1 Einleitung
„Die Amerikaner schätzen Deutschland als wirtschaftlichen Koloss, haben es aber als strategischen Partner abgeschrieben, dito die Briten. Welche Ironie! Die Deutschen haben sich nach 1945 geschworen, nie wieder allein zu sein. In der strategischen Arena schreitet die Selbst-isolierung voran.“ (Josef Joffe, Die ZEIT 07. November 2013)
1.1 Thema und Problemstellung
Die deutsche Haltung im Rahmen außenpolitischer Entscheidungsprozesse im Verhältnis zu derjenigen der Bündnispartner wird fortwährend von Diskussionen begleitet, wobei zwischen den Beteiligten Uneinigkeit bezüglich des außenpolitischen Rollenkonzepts1 der Bundesregierung herrscht. Während die eine Seite Zurückhaltung anmahnt, befürchtet die andere, die Hacke (2012) durch das Wortspiel im Titel dieser Untersuchung und Josef Joffe mit obigem Zitat vertritt, die Abwendung von den westlichen Bündnispartnern. Da eine eindeutige Festlegung der Haltung der Bundesregierung in außenpolitischen Fragen nicht absehbar scheint, sind auch in Zukunft intensive Debatten über das außenpolitische Rollenkonzept Deutschlands zu erwarten.
Im Rahmen dieser Arbeit wird auf Basis der von Jäger (2004) entwickelten Untersuchungsmethode der Kritischen Diskursanalyse (KDA) untersucht, wie die Haltung der Bundesregierung zur Libyen-Intervention in der Anfangsphase des Einsatzes in vier verschiedenen deutschen Tageszeitungen dargestellt wird. Dafür gilt es die Diskurspositionen 2 der Tageszeitungen in der Debatte über die Libyen-Intervention und insbesondere zur Haltung der Bundesregierung herauszuarbeiten. Die jeweilige Positionierung lässt sich anhand der Verflechtungen von Repräsentationen3 in einem Diskursfragment ermitteln, wobei die Offenlegung der durch die jeweilige Zeitung bevorzugtenArgumentationsstrategieneine zentrale Rolle spielt (Kap. 4.1 bis 4.4). Darauf aufbauend wird in einem zweiten Schritt versucht, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Darstellungen herauszuarbeiten und diese vergleichend bzw. kontrastierend zu übergreifenden Diskurspositionen zusammenzufassen (Kap. 5.). Das Forschungsdesign lässt sich dementsprechend als das einer qualitativen, synchronen Untersuchung einer außenpolitischen Debatte bestimmen, die als Fallstudie im Rahmen einer vertikalen Analyse des deutschen Diskurses über militärische Auslandseinsätze dient.
Debatten über Militäreinsätze außerhalb des NATO-Bündnisgebiets (Out-of-area) sind in Deutschland aufgrund der turbulenten Geschichte stets ein sehr brisantes Thema (vgl. Katsioulis 2011: 1). Ein weiterer Faktor für die intensiven Debatten anlässlich der deutschen Beteiligung an Out-of-Area-Einsätzen ist die historische Neuheit dieser Frage, da sie erst durch die gestiegene außenpolitische Verantwortung nach der Wiedervereinigung aufkommt, weshalb es kein eindeutiges Prinzip gibt, nach dem außenpolitische Entscheidungsträger urteilen können, sondern jedes Mal eine Einzelfallentscheidung getroffen wird. Zudem lassen sich insbesondere die für oder gegen eine Entscheidung hervorgebrachten Argumente nicht generalisieren, weshalb jede dieser Entscheidungen, wie auch Pillath (2008: 96) ausführt, eine Einzelfalluntersuchung nach sich ziehen muss.
Politische Debatten erfüllen in demokratischen Gesellschaften eine wichtige Funktion, indem sie politische Diskussionen formen, politische Ereignisse erklären, politische Entscheidungen und Handlungen rechtfertigen oder hinterfragen, historische Erfahrungen (re-) interpretieren und Identitäten (re-) konstruieren (vgl. Nadoll 2000: 12). Durch die Diskursanalyse kann herausgearbeitet werden, wie eine Gesellschaft politische Entscheidungen beeinflusst und begrenzt, so dass Entscheidungsträger nur bestimmte Optionen für angemessen halten oder als vertretbar präsentieren (vgl. Nadoll 2000: 8, Westlind 1996: 116). Damit erfüllen Diskurse eine doppelte Funktion: Zum einen beschränken sie den potentiellen Widerstand der Gesellschaft gegen eine bestimmte außenpolitische Handlung und gleichzeitig begrenzen sie das staatliche Handeln.
Die Handlungsempfehlungen, die verschiedene Diskursträger4 aussprechen, können auf demselben Identitätselement basieren. Ein Identitätselement soll nach Stahl/Harnisch als
„‘letztgültiges Argument‘ in Diskursen über Außenpolitik verstanden werden, das einen Bezug zum Eigenen aufweist, z. B. Deutschland in Europa oder Deutschland als Teil des Westens. Durch ein Identitätselement wird ein Bezug zum eigenen Land hergestellt, der keiner weiteren Begründung bedarf, sondern als konsensualer Ausgangspunkt von Argumentationsketten fungiert.“ (2009: 41; Herv. im Original)
Die nationale Identität einer Gesellschaft gilt daher nicht als konstant und einheitlich umrissen, sondern als „Ansammlung von ‚Identitätselementen‘“ (ebd.; Herv. i. O.). Mit Bezug zum Zweiten Weltkrieg und die daraus folgende „deutsche Verantwortung“ kann bspw. zum einen die Zurückhaltung in militärischen Interventionen begründet werden, andererseits aber eine besondere Verpflichtung zum Eingreifen (vgl. Schwab-Trapp 2002: 349, Hacke 2003: 512).
In außenpolitischen Debatten können sich daher verschiedene diskursive Lager bilden, die ähnliche Identitätselemente und Argumentationsmuster verwenden, aber gegensätzliche Handlungsempfehlungen aussprechen. Im Falle innenpolitischer Fragen sind diese Lager häufig deckungsgleich mit den Parteien. In außenpolitischen Debatten zeigt sich jedoch, dass die Positionierungen häufig quer zu Parteigrenzen verlaufen (vgl. Gabel/Scheve 2007: 38). Daher wird als Diskursträger, statt der Parteien, das Konzept der „Diskursformation“ (Foucault 1989: 13) eingeführt, durch das sich Vertreter verschiedener Parteien ihrer außenpolitischen Orientierung entsprechend einordnen lassen. Diskursformationen (im Folgenden DF) umfassen verschiedene, identitätsgeprägte und daher handlungsleitende und rechtfertigende Argumentationsmuster, die von einer Gruppe von Diskursträgern genutzt werden (Nadoll 2003: 176). Der Vorteil des DF-Begriffs liegt darin, dass sich der Diskurs nach seinen Hauptargumenten strukturieren lässt und nicht nach Hauptakteuren (vgl. Stahl 2011: 7). Wichtig im Rahmen dieser Arbeit ist, dass sich die innergesellschaftliche Umstrittenheit einer außenpolitischen Handlung mit diesem Konzept präziser abbilden lässt.
Trotz der erläuterten Zielsetzung, kann eine Diskursanalyse nicht den Anspruch erheben, außenpolitische Entscheidungen kausal und analytisch zu „erklären“. Es soll auch nicht Ziel dieser Arbeit sein, von verschiedenen Rechtfertigungen und Begründungen auf unterschiedliche Motive zu schließen. Vielmehr besteht das Ziel der Diskursanalyse darin, gesellschaftliche Debatten und öffentliche Auseinandersetzungen abzubilden und ihre diskursiven Verschränkungen herauszuarbeiten. Daneben gilt es herauszufinden, welche Begründungen, Legitimierungen und Rechtfertigungen sich wie und in welcher Verschränkung durchsetzen, wobei dies Rückschlüsse auf die Konsistenz der Legitimationen und die grundsätzliche Ausrichtung der deutschen Außenpolitik erlaubt.
1.2 Struktur der Untersuchung
Im folgenden Kapitel (2.) wird der diskursive Kontext des Untersuchungsgegenstands dargestellt, um die diskursive Einordnung der Diskursfragmente (Kap. 4) zu ermöglichen. Die Herausstellung des Kontexts ist dreigeteilt in die Darstellung der libyschen Revolution – ihrer Ursachen, ihres chronologischen Ablaufs und der internationalen Reaktion –, des völkerrechtlichen Hintergrunds des Einsatzes sowie einen Überblick über die Geschichte deutscher Out-of-Area-Einsätze und die in ihr eingebettete Debatte über die Haltung der Bundesregierung zur Libyen-Intervention. In Kapitel 3 wird die Kritische Diskursanalyse nach Jäger (2004), eine Untersuchungsmethode der qualitativen Sozialforschung, vorgestellt und ihre Einbettung in die Diskurstheorie erörtert sowie das Design der vorliegenden Studie erläutert. Nach der Analyse jeweils eines nach bestimmten inhaltlich-semantischen und formalen Kriterien ausgewählten typischen Kommentars aus jeder der vier deutschen Qualitätszeitungen (Kap. 4), werden im anschließenden Kapitel 5 die Ergebnisse zu Diskursformationen mit ihren jeweiligen verwendeten Argumentationsstrategien und Repräsentationen zusammengefasst. Abschließend (Kap. 6) folgt eine kurze Rekapitulation der Forschungsergebnisse. Daneben wird an diesem Punkt aufgezeigt, welche Anschlussmöglichkeiten diese Studie für weitere Forschungsvorhaben bietet
2 Diskursiver Kontext
2.1 Arabischer Frühling
Über Jahrzehnte hinweg waren in Nordafrika repressive und korrupte Regime an der Macht, deren Stabilität von Herrscherfamilien abhängig war, die ihre Macht mit allen Mitteln für lange Zeit sicherten. Der Prozess, in dessen Verlauf drei der autoritärsten Diktatoren der Region – Zine el-Abidin Ben Ali in Tunesien, Hosni Mubarak in Ägypten und Muammar al-Gaddafi in Libyen – in Folge gesellschaftlicher Protestbewegungen ihre Herrschaft verloren, wurde in der deutschen und internationalen Presse als „Arabischer Frühling“ oder „Arabische Revolution“ bezeichnet.
Für viele Beobachter überraschend, begann der Zerfall der autoritären Herrschaftssysteme in den arabischen Ländern am 17. Dezember 2010. An diesem Tag wurde die Welt Zeuge der Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi im Rahmen einer Protestaktion gegen berufliche und soziale Perspektivlosigkeit sowie Korruption in der Kleinstadt Sidi Bouzid. Die in der Folge lokal aufflammenden Unruhen weiteten sich schnell über die neue Kommunikationstechnik (Web 2.0, Mobiltelefone) zur landesweiten Solidarisierung, spontanen Volksaufständen und am Ende zur Revolution aus (vgl. Werenfels 2011, Mattes 2013).
Die gewaltfreie Revolution in Tunesien wurde in den Medien, insbesondere den Sozialen Medien, intensiv verfolgt und kommentiert (vgl. El Difraoui 2011). Schultz und Peters bewerteten die friedliche Revolution als „Vorbild für Millionen von Arabern, die seit Jahrzehnten unter ihren korrupten Herrschern leiden“ (2011) und auch für viele Historiker gelten die Ereignisse als „historische Zäsur“ (Asseburg 2011: 7ff.).
Ermutigt durch den Erfolg der beiden Protestbewegungen kommt es ab dem ersten Quartal des Jahres 2011 in den meisten arabischen Ländern zu Protesten, die die Mittel, Forderungen und zum Teil sogar die Parolen5 der erfolgreichen Revolutionen in Tunesien und Ägypten aufgreifen (vgl. Khalidi 2011, Rosiny 2011: 2f.). Die Ursachen für die Aufstände und die Forderungen an die Herrschenden, klingen dabei über alle Protestbewegungen hinweg ähnlich, auch wenn sich die Auslöser der Proteste sowie ihre Intensität je nach Land unterscheiden 6 (vgl. Perthes 2011: 7, Werenfels/Asseburg 2011: 1f.). Das Spektrum der landesspezifischen Zielsetzung der Protestierenden reicht dementsprechend von der Abschaffung konfessioneller oder ethnischer Diskriminierung bis hin zur bedingungslosen Absetzung des Regimes (vgl. Ben-Jelloun 2011, Perthes 2011: 7).
2.2 Revolution in Libyen
Nach Beginn der Aufstände in den Nachbarländern gilt Libyen lange Zeit als Hort der Stabilität. Kurz nach dem Sturz Mubaraks in Ägypten am 17. Februar 2011 kommt der Arabische Frühling jedoch auch in Libyen an, wo sich von Anfang an abzeichnet, dass der Umbruch gewaltsamer verlaufen würde. Einer der wichtigsten Gründe für das schnelle Entgleiten der Proteste in Libyen in einen Bürgerkrieg ist nach Lacher (2013: 69-71) die durch Gaddafi vorangetriebene Schwächung staatlicher Institutionen, vor allem der Armee, und das Verbot von Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen zugunsten seines Clans bzw. seiner informellen Unterstützer.
Allerdings lässt sich der libysche Aufstand nach Beobachtern nicht allein als Reaktion auf die einschneidenden Ereignisse in den Nachbarländern sehen. Vielmehr nutzten die Protestierenden die Gelegenheit, ihrem seit Jahrzehnten angestauten Unmut über die verkrusteten Strukturen und das auf Unterdrückung, Stammesloyalitäten und Instabilität gegründete Herrschaftssystem Gaddafis Ausdruck zu verleihen und seinen Abtritt zu fordern (vgl. AI 2011a). Daneben jährte sich an diesem Datum die brutale Niederschlagung öffentlicher Proteste in Bengasi im Jahr 2006 zum fünften Mal (vgl. Nordhausen/Schmid 2011, AI 2011a). Als weiteren wichtigen Faktor benennt Amnesty International (2011a) das Massaker im Abu-Salim-Gefängnis im Jahre 1996, bei dem Wachen innerhalb von zwei Tagen hunderte Insassen – vor allem oppositionelle Aktivisten – hinrichteten, die gegen schlechte Lebensbedingungen demonstriert hatten (vgl. Human Rights Watch 2006). Seitdem gelten ihre in Bengasi angesiedelten Angehörigen, die als Abu-Salim-Familien bekannt sind, und ihre Anwälte als lautstärkste Gegner des Gaddafi-Regimes (vgl. Nordhausen/Schmid 2011: 93). Die Festnahme des Anwalts Fathi Tarbel am 15. Februar 2011 bzw. die öffentliche Protestaktion gegen diese gilt in der Folge als Beginn der libyschen Revolution (vgl. AI 2011a):
„We, the Abu Salim families, ignited the revolution […]. The Libyan people were ready to rise up because of the injustice they experienced in their lives but they needed a cause. So calling for the release of people […] became the justification for their protest.” (Oakes 2011: 224-225)
Den Kern der Aufständischen bilden auch in Libyen junge Menschen, die jedoch deutlich schlechter ausgebildet sind, als ihre Altersgenossen in Tunesien und Ägypten und ...