1. Teil:
Dr. Wilhelm Hendricks-Hamburger – der Lebensweg eines außergewöhnlichen Österreichers
Kindheit und Familie
Wilhelm August Artur Hamburger wurde am 15. Dezember 1917 in Matzleinsdorf bei Melk geboren. Er entstammte einer Industriellendynastie: Die Familie – ursprünglich „Homburger“ geschrieben – stammt aus dem damals schwäbischen Hegau, nordwestlich des Bodensees gelegen. Er erhielt den Taufnamen seines Großvaters: Wilhelm Hamburger (1821–1904) aus Blumenfeld (heute ein Teil von Tengen im Landkreis Konstanz am Bodensee) hatte es früh in die weite Welt gezogen. Er war ein geschickter Techniker, hatte am Polytechnikum in München studiert und bewährte sich als Konstrukteur verschiedener Maschinen. Nach Tätigkeiten in mehreren Ländern arbeitete er ab 1849 in der Werdmüller’schen Papierfabrik in Pitten in Niederösterreich und gründete 1853 seine eigene Papierfabrik, die bis heute als W. Hamburger AG im Rahmen der Prinzhorn Holding besteht.7
Die Familie Hamburger um 1900; in der Mitte Therese, geb. Glöckler, und Wilhelm Hamburger. Foto: W. Hamburger AG
Auch drei der vier Söhne des „Gründervaters“ waren in der Papierindustrie tätig; mehrere Töchter heirateten Söhne aus anderen Industriellenfamilien. In gewisser Weise erinnert die „dynastische“ Heiratspolitik der Familie Hamburger fast an jene der Habsburger in früheren Jahrhunderten, mit weitreichenden familiären Verbindungen innerhalb der österreichischen Papierindustrie. Lediglich der vierte und jüngste Sohn des Gründers, Dr. Franz Anton Hamburger (1874–1954), wurde Arzt und Professor für Kinderheilkunde in Graz und später in Wien.
Fritz Hamburger als Reserveoffizier im k. u. k. Dragoner-Regiment Nr. 2. Foto: Winter, Wien, via Mag. Judit Hendricks-Sebesy
Ing. Friedrich „Fritz“ Hamburger (der Vater „unseres“ Wilhelm Hamburger) kam am 8. Mai 1869 als dritter Sohn Wilhelm Hamburgers in Pitten zur Welt. Durchaus standesgemäß für einen Angehörigen des gehobenen Bürgertums rückte er nach der Matura – an der Landes-Fachschule für Maschinenwesen in Wiener Neustadt – am 29. Oktober 1886 als Einjährig-Freiwilliger zum k. u. k. Dragoner-Regiment Nr. 2 ein.8 Dies war eines der vornehmsten Regimenter der k. u. k. Armee und führte sich auf das 1672 aufgestellte Kürassier-Regiment des Grafen Antonio von Caraffa zurück. Inhaber des Regiments zu Hamburgers Dienstzeit war General Eduard Graf Paar (1837–1919), der Generaladjutant des Kaisers. Hamburger wurde Ende 1888 zum Leutnant der Reserve in diesem Regiment ernannt und 1896 – nach Ablauf der zehnjährigen Dienstverpflichtung im k. u. k. Heer – in den nicht-aktiven Stand des k. k. Landwehr-Ulanen-Regiments Nr. 4 versetzt.9 Seine Dienstbeschreibung war ausgezeichnet, die finanziellen Verhältnisse (mit einem jährlichen Einkommen von 4.000,- Gulden 189210) deutlich besser „geordnet“, wie die Formulierung im Personalakt lautete, als wohl bei vielen seiner Altersgenossen. Nach Ablauf der zwölfjährigen Dienstverpflichtung wurde er auf eigenes Ansuchen „gnadenweise“ aus dem Militärverband entlassen – als Reserveoffizier hätte er jeweils seinen Aufenthalt melden müssen, was ihn, wie er später erklärte, „geschäftlich behindert“ hätte.11 Er unternahm zusätzliche technische Studien in Württemberg und Westfalen und führte seit 1891 zusammen mit seinen älteren Brüdern Adolf und Wilhelm die väterlichen industriellen Unternehmungen. 1906 ließ er sich auszahlen, um die Papierfabrik in Neubruck (südlich von Scheibbs im westlichen Niederösterreich) zu erwerben, zu der auch ein kleines Herrenhaus gehörte.12 1912 schied auch Fritz Hamburgers Bruder Wilhelm aus dem Unternehmen aus; es verblieb Adolf Hamburger als einziger Eigentümer. Nach dem Ersten Weltkrieg leiteten dessen Schwiegersöhne Ernst Prinzhorn und Walther Reinthaller die Papierfabrik Hamburger in Pitten, die heute zur Prinzhorn Holding gehört.
Bis zum Ersten Weltkrieg besaß Fritz Hamburger das „Töpperschloss“ in Neubruck, benannt nach dem Industriellen Andreas Töpper. Heute beherbergt es ein nettes Lokal und gilt als „wahres Juwel“ an der niederösterreichischen Eisenstraße. Ansichtskarte, um 1920
1892/93 errichtete Fritz Hamburger, wie er später angab, in den USA „eine Fabrik nach meines Bruders und meinen eigenen Patenten“.13 1899 schien er als Papierfabrikant und Besitzer der Buchdruckerei Köhler & Hamburger auf.14 Er engagierte sich früh in den Bemühungen um die Zusammenarbeit der Arbeitgeber. Damit wollte man die Interessen der Industrie gegenüber Regierung und Verwaltung besser vertreten, aber auch gegen die zunehmende Gewerkschaftsbewegung und die seit 1889 als Partei organisierte Sozialdemokratie. 1917 erörterte er in einem Artikel im Fremden-Blatt die Vor- und Nachteile gewerkschaftlicher Organisation der Arbeitnehmer – wenig überraschend sah er vor allem Nachteile.15 Den Sozialdemokraten freilich galt er als „Führer der Scharfmacher“. Dies mochte auf seine Rolle beim „großen Arbeitskampf in Neunkirchen und Umgebung vom Jahre 1893“ anspielen, bei dem es um die Freigabe des 1. Mai gegangen war.16 1910 erregte sein Versuch, die Berichterstattung der Wiener Neustädter Nachrichten durch finanzielle Zuwendungen zu beeinflussen, Aufsehen.17 Auf den ersten Blick wirkt all dies, als hätte Hamburger dem klassischen Ausbeuter-Stereotyp entsprochen, doch betonte sein Sohn später, der Vater habe ihn früh gelehrt, auch Untergebenen mit Respekt zu begegnen. Fritz Hamburger dürfte am ehesten dem Typ des patriarchalen Unternehmers entsprochen haben, der sich zwar gegen die Einmischung von Regierung oder Gewerkschaft in die innerbetrieblichen Strukturen wehrte, aber durchaus auch das Wohl seiner Mitarbeiter im Auge behielt. Es sei hier übrigens angemerkt, dass es eine reizvolle und lohnende Aufgabe wäre, Fritz Hamburger eine biografische Studie zu widmen.
1897 spielte er eine wesentliche Rolle bei der Gründung des Bundes österreichischer Industrieller, der – anders als der Industrielle Club von 1875 und der 1892 gegründete Zentralverband der Industriellen Österreichs, die eher die Interessen der Großindustrie vertraten – vor allem Klein- und Mittelbetriebe repräsentierte. Ab 1906 fungierte Hamburger als Vizepräsident des Bundes. 1899 war er an der Gründung des Vereins der Buchdruckereibesitzer Niederösterreichs beteiligt und wurde als einer von vier Delegierten in den Reichsverband gewählt.18 Ab 1905 war er Vizepräsident des Vereins der österreichisch-ungarischen Papierfabrikanten.19 Aus dem Bund österreichischer Industrieller, dem Industriellen Club und dem Zentralverband der Industriellen Österreichs konstituierte sich im März 1907 die Hauptstelle der Arbeitgeber-Organisation der österreichischen Industriellen, zu deren Präsident Hamburger gewählt wurde.20
Bereits 1905 – mit 32 Jahren – erhielt Hamburger, inzwischen k. k. Kommerzialrat, das Ritterkreuz des Franz-Josephs-Ordens verliehen.21 In zahlreichen Unternehmungen war er als Verwaltungsrat vertreten, von der Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft über den Versicherungsverband österreichischer und ungarischer Industrieller in Wien bis zur Lokalbahn Absdorf-Stockerau. Er gehörte dem Staatseisenbahnrat an und war gesellschaftlich bestens vernetzt. Schon 1897 war er unter den Paaren, die unter den Augen des Kaisers den Industriellenball eröffneten (seine Partnerin war die Architektentochter Clara Schlimp, später Hansel, 1876–1965).22 Er war begeisterter Jäger und großzügiger Gastgeber, liebte schnelle Autos und schöne Frauen und galt als Lebemann – Eigenschaften, die auch anderen Mitgliedern der Familie nicht fremd waren und die ebenso das Leben seines Sohnes kennzeichnen sollten. Das Prager Tagblatt bezeichnete Hamburger 1914 als „eine in der Wiener Gesellschaft sehr bekannte und angesehene Persönlichkeit“.23 Ob als Spender in wohltätigen Gesellschaften,24 im Ehrenkomitee zur Vorbereitung der Kaiser-Jubiläums-Ausstellung 1908,25 in verschiedenen Vereinen oder in den Gästelisten nobler Kurorte der Vorkriegszeit – stets tauchte er in Gesellschaft der vornehmsten Namen der Donaumonarchie auf.
Etwa seit 1904 gehörte Fritz Hamburger zum Personenkreis um den Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand (1863–1914), dem er zehn Jahre als Berater diente und für den er auch als Verbindungsmann zu den Wiener Christlich-Sozialen unter dem Bürgermeister Dr. Karl Lueger (1844–1910) fungierte.26 Auch zu dessen Nachfolger Dr. Richard Weiskirchner (1861–1926) dürfte Hamburger gute Beziehungen unterhalten haben.27 Als man Hamburger um 1907 als möglichen Kandidaten für ein Ministeramt nannte (er galt bereits als „Schattenminister“), soll ihm Franz Ferdinand abgeraten haben: „Verbrauchen Sie sich nicht vor meiner Zeit!“28 Der Thronfolger gehörte ebenso wie andere Mitglieder der „ersten Gesellschaft“ – einschließlich des Kaisers – zu den Jagdgästen Hamburgers in Neubruck und seinen anderen Jagden an verschiedenen Orten der Monarchie, und Hamburger war in den Schlössern Franz Ferdinands in Artstetten und Chlumetz (Chlum u Třeboně) zu Gast. Als Erzherzog Leopold Salvator im Juli 1913 das VIII. niederösterreichische Landesschießen in Scheibbs besuchte, gehörte Hamburger zum Begrüßungskomitee und lud den Erzherzog zum Diner nach Neubruck; anschließend „verabschiedete sich der Erzherzog in liebenswürdigster Weise von dem Schlossherrn Industriellen Fritz Hamburger“.29
Fritz Hamburger in der Uniform des Kaiserlichen Yacht-Clubs.
Foto: Victor Angerer, via Mag. Judit Hendricks-Sebesy
Angesichts der Begeisterung des Thronfolgers für die Marine war Fritz Hamburger natürlich Mitglied im Kaiserl...