Katharina Böhnert, Matthias Hölzner
Sprachdidaktik und Inklusion
Eine Bestandsaufnahme
Die inklusive Sprachdidaktik steht – wie der Bereich Inklusion in der Deutschdidaktik insgesamt – erst am Anfang: Es mangelt sowohl an einer umfassenden Beschreibung des Forschungsfeldes als auch an didaktisch-methodischen Entwürfen und empirischen Studien. Dennoch liegt bereits eine nicht unerhebliche Anzahl vielversprechender Ansätze vor. Der folgende Aufsatz versucht eine Bestandsaufnahme und plädiert für mehr Lernen an gemeinsamen Gegenständen.
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1. Herausforderungen an eine inklusive Sprachdidaktik
Die vor mehr als zehn Jahren durch das Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention erfolgte Neuausrichtung der Schule im Rahmen der Inklusion stellt die Fachdidaktik vor (immer noch) neue Herausforderungen. Es gilt fachdidaktisch ausgerichtete Antworten darauf zu finden, wie Schülerinnen und Schüler mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen zusammen an den Gegenständen des Faches Deutsch lernen können: Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf, mit und ohne uneingeschränkten Zugang zur deutschen Sprache, mit unterschiedlichen soziokulturellen Hintergründen und mit unterschiedlichen Begabungen (weiter Inklusionsbegriff). Doch die Entwicklung entsprechender Konzepte für den Unterricht mit sprachdidaktischen Gegenstandsbereichen steht – ebenso wie die fachdidaktische Forschung zu Inklusion in der Sprachdidaktik – erst am Anfang.
Dies mag auch daran liegen, dass sich die inklusive Sprachdidaktik in einer ganzen Reihe von »Spannungsfeldern« (Hennies/Ritter 2014a, S. 11) bewegt. Diese sind für eine heterogenitätssensible Deutschdidaktik generell zu konstatieren, sie werden jedoch durch die stark ausgeprägte Heterogenität inklusiver Lerngruppen noch verstärkt.
Einige dieser Spannungsfelder sollen hier kurz skizziert werden:
• In derart heterogenen Lerngruppen, wie sie in inklusiven Unterrichtssettings zu finden sind, gilt es, das Verhältnis zwischen der Individualisierung des Unterrichts zur Erreichung individuell angepasster Lernziele und dem gemeinsamen Lernen auszutarieren (vgl. Hennies/Ritter 2014a, S. 11 f.).
• Eine starke Individualisierung des Unterrichts muss so erfolgen, dass die standardisierten Vorgaben für den Deutschunterricht nicht aus dem Blick geraten (vgl. ebd., S. 12 f.).
• Eine inklusive Sprachdidaktik muss auf der einen Seite an einer allgemeinen inklusiven Didaktik (vgl. Feuser 1995) orientiert sein, auf der anderen Seite aber auch die fachwissenschaftlichen Zugänge des Faches Deutsch berücksichtigen und beides zueinander in Beziehung setzen (vgl. ebd., S. 13).
• Inklusive sprachdidaktische Ansätze finden sich bisher mit zweierlei Ausrichtung: Während einige Ansätze darauf ausgerichtet sind, den Lernnachteilen einzelner Schülerinnen und Schüler durch Angebote der Kompensation zu begegnen, um zu gemeinsamen Unterrichtsergebnissen zu kommen, stellen andere Ansätze insbesondere die Diversität von Lernprozessen und Lernergebnissen heraus (vgl. Naugk u. a. 2016, S. 42).
• Auch über die Lernziele inklusiver Sprachdidaktik besteht Klärungsbedarf: Ist das Ziel, alltagsrelevante sprachliche Vielfalt abzubilden, zu akzeptieren und im Unterricht zu thematisieren, oder ist das Ziel die Vermittlung standardsprachlicher Normen? (vgl. Kern 2019, S. 349)
Zu den angeführten Spannungsfeldern dieser (nicht abgeschlossenen) Liste gibt es in der Sprachdidaktik keine konsensuale Positionierung. Hieraus erwachsen unmittebare Konsequenzen für die Gestaltung des inklusiven Deutschunterrichts. Denn aus den ungeklärten Positionierungen innerhalb jedes Spannungsfeldes ergeben sich jeweils ungeklärte Fragen für die Unterrichtsgestaltung (vgl. Knopp/Becker-Mrotzek 2018, S. 89 f.):
Aus dem Spannungsfeld »Individualisierung – Standardisierung« resultiert die Frage, inwiefern sich zielgleiches und zieldifferentes Lernen in einem inklusiven Curriculum zusammenführen lassen. Aus dem Spannungsfeld »inklusive Didaktik – fachwissenschaftliche Zugänge« erwächst die Frage nach der Kooperation unterschiedlicher Professionen (Sonderpädagogik – Regelpädagogik) und nach dem Potenzial, das eine in Bezug auf die Sonderpädagogik interdisziplinär ausgerichtete Fachdidaktik haben könnte (z. B. mit dem professionellen Blick auf die einzelnen sonderpädagogischen Förderbedarfe). Mit der Positionierung im Spannungsfeld »Kompensation – Diversifizierung« bzw. mit der Ausgestaltung eines »Zusammenspiels« (Naugk u.a. 2016, S. 42) zwischen diesen beiden Perspektiven steht und fällt im Grunde genommen die gesamte Ausrichtung der individuellen Förderung in einem inklusiven Unterricht. In kompensatorischen Ansätzen etwa liegt das Hauptaugenmerk auf dem Ausgleich von Benachteiligungen, um so gemeinsame Lernziele zu erreichen. In diversifizierenden Ansätzen hingegen wird die Heterogenität der Lerngruppe nicht nur als Ausgangspunkt des Lernens, sondern auch in dem Sinne als Lernziel angenommen, dass individuelle Arbeitsergebnisse ganz unterschiedlicher Ausprägung und auf ganz unterschiedlichem Niveau als Erfolge auf einem jeweils individuellen Lernweg wertgeschätzt werden (vgl. ebd., S. 35–43).
2. Forschungsüberblick, Ankerpunkte und Desiderata
Arbeiten zur inklusiven Sprachdidaktik konzentrieren sich im Wesentlichen auf drei Forschungsbereiche (vgl. Granzow/von Brand 2018, S. 75): Zum einen liegen Arbeiten zur Erforschung inklusiven Deutschunterrichts vor, bei denen der Fokus auf grundsätzlichen theoretischen Fragestellungen, etwa Arbeiten zum Heterogenitätsbegriff in der Deutschdidaktik, oder auf Problemaufrissen mit Leitfragen zur Erschließung des Forschungsfeldes liegt (vgl. Hennies/Ritter 2014a). Aus solch theoretischen Überlegungen heraus resultiert bspw. auch der Ansatz von Naugk u. a. (2016), der eines der Hauptprobleme einer konsequent zu Ende gedachten Heterogenität in der stets verbleibenden und beispielsweise in der Sprachdidaktik besonders stark ausgeprägten Normorientierung sieht:
Die Aufgabe einer inklusionsadaptiven Deutschdidaktik besteht demnach darin, die starke normative Orientierung der Fachdidaktik insofern aufzubrechen, dass sich individuelle Entwicklungen innerhalb einer Gruppe nicht nur als »mehr oder weniger erfolgreich« beschreibbar zeigen, sondern dass auch gemeinsame Lernprozesse in einen fachlichen Beschreibungskontext eingebettet werden können, der für alle Lernenden fachwissenschaftlich relevante Anschlusspunkte bereithält [...]. (Naugk u. a. 2016, S. 42 f.)
Zum anderen konzentrieren sich Forschungsarbeiten auf die Untersuchung konkreter inklusiver Unterrichtssettings, häufig in der Darstellung gelungener Praxisbeispiele (etwa von Brand/Brandl 2017, Teil B), selten mit einer empirischen Überprüfung von deren Wirksamkeit. Zudem beziehen sich diese Praxisbeispiele nicht gleichermaßen auf alle Bereiche des Deutschunterrichts und auf alle Schulstufen, zum Kompetenzbereich »Sprache und Sprachgebrauch reflektieren« im Sekundarstufenbereich liegen bspw. – mit Ausnahme von Hölzner (2014) und Hochstadt (2015) – kaum Vorschläge vor.
Schließlich konzentriert sich eine dritte Sorte von Forschungsarbeiten auf die unterschiedlichen Professionen in inklusiven Settings, etwa auf die diagnostischen Fähigkeiten, über die LehrerInnen und Lehrer verfügen müssen, um Kompetenzen und Lernbedarfe in sprachdidaktischen Gegenstandsbereichen adäquat zu erkennen und, darauf aufbauend, zielgerichteten adaptiven Unterricht konzipieren zu können (z. B. Schäfer/Rittmeyer 2015). Zu dieser Sorte von Untersuchungen zählen auch Erhebungen zu den fachlichen Einstellungen zu inklusivem Unterricht, etwa von Deutschlehrerinnen und Deutschlehrern (vgl. z. B. Böhnert 2019).
Aus den vorliegenden Forschungsarbeiten kristallisieren sich für den inklusiven Unterricht mit sprachdidaktischen Gegenständen einige wichtige »Ankerpunkte« (Granzow/von Brand 2018, S. 80) heraus. Hierbei handelt es sich in der Regel um bereits vorliegende sprachdidaktische Konzeptionierungen, die für die inklusive Arbeit anschlussfähig sind.
Einige solcher »Ankerpunkte« sollen im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden:
2.1 Beispiel Leichte Sprache
Seit Längerem wird in der Sprachdidaktik das Potenzial der Leichten Sprache diskutiert. Ziel ist es, durch die Verwendung Leichter Sprache, die insbesondere im Verzicht auf komplexe sprachliche Strukturen (z. B. komplexe Satzgefüge, Passivkonstruktionen, komplexe Wortbildungen) besteht, komplizierte Sachzusammenhänge nach bestimmten Regeln adressatengerecht aufzubereiten und somit für benachteiligte Gruppen zugänglich zu machen. (vgl. Bock 2016, S. 80–86). Obwohl sie nicht explizit für didaktische Zwecke entwickelt worden ist, verfügt die Leichte Sprache über didaktisches Potenzial, zum Beispiel wenn es darum geht, anspruchsvollere Texte – gerade in der Sekundarstufe I – für zieldifferent zu unterrichtende Schülerinnen und Schüler zugänglich zu machen. Aus der Sprachwissenschaft und -didaktik wird jedoch auch Kritik am Konzept der Leichten Sprache geäußert. Sprachliche Vereinfachungen gehen zwangsläufig (sofern man keinen deutlich längeren Text produzieren möchte) mit inhaltlichen Reduktionen einher. Die anvisierte Zugänglichkeit für alle mittels Leichter Sprache sei somit nicht uneingeschränkt gegeben (vgl. Bock 2016, S. 87 f.). Erschwerend kommt noch hinzu, dass bspw. bei der Besprechung eines Textes eine Transformation des Textes in Leichte Sprache nicht für alle Schülerinnen und Schüler einer heterogenen Lerngruppe gleichermaßen adäquat sein kann (vgl. ebd., S. 88). Daher empfiehlt Krafft (2019) sorgfältig abzuwägen, ob auf Leichte Sprache oder »leichte Texte« (Rosebrock 2019) zurückgegriffen wird, oder ob im inklusiven Deutschunterricht anspruchsvolle Texte nicht eher über flexible Hilfestellungen bewältigbar gemacht werden könnten, indem Schülerinnen und Schüler die jeweils individuellen Hilfsangebote erhalten, die sie benötigen (vgl. Krafft 2019, S. 310 f.).
2.2 Beispiel Scaffolding
Dem ersten Beispiel scheinbar entgegengesetzt orientiert ist ein methodischer Ansatz aus dem sprachsensiblen Fachunterricht: Mit Hilfe des sogenannten »Scaffoldings« (z. B. Gibbons 2006) soll es Schülerinnen und Schülern erleichtert werden, selbst sprachlich komplexere Ausdrücke zu verwenden und sich so leichter bildungssprachlich1 äußern zu können. Dabei bekommen die Schülerinnen und Schüler, ausgehend von dem, was sie selbst schon formulieren können, ein sprachliches »Gerüst« temporär zur Verfügung gestellt, mit dessen Hilfe sie ihr eigenes Formulierungspotenzial in eine komplexere und komprimiertere, bildungssprachliche Äußerung überführen können. Ziel ist es, dieses »Gerüst« später wieder »abbauen« zu können, damit die Schülerinnen und Schüler nun selbst auf die gelernten Strukturen zurückgreifen können (vgl. Gebele/Zepter 2016, S. 109–111). Zum Scaffolding liegen in der Sprachdidaktik bereits eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten vor. Die heterogenitätssensiblen, kompensatorisch ausgerichteten Vorzüge dieser Methode liegen auf der Hand. Gerade Schülerinnen und Schülern mit größerem sprachlichem Entwicklungspotenzial ermöglicht sie in den Kompetenzbereichen »Sprechen« und »Schreiben« eine schnelle und einfache Verbesserung ihrer sprachlichen Produkte. Beispielsweise versuchen Gebele und Zepter (2016) mit ihrem Ansatz, die Anschlussfähigkeit dieses Konzeptes für inklusive Lerngruppen derart ...