WESENTLICHE PRAKTIKEN12
Um den Geist zu beruhigen, damit man seine Gedanken beobachten kann, ist die grundlegendste Praxis das Shamatha (Pali: Ruhe ertragen), die im Beobachten des Einatmens und Ausatmens besteht. Dieser folgt und diese ist kombiniert mit Vipassana (Pali: Einsicht, Erkennen), die Erkundung der Natur des eigenen wahren Selbst.
Wer er ist es, der die Gedanken beobachtet?
Erst nachdem der Prozess der Beruhigung des Denkens und des Untersuchens der eigenen wahren Natur aufgebaut und stabilisiert wurde, solltest du die tantrische Meditation (Vajrayana) beginnen. Ohne grundlegende Achtsamkeit aufzubauen, kannst du dich in einen Traum von Göttern und Göttinnen verirren, ohne jemals dazu zu erwachen, wer du bist. Sobald die Selbsterkenntnis aufgebaut ist, kannst du die Gottheiten als Aspekte deiner selbst betrachten.
Während du im Erwachen voranschreitest, siehst du, dass dein Traum aus Bestandteilen (Sanskrit: Skandhas, Daseinsgruppen) besteht, die einen Einfluss darauf haben, wie dir die Dinge erscheinen. Du erkennst, dass du das Leben durch den Filter der Gedanken, Gefühle, Emotionen und der fünf Sinne wahrnimmst – es sind Wahrnehmungen, die möglicherweise keinen Anschein von äußerer Wahrheit haben. Doch wenn du diesen verschiedenen Stimuli ausgesetzt bist, reagierst du auf diese entsprechend, je nachdem, wie du durch vergangene Erfahrung programmiert wurdest.
Diese Daseinsgruppen der Wahrnehmung sind wie vorinstallierte Software-Anwendungen im Computer deines Denkens, die durch vergangene Erlebnisse programmiert wurden und durch falsche Daten der Gegenwart abgerufen werden. Diese Anwendungen müssen entweder neu programmiert oder ganz gelöscht werden.
Wenn du beispielsweise in einem früheren Leben Seemann warst und bei einem Schiffbruch ums Leben kamst, ist es möglich, dass du eine Abneigung gegen das Meer hast; wenn du hingegen in der Wüste gelebt hast, mag dir das Meer wie ein Paradies vorkommen. Das Meer an sich ist weder gut noch schlecht, weder angenehm noch unangenehm; deine Wahrnehmung des Meeres ist einfach auf deiner vergangenen Erfahrung begründet. Jede Person besteht aus diesen vorprogrammierten Zuneigungen, Abneigungen und Konzepten. Anstatt der Selbsttäuschung zu erliegen, du seist der oder die Einzige in Besitz der Wahrheit, kannst du diese mentalen Filter in Aktion beobachten – wie Wolken, die vor der Sonne vorbeiziehen – und in nicht-reaktiver und begriffsloser Wahrnehmung ruhen.
Um ein weiteren Beispiel zu nennen, stell dir vor, du gehst einen Waldweg entlang und siehst plötzlich eine Schlange, aufgerollt und im Begriff anzugreifen. Du hast Angst und springst erschrocken zur Seite. Du fragst dich, verfolgt sie mich? Du schaust dich um. Sie ist immer noch da, zusammengerollt, bewegungslos harrend, um dich anzugreifen. Ist sie giftig? – Nun siehst du, dass es keine Schlange ist, sondern ein Stück Seil! Obwohl die Schlange nicht wirklich war, verursachte sie eine wirkliche Reaktion. Dein Glaube verursachte deine Angst, so sehr, dass dein Herz raste. Du hättest einen Herzinfarkt bekommen und sterben können, wegen deines Glaubens!
Deshalb musst du deine Wahrnehmungen prüfen, um zu sehen, welche real sind und welche illusionär, und letztlich wissen, dass alle Wahrnehmungen lediglich Bestandteile deines Traumes sind. Dann wirst du Meister deines eigenen Denkens. Du wählst, welche Bilder du als Wirklichkeit in deinem Leben haben willst. Diese Übung der Selbst-Erforschung ist die Vorarbeit zur eigentlichen Praxis des Tantra.13
Tantra befähigt dich zu der Macht, in deinem Traum der zu sein, der du sein möchtest. Was willst du? Du kannst ein Opfer sein und bei anderen Mitleid erregen, solange es dir beliebt; oder vielleicht möchtest du lieber Vorstandschef eines Unternehmens sein, dessen Selbstwert von Verkaufszahlen bestimmt wird; oder du könntest mitfühlend sein, und anderen helfen – wähle deinen Traum! Jeden Morgen, wenn du aufwachst, triffst du gewohnheitsmäßig dieselbe Auswahl, die dich zur selben Person macht, obwohl du das ändern könntest. Wenn du dich ändern willst, dann musst du diese mentalen Gewohnheiten loslassen. Schau auf die Bestandteile, die deinen Verstand und deine Persönlichkeit ausmachen, und löse die Dinge auf, die du nicht willst, und erschaffe dich neu, als ein Meister.
Jeden Morgen werden wir von Reizen bedrängt, die die gleichen Überlebensreaktionen auslösen wie bei der Sinnestäuschung durch die Schlange. Vielleicht ist es ein Bericht in den Nachrichten, der dich ärgert, doch eine andere Person, mit anderen installierten Anwendungen, anderen programmierten Daseinsgruppen, freut sich über diese Nachrichten. Später findest du heraus, dass die Geschichte unwahr war – eine Falschmeldung; nun bist du glücklich und die andere Person ist verärgert, nicht aufgrund der Realität, sondern aufgrund einer vorprogrammierten Wahrnehmung. Also, kontrolliere dein Denken, um deine Wirklichkeit zu kontrollieren. Es liegt ganz bei dir, wie du auf Reize reagierst. Willst du ständig von äußeren Ereignissen manipuliert werden? Oder würdest du deine eigene Bestimmung lieber selbst kontrollieren? Um deine Bestimmung zu ändern, schaue einfach auf dich selbst.
Schaue in diesem gegenwärtigen Augenblick auf dich selbst und frage,
Was fühle ich?
Beschreibe deine Gefühle für dich selbst. Anfangs mag deine Beschreibung einige Minuten in Anspruch nehmen. Reduziere nun deine Beschreibung auf drei Worte: „Ich fühle ...“ (Versuche, nicht die Formulierung „ICH BIN“ zu verwenden, denn die Worte „ICH BIN“ verstärken das, was immer ihnen nachfolgt). Du kannst zum Beispiel sagen, „Ich ging auf einem Waldweg, sah eine Schlange und geriet in Panik, aber die Schlange war nur ein Seil; ich dachte jedoch, ich würde sterben und geriet in Panik.“ Dann verkürze diese Beschreibung einfach zu, „Ich spürte Angst“, dann einfach zu, „Angst“. Während du das tust, beobachte dein Ein- und Ausatmen immer wieder. Während du ruhiger wirst, fahre fort, deine Emotionen zu beobachten, bis die Emotion abklingt. Dann affirmiere,
Mir wird gezeigt, was ich aus dieser Erfahrung lernen kann.
Oder du kannst dich fragen,
Ich habe diese Situation erschaffen, um … zu lernen?
Vervollständige den Satz und sieh, welche Gedanken, Worte und Gefühle aufsteigen. Analysiere nicht – schaue einfach, was auf natürliche Weise im Bewusstsein aufsteigt. Zum Beispiel könnte die Erkenntnis aus der Begegnung mit der eingebildeten Schlange sein:
Ich habe diese Erfahrung erschaffen, um zu erkennen, wie leicht ich von Sinnestäuschungen, die keine Grundlage haben, beeinflusst werden kann.
Schaue auf die Angst, die du spürtest. Betrachte sie als einen Mechanismus, der weder gut noch schlecht ist, der einfach nur deinen Körper schützen und das Leben verlängern wollte. Dann frage,
Was bedroht mich noch?
Wann fühle ich mich bedroht?
Wie reagiere ich?
Basiert diese Reaktion auf Wissen
der absoluten Wahrheit in dieser Situation?
Du könntest dich fragen: Fühlt sich mein Partner zu jemand anderem hingezogen? Wird mein Chef mich entlassen? Bricht die Wirtschaft zusammen? Wird die Welt bald untergehen? Dein Körper-Verstand funktioniert auf der Basis von Wahrnehmungen, nicht auf Gewissheiten, und die Wahrnehmungen sind sehr oft teilweise falsch – oft gänzlich falsch. Erinnere dich an das Seil, das du als Schlange wahrgenommen hast. Anstatt an dem Trauma festzuhalten, kannst du es freisetzen mit Gedanken wie diesen etwa,
Es war für mich noch nicht die Zeit zu sterben.
Selbst wenn mein Körper stürbe, würde ich dennoch leben.
Ich bin dankbar, an die Kostbarkeit des Lebens erinnert zu werden.
Ich sehe, wie leicht ich mich irren kann.
Ich werde jeden Augenblick nutzen, um meine Sinnestäuschungen
über Menschen, die ich fürchte, zu durchschauen, sodass ich deren
Wahre Natur sehe und für sie Mitgefühl empfinde.
Nun komme zurück zum gegenwärtigen Augenblick. Beobachte dein Einatmen und Ausatmen. Fühle die Stille, während sich deine Gedanken verlangsamen und deine Aufmerksamkeit zwischen den Gedanken zur Ruhe kommt. Erfahre die Stille des einfachen Gewahrseins, frei von Gedanken. Beobachte dich.
Manche Situationen sind komplizierter als die mit der Schlange, besonders Beziehungen; aber die Lösung ist die selbe. Beschreibe die Situation. Was fühlst du? Reduziere die Beschreibung auf einen Satz, „Wenn die andere Person dies tut, fühle ich ...“. Verkürze ihn weiter zur grundlegendsten Emotion wie: Zorn, Angst, Schmerz, Einsamkeit, Verwirrung, Zurückweisung, Beurteilung, Beleidigung, Verlassensein, und so weiter... Halte dich daran, es als Bild zu betrachten, von dem du getrennt bist, als würdest du einen Film anschauen, in dem du und die andere Person Figuren sind, und du fragst dich, „Was ist der Zweck diese Szene? Was hatte der Regisseur hier im Sinn? Allerdings bist du der Regisseur! Du kannst jeden Moment „Cut!“ rufen! Wir spielen die Szene nochmals, aber anders ... wieder und wieder, bis wir sie richtig hinbekommen.“
Deine Emotionen sind dunkle Wolken, die vor dem Antlitz der Sonne vorüberziehen. Wenn die Emotion stark ist, konzentriere dich mehr auf die Beobachtung des Atems, bis du sie handhaben kannst. Erkenne,
Dies ist ein Traum, aus dem ich jetzt erwache!
Währen du immer länger im Frieden zwischen den Wogen der Emotionen ruhst, gehst du zurück zu der Aussage, „Ich fühle ...“. Diese Selbstuntersuchung ruft deinen inneren Therapeuten auf – den Inneren Guru. Indem du von dem leeren Gewahrsein zu den Gedanken und Emotionen hin und her wechselst, wird die Ladung des Geschehnisses abklingen.
Betrachte die Situationen, in denen du gewohnheitsmäßig reagierst – und wie du deine automatischen Antworten neu programmieren kannst. Während du mehr und mehr in der Stille ruhst, wird sich diese Ruhe in das tägliche Leben übertragen...