenschaftlichen Druck der bebenden Finger, ihr Antlitz richtet sich zu ihm empor, glühende Röte fliegt über das farblose Antlitz. »Nein, ich will nicht mit Ihnen tanzen!«, ringt es sich schnell, aufgeregt von ihren Lippen; »denn das wäre ein schlechter Lohn für all' Ihre Güte und aufopfernde Freundschaft, welche Sie mir heute bewiesen! Sie, der einzige Mensch, die einzige Seele, die sich meiner Verlassenheit heute Abend erbarmt, Sie sollte ich dem Gespötte dieser Menschen aussetzen? Sie sollte ich dazu verdammen, Ihre Tanzkarte mit dem ewigen Schandfleck ›Gänseliesel‹ zu verunstalten? Sie sollte ich so unendlich blamieren, mit mir, der lächerlichen, der ungestalten Tänzerin, den Saal zu durchmessen? Oh nein, Herr von Hattenheim, dazu bin ich viel zu stolz!«
Sie steht vor ihm, nicht mehr als das naive, glückselige Kind aus Groß-Stauffen, sondern als ein ernstes, um Jahre gealtertes Weib, von dessen flammendem Auge die Schleier gefallen sind, welche ehedem noch Welt und Leben deckten. Wie der furchtbare, hagelschwere Gewittersturm die Rosenknospe wild erfasst und sie mit rauem Atem schüttelt, bis die zarten Hüllen brechen und der Rose leuchtender Kelch sich, Tränengebadet, ihnen entringt, also hatte auch der Sturm des Lebens diese junge Seelenknospe voll grausamer Wucht zu Boden gepeitscht, um sie als vollerblühte Rose triumphierend zu erheben.
Hattenheim stand unbeweglich, fahles Grau lag auf seinen Zügen und seine Brust arbeitete wie in schwerem Kampfe.
»Fräulein Josephine«, rang es sich wie ein Aufstöhnen von seinen Lippen, »wer hat es gewagt, Sie also zu kränken? Wer war schamlos genug, meinen Freund Lehrbach zu verklagen?«
Da hob sie in finsterem Trotz das Haupt. »Forschen Sie nicht«, unterbrach sie ihn kurz, fast rau, »und seien Sie überzeugt, dass ich auf Verleumdungen niemals Etwas gegeben hätte; habe ich doch kein größeres Glück gekannt, als das Vertrauen auf Treu' und Redlichkeit.« Wieder klang die süße, unaussprechlich wehmutsvolle Milde durch ihre Stimme. »Was hinter mir liegt, ist ein schöner, wolkenloser Sommer, über den der Winter nun sein weißes Leichentuch gebreitet. Lassen Sie ihm die Ruhe, scheuchen Sie ihn nicht mit herben Worten auf, vielleicht kann er schlafen und träumen, wie ein jeder Winter, der auf fernen Frühling hofft. Ich bitte Sie, dem Grafen Lehrbach niemals über diese Stunde zu sprechen, ich bitte Sie als Freund! Lassen Sie ihn in dem Gedanken, ich hegte noch dieselbe Meinung über ihn, wie in Stauffen.«
»O, das sollen Sie auch in Wahrheit tun!«, rief Hattenheim erregt. »Verurteilen Sie Günther nicht zu streng und zu hart, Fräulein Josephine, er ist nicht so schlecht, wie er Ihnen scheinen mag! Ein Glückskind, ein verwöhnter, viel begehrter und eitler Mann, dessen Sinn so leicht noch ist, wie die Bürde seiner Sorgen, aber gut, seelensgut und brav im tiefsten Herzen, das verbürge ich! Zürnen Sie ihm nicht, ich bitte Sie darum, alles wird noch gut werden.«
Ein bitteres Lächeln spielte um den Mund des jungen Mädchens. »Sie treten keine Kornähre, geschweige denn Ihre Freundschaft unter die Füße!«, sagte sie leise. »Möge sie Ihnen belohnt werden, wie es Ihre Redlichkeit verdient! Und nun führen Sie mich, bitte, in den Tanzsaal, ich möchte doch gerne sehen, wie schön Prinzessin Sylvie ihren flotten Galopp tanzt.«
Er sah sie traurig an. »Kommen Sie«, nickte er, »vielleicht bringt Sie das bunte Treiben auf andere Gedanken!« Und er biss die Zähne zusammen und faltete finster die Stirn. »Es musste so kommen, ich ahnte es; ach, dass ich es hätte abwenden können!«, murmelte er wie im Selbstgespräch.
Gräfin Ange kam ihnen entgegen. »Ich suchte Sie, liebes Fräulein von Wetter«, sagte sie in ihrer sanften, freundlichen Weise, »und Sie müssen es sich schon gefallen lassen, dass ich heute ein wenig als Vorsehung über Ihnen walte! Ein junger Referendar wünscht Ihnen vorgestellt zu sein und bittet um den nächsten Tanz, falls er noch frei ist. Du bist wohl so gut und dirigierst Herrn von Landeck nachher zu uns, bester Reimar?«
Herr von Hattenheim verneigte sich schnell, er sah den erstaunten Blick Josephinens und lächelte.
»Gräfin Ange ist meine Cousine!«, sagte er mit warmem Blick auf die Komtesse. »Da freut es mich doppelt, wenn Sie Beide sich gut vertragen.«
»Das werden wir!«, lächelte Josephine voll süßer Aufrichtigkeit. »Sie sind mir jetzt schon lieb wie eine alte Bekannte! Warum tanzen Sie aber nicht?«
Ange drückte ihr herzlich die Hand. »Ich tanze vorläufig noch auf keinem Ball«, sagte sie; »ich hatte im Herbst eine Lungenentzündung und muss vorsichtig sein. Dafür kann ich aber desto besser mit Ihnen plaudern und Ihnen nochmals die einzelnen Namen der Herren und Damen sagen und Ihnen hiesige Verhältnisse erzählen!« Und Gräfin Ange Lattdorf setzte sich auf die weichen Atlaspolster des Diwans nieder und winkte Josephine und Hattenheim an ihre Seite.
Die Walzerklänge jubelten hell auf, und Prinzessin Sylvie flog im Tanze durch den Saal; dunkle Röte deckte ihre Wangen, und sie lehnte den Kopf fest an die Brust ihres Tänzers, die zarten Crêpewogen wehten bereits zerfetzt um die Schleppe.
Josephine aber schloss momentan die Augen und sah in Gedanken das Symbol ihrer Zukunft, die rote Rose, in Günthers Hand, wie der Blitz sie beleuchtet, wie der dräuende Himmel seine Tränen in ihren Kelch geweint.
»Wem nie durch Liebe Leid geschah«, zitterte es wie ein schluchzendes Echo durch ihre Seele, »geschah durch Lieb' auch Liebe nie . . .«
Graf Günther aber lachte, und die Flöten und Geigen schmetterten ihren Gruß dazu.
Wie ein farbenschillerndes Meer flutete es in den kurzen Tanzpausen durch die Säle, die angrenzenden Salons und Galerien; da lachte und flüsterte es, da rauschten die Fächer in koketten Händen, da wirbelte Puder und glitzernder Goldstaub, wogten berauschende Parfums, und zwischendurch klirrten die hohen Sektkelche, welche ununterbrochen von den Lakaien auf silbernen Platten präsentiert wurden.
Graf Günther hatte sich in der schmalen Galerie, welche den weißen Saal und Wintergarten verband, behaglich in einen Sessel geworfen, zwei bereits geleerte und ein noch volles Champagnerglas neben sich auf dem von zwei Majolikamohren gestützten Kaminsims und den Fächer des Fräuleins von Dienheim lässig bewegend in der Hand.
Hattenheim trat in die Tür, warf einen schnellen, spähenden Blick über den kurzen Gang und trat dann schnell und direkt auf Günther zu.
Sein auffallend farbloses Antlitz sah förmlich alt aus, so tiefe Falten und Furchen senkten sich in die Stirn und um die Mundwinkel, düster brannten die sonst so heiter und mild blickenden Augen, und die Hand, welche sich dem Freund sonst bei jeder Gelegenheit so herzlich entgegenstreckte, hing regungslos, fest zusammengeballt hernieder.
»Na, Dicker, führt Dich die Sehnsucht zu mir?«, nickte ihm Lehrbach zu und dehnte mit einem Stoßseufzer die Arme, »'s ist mal wieder die reine Pferdearbeit heute Abend, fühle meine Knochen kaum noch! Setz' Dich doch, Alterchen, Du verbaust mir ja die Aussicht nach der interessanten Gruppe da drüben, wo die Katholikin eben dem protestantischen Stiftspfarrer den Katechismus abhört.«
Hattenheim rührte sich nicht. Sein scharfer Blick hing an Lehrbachs Antlitz, als wolle er bis auf den Grund der Seele schauen; er sah, dass der junge Offizier diesen Blick mied, dass seine heitere Harmlosigkeit fingiert war. Fester noch presste er die Lippen zusammen.
»Du hast recht, Günther, es ist ein animierter Abend heute, so lustig und heiter, dass selbst ich die Absicht habe, zu tanzen.«
Betroffen schaute Graf Lehrbach empor, die Worte und die Stimme Reimars passten so gar nicht zusammen.
»Aha, Du willst tanzen? Recht so, Dickerchen! Du verdienst Dir Gottes Lohn und betätigst mal wieder meinen alten Ausspruch, dass Du ein rührender Kerl bist. Kann mir schon denken, für wen Du Dich in einem schneidigen Cotillon aufopfern willst, habe auch auf Dich gerechnet, denn ich selbst, na, verstehst mich wohl, Reimar, als Vortänzer ging's bei Gott nicht!«
»Nein, als Vortänzer kann man mit keinem Gänseliesel tanzen, man würde sich ja allzu sehr mit seinem Opfer an den Pranger stellen, und das ist nicht vorteilhaft für den Protegé der Prinzess Sylvie!«, nickte Hattenheim mit bitterem Lächeln. »Habe es auch niemals von Dir erwartet, Günther, leider Gottes nicht.«
»Ich weiß, dass ich Deine Vorwürfe verdiene, aber ich bitte Dich, eine andere Zeit und einen neutraleren Boden zu diesem tête-à-tête zu wählen.« Der Husarenoffizier hatte das schöne Haupt momentan gesenkt, er atmete schwer auf und streckte Hattenheim die Hand entgegen. »Wenn sie nur andere Toilette gemacht hätte, Reimar, aber dieser ridicule Staat aus Großmutters Schatzkästlein, beim Himmel, ich will lieber vierzehn Tage lang jeden Mittag Lungenhaschee essen, als mich heute Abend mit dem kleinen Unglücksraben präsentieren!« Günther zwang sich wieder zu einem übermütigen Ton, drückte die Hand des Freundes und sagte mit seinem so unwiderstehlich liebenswürdigen Lachen: »Ich amüsiere mich heute Abend so brillant, Dicker, tu' mir die einzige Liebe und mach' nicht mehr dieses furchtbare Henkergesicht, sondern komm morgen zum Frühstück zu mir und sag' mir mit Deiner ganzen, zerschmetternden Überzeugung, dass ich ein grundschlechter Kerl bin! – Und wie ein Lämmchen will ich leiden, nur vergeben sollst Du mir!«, fügte er trällernd, mit entsprechender Geste hinzu.
Über Hattenheims Züge zuckte es wie tiefe Wehmut. »Ich kam nicht hierher, Dir Vorwürfe zu machen, Günther«, sagte er sehr ernst. »Dazu habe ich kein Recht. Aber ein anderer Grund führt mich zu Dir, ein Grund, über den Du vielleicht sehr lachen wirst, der Dir aber beweisen soll, wie gewissenhaft ich bin!«
...