
- 69 Seiten
- German
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eBook - ePub
Der tolle Mensch
Über dieses Buch
Die letzten 50 Jahre haben mit ihrem ungeheuren Tempo reichlich Rasanztraumen und Bremsspuren hinterlassen. Die 43 Kurzgeschichten und 75 Aphorismen dieses Buches sind Zeugen dieser Zeit und so als NOTAUFNAHMEN im übertragenen Sinne zu verstehen. Sie wurden über die Jahre hinweg von mir selbst verfasst und dienten mir häufig als Resümee, Wegzehrung und Hilfe.Meine Bitte ist, das Buch nicht in einem Rutsch zu lesen, sondern sich Zeit zu lassen und jede einzelne Geschichte auf sich einwirken zu lassen. Danke!
Häufig gestellte Fragen
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Information
1 PUNKT 4 5 7
Auf der Heimfahrt mit seinem Firmenwagen kam bei Stefan Niemitz aus
für ihn nicht erklärlicher Ursache nachhaltige Übelkeit auf. Sie
steckte auf einmal in ihm und wollte nicht mehr aus ihm heraus.
Obwohl die Klimaanlage angestellt war, hatte er das Bedürfnis, das
Seitenfenster seines dunkelblauen Passats ein wenig
herunterzudrehen. Lärm, der wegen der regennassen Fahrbahn und des
auffallend hektischen Straßenverkehrs aufdringlicher als sonst
erschien, veranlasste ihn nach einem Moment des Zögerns, die
Scheibe wieder hochzufahren. Der Verkehrsfunk meldete sich mit
einer kurzen Nachricht zu Wort. Gereizt schaltete Niemitz das Radio
aus.
Beim Stopp vor einer belebten Kreuzung realisierte er, dass ihm
momentan entfallen war, welches Produkt bzw. welche Dienstleistung
seine Firma, in der er seit mehr als einem Jahr arbeitete, auf dem
Markt anbot. Dieser Aussetzer seines Gedächtnisses irritierte ihn,
obwohl es mehrere Gründe für dieses passagere Versagen gab. Er
hatte einen langen Arbeitstag hinter sich und war mehr als sonst
erschöpft. Die augenblickliche Verkehrssituation erforderte alle
Konzentration. Und nicht zuletzt beeinträchtigte der aufkommende
Brechreiz ihn so stark, dass es nicht verwunderlich war, dass Teile
seines Großhirns mehr oder weniger außer Funktion gesetzt waren.
Der Regen wurde dichter. Der Scheibenwischer mühte sich ab, die
Sicht nach vorn freizuhalten. Niemitz versuchte das Problem
indirekt anzugehen, indem er zu rekapitulieren versuchte, wie sein
Arbeitsfeld aussah. Maschinen, Werkstücke, irgendwelche Fabrikate
konnte er – selbst bei großen Anstrengungen – nicht visualisieren.
Produktionsanlagen und Lagerhallen tauchten vor seinem inneren Auge
auf. Aber sie blieben merkwürdig fern und irgendwie fremd.
Er meinte, sich erinnern zu können, heute einer
PowerPoint-Präsentation beigewohnt zu haben. Er sah die Ziffern 1
Punkt 4 5 7 noch deutlich vor seinen Augen. Aber waren es
Tausend oder Millionen, waren es Stückzahlen oder Euros, Output pro
Arbeitskraft oder Minuten pro Werkstück – er wusste es nicht.
Er beschleunigte, um besser aufzuschließen. Der Hintermann
praktizierte einen nahezu nötigenden Fahrstil. Beim Blick durch die
regennasse Seitenscheibe meinte Niemitz, sicherlich war das
eine Täuschung, die Silhouetten und Halbprofile seiner Kollegen
erkennen zu können, wie sie im Halbdunkel des Beamers zwischen
innerer Anspannung und Langeweile hin und her changierten und im
vollen Licht die Maske von unterwürfigen, latent bisswütigen
Sakkoträgern annahmen.
Der PKW hinter ihm, immer noch derselbe, drängelte und hing ihm
beim Stop and Go nahezu auf der Stoßstange. Niemitz machte nicht
einmal den Versuch, sich die Autonummer zu merken. Alles Neue war
ihm zuwider, das Vergangene entzog sich seinem Zugriff. An das im
Vortrag Präsentierte konnte er sich, so sehr er sich auch bemühte,
nicht einmal ansatzweise erinnern. Er versuchte, den Tagesablauf zu
rekonstruieren. Er war früher als sonst zur Arbeit gefahren, warum
– darüber konnte er nur spekulieren. Er sah sich mit leicht
verzögerten Schritt und entschlossener Miene die Führungsetage
betreten, um den einen persönlich mit Handschlag zu begrüßen, den
anderen dort devot durch die Glasscheibe zuzunicken, um sogleich
anschließend den kleinen Pulk, der sich zu einem spontanen
Tete-a-Tete zusammengefunden hatte, kurz und, fast ohne den Schritt
anzuhalten, zu umarmen.
Niemitz war verärgert, nicht so sehr über das Parken in der zweiten
Reihe, das ihn zu einer recht abrupten Bremsung zwang, sondern dass
ihm bei all diesen Zahlenkolonnen und Diagrammen nicht in den Sinn
kam, worauf sie sich bezogen. Die durchschnittliche Kalorienzahl
pro Burger-Menu in England, Deutschland und in den Vereinigten
Staaten konnte es nicht sein. Er war in dieser Firma die
Karriereleiter hinauf gefallen und hatte sie, kaum dass er Boden
unter den Füßen gefasst hatte und ihn die Realität einzuholen
drohte, wieder in Richtung ‚weiterer Aufstieg’ verlassen.
Auch um effektive Kostengewichte, Basis- und Sonderentgelte bzw.
Verweildauern konnte es sich bei den Werten auch nicht handeln.
Seine Arbeit für ein aufstrebendes Krankenhausunternehmen war im
Rahmen eines Restrukturierungsprojekts erfolgt und lag schon
längere Zeit zurück.
Niemitz wurde es leicht schwindelig. Die in ihm schwelende Übelkeit
zeigte offenbar keine Anzeichen einer spontanen Besserung, ganz im
Gegenteil. Ob sie mit seinem Unvermögen, den Ziffern und Zahlen
einen Namen zu geben und sich dessen, was seine jetzige Firma
eigentlich auf dem Markt substantiell anbot, bewusst zu werden, zu
tun hatte, konnte er nicht genau sagen. Übel wurde ihm nämlich auch
schon bei dem Gedanken, dass die Scores, Benchmarks und
Leitziffern, die man ihm zu generieren abverlangte und die er in
all den Jahren seines bisherigen Berufslebens wohlfeil angeboten
hatte, auf ein und demselben Betrug beruhten: pseudogenaue
Datenerhebungen zu generieren, um dann mal hier 10, mal dort 15
Prozent mehr Leistung zu verlangen und zum Ersticken jedes
aufkommenden Protests mal hier 20, mal dort 25 Prozent der
Arbeitskräfte zu streichen.
Widerlich saurer Geschmack stieg aus seinem Magen auf und zwang ihn
zu würgen. Eindrücke beruflicher Einsätze, bei denen er sich nicht
sicher war, ob er sie er erlebt hatte oder ob sie bloße Fiktion
waren, tauchten in ihm auf. Zwischen Warenpaletten, die bis zum
Himmel und endlos bis zum Horizont reichten, wähnte er sich,
glaubte in einer menschenleeren Fabrikhalle zu sein, hörte
ohrenbetäubenden Produktionslärm, meinte den Geruch brandneuer Ware
zu riechen und musste sich endgültig verloren geben in dem
Labyrinth von Stellwänden, Monitoren und Kunststoffpalmen eines aus
den Fugen geratenen Großbüros. Die Ziffern 1 Punkt 4 5 7 entzogen
sich trotz aller Bilder jeder Deutung. Es fehlte nach wie vor die
benennende Einheit.
Von plötzlich aufkommendem Ekel ergriffen musste Niemitz anhalten
und, um den Verkehr nicht zu stören, seitlich nach vorn einparken.
Durch den herunter prasselnden Regen blinkte ihm aufdringlich ein
grelles Diagramm mit jäh aufsteigender Kurve entgegen. Geblendet
schloss er die Augen. Ängstlich in sich hineinhorchend spürte er
den Wellen der inneren Abwehr nach und wusste nicht zu entscheiden,
ob es besser sei, die Phase der körperlichen Revolte im Auto
sitzend oder außerhalb von diesem zu überstehen. Die Klimaanlage
lief auf vollen Touren.
Mehrere Minuten verbrachte er in diesem kritischen Zustand, als das
Handy überraschend, aber letztendlich wie gerufen klingelte.
Niemitz musste das Headset, das er vorher in seiner Not vom Kopf
gerissen hatte, erst umständlich aufsetzen. Er atmete tief ein,
bevor er das Gespräch annahm. Es meldete sich die Personalberaterin
eines Headhunters, mit der er schon längere Zeit in Kontakt stand
und die nun recht unumwunden erklärte, warum die IT-Branche keine
Herausforderung mehr für ihn sei, und ihm ein neues Aufgabenfeld in
der Logistik verhieß. Niemitz bat darum, weitere Einzelheiten unter
seiner privaten E-mail-Adresse zugeleitet zu bekommen. Ein
persönliches Gespräch stellte er nach Einsicht der Unterlagen in
Aussicht.
(2006)
Artgerechte Tierhaltung
Man reist, so heißt es, um neue Eindrücke zu gewinnen. Zum Beispiel
den von einer Touristin, die mit ihrer kreischenden Stimme
fast einen schlafenden Hund weckt, so sehr ist sie von Mitleid
gerührt mit diesem am Hafen von Rhodos unter Gottes freiem Himmel
ein Hundeleben führenden Wesen. Im Vorbeigehen konstatiere ich
dagegen eine artgerechte Tierhaltung. Wie ich mich vom Ort der
Rührung langsamen Schrittes entferne und zunehmend Abstand gewinne,
verfliegt der anfängliche Trotz in mir. Er gibt einer Stimmung
Raum, die zwischen diffuser Wehmut und gelassener Heiterkeit
darüber schwankt, dass mir, der ich hartnäckig das Passwort
verweigere, Welten verschlossen bleiben.
(2000)
ASYMMETRISCH
Dank des amerikanischen Überfalls auf den Irak bin ich einiger
Illusionen beraubt, aber um einen Begriff reicher, und zwar um den
der asymmetrischen Kriegsführung. Nicht dass mich die neue
Strategie verwundert, wo doch die Verrohung der kriegerischen
Mittel wahrlich nichts Überraschendes ist, aber es reizt
mich, den Begriff der Asymmetrie, der bis zu diesem Krieg bei mir
gedanklich eine unbedeutende Rolle spielte, mehr Gewicht
einzuräumen, und zwar indem ich ihn auf Assoziationsfelder
übertrage, die bislang von ihm unberührt sind. Wie wäre es, wenn
man von der doppelten Buchführung zu einer asymmetrischen übergehen
würde? Verdient eine asymmetrische Aufführung eines Theaterstücks
besonders viel Applaus oder eher Buhrufe? Ist eine asymmetrische
Ehe die Regel oder der Anfang vom Ende? Die Vorstellung einer
Asymmetrie erweist sich als recht ausbaufähig. Sie lässt sich mit
einer Reihe von Begriffen wie Kommunikation, Basis, Lebensführung,
Operation etc. mühelos verbinden und damit mal mehr, mal weniger
bizarre Gedankenwelten entstehen. Fraglich ist bei all diesen
Kombinationen, ob die Idee die Wirklichkeit abbildet oder sie sogar
gebiert. Rumsfelds Taktik mag Erfolg haben oder durch gegnerische
Reaktionen bereits überholt sein. Die Idee einer
asymmetrischen Welt bleibt, mag diese so interpretiert oder so
geschaffen werden.
(2003)
AUFSTANDSBEKÄMFUNG
Die Wände meines Zimmers verraten mich. Sie sagen: „Da ist er!“
Sie zeigen auf mich, meinen mich.
Sie sehen mich an.
Sie sehen, dass ich nackt bin, erschreckend blass, innerlich leer.
Meine Scham schützend biete ich den Mauern meine Stirn. Mein Mienenspiel verrät keine Bewegung.
Sie blicken unbarmherzig zurück.
Ich versuche, mich mit vorsichtigen Schritten zur Türe zu bewegen. Mein Tritt knarrt, dass es in den Ohren schmerzt. Der Rückzug ist versperrt.
Ich bleibe stehen.
Ich leugne nicht.
Aber gestehen will ich auch nicht, will mir noch alle Optionen offen halten. Hoffe, mich noch einmal aus der verfahrenen Lage herauswinden zu können, gehen doch meine inneren Kämpfe, die mühsam unterdrückten, niemanden was an.
Ich habe nichts gemacht, gebe ich zu verstehen. Wenigstens nichts, was aus der Norm fällt. War stets vorsichtig, immer angepasst.
Die Wände deuten auf meine Hände.
Die seien nicht schmutzig, behaupte ich unverfroren. Und wirklich, wenn ich sie mir so geradewegs anschaue, scheint kein Fehl an ihnen zu sein.
Ich hebe meinen Kopf, um Widerstand zu signalisieren.
Die Wände verharren stur im begonnenen Verhör.
Sie hören nicht auf, genauer nachzufragen.
Sie setzen mir zu.
Sie bedrängen mich.
Mein Problem, ich sehe es, ist die Feigheit – die Feigheit zu leben.
Nur rundum versichert, mit Splitterschutzweste und Knieschonern, mit Helm und Unterarmprotektoren ausgerüstet, traue ich mich auf den Weg.
Sie werfen mir vor, mehr Deckung zu suchen als präsent zu sein.
Was daran schlimm sei, frage ich trotzig.
Die Tapeten ziehen fast unmerklich ihre Augenbrauen hoch.
Zur Sicherung meiner Existenz im täglichen Geschäft, wird mir vorgehalten, habe ich gescheut, Position zu beziehen, sei ich zu faulen Kompromissen bereit gewesen, habe ich mich allzu oft aus allem herausgehalten, immer auf Zeit gespielt und mich sogar hin und wieder im kleinen Verrat geübt. Raufaser anstelle von Mustertapete sei meine Option gewesen, Mehrdeutigkeit meine Tarnung. Statt mutig voranzuschreiten, habe ich feige die Deckung gesucht, umgeben von Feinden vorgezogen, mich zu verkriechen.
Doch Aufstandsbekämpfung, so sehe ich es jetzt in meiner Not, läuft anders. Ich, der so zaghaft war, werde der Feinde nicht mehr Herr. Sie überrennen mich, dringen in mich ein, bringen mich von innen zum Bersten. Ich fürchte, nic...
Inhaltsverzeichnis
- 1 PUNKT 4 5 7
- Artgerechte Tierhaltung
- ASYMMETRISCH
- AUFSTANDSBEKÄMFUNG
- BASSLINIE
- DAS QUADRATISCHE FENSTER
- DER BOTE
- DER EMPFANG
- DER HORIZONT
- DER KONKRETE RAUSCH
- DER TOLLE MENSCH
- DER TÜMPEL
- DIE EWIGE REIFEPRÜFUNG
- DIE KUH
- DIE TRINKERIN
- ERLÖSUNG
- ERSCHAFFEN
- EUROSPORT
- FLÜCHTIG
- FREMDES LAND
- GRUß
- ICH, DER OFEN
- IDENTITÄT
- IN DER U-BAHN
- KOPFTUCH
- KUNSTLICHT
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