Haltung verstehen
Wie Haltung und Arbeitswelt zusammenhängen
Laufen und Marathon sind ein wichtiger Teil meines Lebens. Das, was ich beim Laufen lerne, integriere ich immer mehr in meine Arbeit mit den Menschen in den verschiedensten Organisationen. Folgende Kernfragen beschäftigen mich: Wie verändert sich die Arbeitswelt? Was heißen New Work und agil wirklich? Wie wirken sich diese Prinzipien auf den Menschen und auf die Zusammenarbeit aus? Im Buch erfährst du nach und nach einige Antworten dazu. Dabei liebe ich die Herausforderung, verschiedene komplexe Themen in ein einfaches Bild zu übersetzen. Die Ideen und Lösungen dazu kommen meistens in Laufschuhen in der Natur, selten am Schreibtisch.
Ein passendes Bild für den Wandel der Arbeitswelt entdecke ich beim Laufen. Im Juni 2018 laufe ich morgens an der Kieler Förde entlang. Es ist ein wunderschöner, sonniger und klarer Morgen. Vögel zwitschern. Ich genieße die Ruhe, die leeren Strände und mein entspanntes Tempo. Freue mich auf den ersten Kaffee.
Zum Abschluss dehne ich mich an einer Bank auf einem großen Spielplatz am Sporthafen. Ich schaue nach oben und sehe ein riesengroßes Spielgerät. Auf einmal bin ich noch wacher. Ich spüre, wie sich ein riesiger Knoten in mir löst und ich klar werde. Oder anders: Wenn alles, was ich bisher über den Wandel der Arbeitswelt gelesen habe, sich zu einem Bild zusammenfügt. Ich richte mich innerlich auf. Jubiliere erst still. Dann sage ich es laut: DAS IST ES!
Dieses Spielgerät beschreibt perfekt und zugleich provokant und polarisierend den Wandel der Arbeitswelt. Wie sieht dieses Spielgerät aus? Auf der einen Seite ist ein Holzhaus. Auf der anderen Seite steht ein Klettergerüst. Eine Hängebrücke verbindet beide Elemente.
Wieso verbinde ich dieses Bild mit der sich verändernden Arbeitswelt? Ich assoziiere mit dem Holzhaus links spontan die strukturierte, klassische, alte und mit dem Klettergerüst rechts verbinde ich die neue Arbeitswelt. Zwischen beiden ist ein Übergang. Was zeichnet die beiden Welten aus? Ich bin sicher, dass du dazu auch sofort Assoziationen und Ideen hast.
Als ich vor mehr als zwanzig Jahren ins Berufsleben einstieg, war alles sehr strukturiert: Es gab klare Hierarchien und Organigramme, genaue Stellenbeschreibungen, Pflichtenhefte. Die Büros in den Gebäuden waren eher massiv, stabil. Die Räume der Chefs waren am größten und zum Teil schallgedämpft und abhörsicher. Flexibles, mobiles Arbeiten gab es noch längst nicht. Stattdessen herrschten klare örtliche und zeitliche Grenzen: Gearbeitet wird im Büro.
Rangordnungen und Karrieremöglichkeiten waren geregelt. Und natürlich gab es Chefs, die den Ton angaben und führten. Die Karrierestufe entschied, an welchen Meetings die Person teilnimmt oder nicht. All dies drückt symbolisch das Holzhaus aus. Ich bezeichne es als Strukturland..
In dieser Arbeitswelt herrschen klassische und eher starre Strukturen und Vorgaben. Das Gute daran: Als Mitarbeiter kann ich mich an diese anlehnen und orientieren. Jederzeit kann ich in Pflichtenheften und Ablaufplänen nachschauen, wie die Vorgaben sind. Das sind symbolische Treppen und Geländer. Die Strukturen erleichtern mir die Bewegung im Holzhaus. Ich kann mich ausruhen, hinsetzen und in großen Häusern sogar verstecken – zum Beispiel hinter Prozessen. Da es viele Wände gibt, bleibt dies vielleicht sogar unsichtbar.
Ganz anders ist die Situation auf der anderen Seite im Klettergerüst. Schon von außen wird deutlich: Es ist komplett anders aufgebaut. Die Architektur oder Philosophie ist besonders. Es ist offen, transparent, vernetzt, unübersichtlich. Das Klettergerüst symbolisiert die neue, moderne Arbeitswelt. Ich bezeichne sie als Neuland.
Im ersten Moment sind keine Strukturen erkennbar. Dennoch muss es eine sinnvolle Statik geben. Sonst wäre es nicht stabil. Es handelt sich vielmehr um übergeordnete Metastrukturen und Prinzipien, die den Rahmen bilden. Wie genau das Neuland aussieht? Keiner weiß es. Jede Organisation, jedes Team entscheidet für sich. Ein paar Grundzüge gibt es.
Klassische Hierarchien nehmen ab. Es wird weiter Führungskräfte, insbesondere im oberen Management, geben. Doch werden Führungsaufgaben mehr verteilt und in die Teams und an Einzelne delegiert. Die Struktur der Zusammenarbeit ist variabler. Statt reinen fachlichen Teams, wie zum Beispiel puren Vertriebsteams wie im Holzhaus, gibt es eher gemischte Teams, die gemeinsam an Projekten arbeiten. Noch dazu ist es im Neuland dynamischer. Projekte, Teams verändern sich schneller. Oder Stichwort Arbeitsraumgestaltung: Immer mehr Organisationen reißen Wände ein. Nicht nur tatsächlich, sondern auch in den Köpfen. Es ist neu und ungewohnt, nicht mehr einen fixen Arbeitsplatz und täglich dieselben Kollegen im Raum zu haben. Stattdessen sitzt man jeden Tag in einem anderen Raum. Noch dazu mit anderen Menschen. Dies erfordert ganz andere Kommunikations-, Toleranz- und Teamkompetenzen als in der traditionellen Welt. Schon heute merken viele, dass sie in beiden Welten arbeiten: einerseits in der klassischen, strukturierten Linie und darüber hinaus in einer Matrixorganisation.
Das Neuland ist offener und komplexer. Die Grenzen zwischen innen und außen, zwischen Arbeiten und Nichtarbeiten gibt es nicht. Ebenfalls ist das Gerüst viel transparenter. Ich erkenne sofort, wer sich wie im Klettergerüst verhält. Wohingegen das Holzhaus eher verschlossen und intransparent ist. Im Strukturland warte ich eher ab, bis eine Aufgabe zu mir kommt. Im Neuland ist die eigene Arbeit ablesbarer. Ich warte nicht, bis eine Aufgabe zu mir kommt, sondern bringe mich aktiv ein und biete mich an.
Im Holzhaus musste ich mich an einen vorgegebenen Weg halten, um nach oben zu kommen. Im Klettergerüst ist dieser Weg variabel. Ich habe mehr Möglichkeiten, mich zu bewegen, und es gibt nur wenige Punkte, die ganz oben sind. Der Begriff Karriereleiter ist im Neuland nicht mehr angemessen. Statt fachlicher und disziplinarischer Karrierewege sind es mehr die Wege der persönlichen Entwicklung und Potenzialentfaltung.
Im Strukturland sind Prozesse und Systeme die grundlegende Statik. Was ist das haltgebende Element im Neuland? Es sind die Menschen und Beziehungen. Diese sind wiederum in eine Statik der Kommunikation eingebettet. Im Detail bedeutet das: Der Einzelne beziehungsweise die Beziehungen sowie die Kommunikation untereinander sind entscheidend für die Stabilität im Klettergerüst.
So gibt es zum Beispiel bei agilen Teams eine sehr strukturierte Kommunikation. Morgens wird ein kurzes Meeting veranstaltet, das sogenannte Daily, in dem die individuellen Ziele und Anliegen im Team besprochen werden. Regelmäßig, meist alle vierzehn Tage, finden sogenannte Retrospektiven statt. In neunzig Minuten reflektiert das Team die Zusammenarbeit und erarbeitet Verbesserungsideen. Konstruktiv mit Feedback und Fehlern umgehen ist eine entscheidende, persönliche Kompetenz im Neuland. Nicht verwunderlich, dass immer mehr Firmen die Themen Vertrauen, Feedback- oder Kommunikationskultur auf die Agenda setzen. Gute im Sinne von offenen und erwachsenen Arbeitsbeziehungen werden immer wichtiger.
Die Veränderungen und Unterschiede zwischen den Welten sind offensichtlich. Ich bin sicher, dass auch du das in deinem Lebens- und Arbeitsumfeld spürst. Die zwei dargestellten Welten wirken auf dich vielleicht wie zwei gegensätzliche Pole – ein Entweder-oder. Entweder bin ich noch in der klassischen Welt, oder ich bin schon in der neuen Welt. So können wir das Bild interpretieren. Oder wir sehen es als ein Sowohl-als-auch, als ein Hin- und Herpendeln zwischen den Welten.
Ein Bild oder Modell hat nie den Anspruch, die Realität komplett abzubilden oder sogar Geschehnisse vorherzusagen. Vielmehr verstehe ich Bilder als eine Möglichkeit, komplexe Situationen zu beschreiben, sich selbst und Geschehnisse zu verorten. Bilder schaffen in kurzer Zeit eine gemeinsame Gesprächsgrundlage.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die grundsätzliche Entwicklung hin zu mehr Neuland geht. Die Menschen an sich entwickeln sich weiter. Die grundsätzlichen Bedürfnisse, zum Beispiel nach mehr Freiheit, Gestaltungsspielraum oder Beteiligung, nehmen zu.
Der Wandel im Außen wirkt sich unmittelbar auf die innere Haltung aus. Zumindest fühle ich mich in einem Klettergerüst zunächst unsicherer und wackeliger. In der klassischen Arbeitswelt geben uns äußere Strukturen Halt. Wir sind nicht so sehr gefordert, eine innere Haltung aufzubauen. Im Neuland benötigen wir symbolisch und tatsächlich eine kräftige innere Haltung, um uns zu halten und zu bewegen. Je beweglicher und gelenkiger wir sind, umso besser werden wir im Klettergerüst zurechtkommen. Wir sind gefordert, die reduzierte äußere Struktur in uns selbst aufzubauen.
Wie unterscheiden sich die Haltungen? In der klassischen Arbeitswelt reicht eine passive, angepasste Haltung aus. Die Aufgaben und Prozesse werden hierarchisch von oben vorgegeben. Als Mitarbeitender oder auch als Führungskraft führe ich aus. Der Einzelne braucht sich auch wenig Gedanken um seine Selbstregulation machen. Denn die vorgegebenen Arbeitszeiten und Arbeitsorte regulieren von außen.
Mit dieser Einstellung kommen wir im Neuland nicht weit. In der neuen Arbeitswelt benötigen wir eine aufrechte und aufrichtige Haltung. Je stärker wir innerlich gefestigt sind, Halt spüren, umso besser können wir mit Haltlosigkeit im Außen umgehen.
Fazit ist: Der Mensch steht im Zentrum der neuen Arbeitswelt – und weniger der Prozess. Das ist das, was sich viele wünschen und vielleicht allzu oft ein Verwöhnprogramm damit assoziieren. Doch Mensch im Fokus bedeutet vielmehr, dass alle mitverantwortlich sind. Dazu bedarf es einer starken Haltungsveränderung sowie vermutlich auch einer neuen Anstrengung für alle Beteiligten.
Was Haltung grundsätzlich ist
So oft verwende ich bisher den Begriff Haltung. Doch was ist eine Haltung? Schließlich wird es im Augenblick als das Entscheidende in organisationalen Veränderungsprozessen benannt, was es zu ändern gilt. Es ist ein häufiges Anliegen meiner Ansprechpartner: „Wir brauchen etwas, das klar macht, dass es um die Haltung geht, auch die der Führungskräfte“ oder „Wir brauchen eine andere Haltung in allen Ebenen.“
Beginnen möchte ich pragmatisch. Rein körperlich ist das Thema Haltung auf den ersten Blick schnell abgehakt. Die physische Haltung ist von außen ersichtlich. Habe ich beim Gehen oder Laufen eine schlappe, müde Haltung? Höre ich vielleicht sogar die Haltung? Ja – Schlappschritt, schlurfend oder dynamisch, energievoll. Wie sitze ich am Tisch – ich kann mich hängen lassen oder aufrecht sitzen. Egal wie: Die körperliche Haltung beeinflusst die psychische Haltung und umgekehrt.
Im Wort Haltung steckt Halt, Halt haben. Ein Mensch mit einer guten Haltung findet in sich Faktoren, die ihm Halt geben. Ich halte mich innerlich an etwas fest. Ich habe eine innere Struktur, die mir Halt gibt. Das können ganz unterschiedliche Dinge sein: persönliche Werte, Routinen, die eigene Spiritualität oder der Glauben, die eigenen Lebenserfahrungen und individuellen Stärken.
Die innere Haltung hängt zusammen mit einer Position, die ich mir oder meinem Umfeld gegenüber einnehme. Ich beziehe Stellung. Ein Mensch mit Haltung sagt Ja! oder auch Halt! Stopp! – bis hier und nicht weiter.
Jemand mit Haltung hält Widerstände aus. Er ist in sich stabil, quasi ein kleines Strukturland in sich. So ein Mensch ist berechenbar. Wir wissen, wie wir denjenigen einschätzen können. Sie oder er hat eine eigene Position und Meinung.
Ein Mensch mit einem inneren Halt erleben wir als standfest, innerlich gefestigt. Wir nehmen diese Person als authentisch, verantwortlich und vertrauenswürdig wahr. Diese Menschen geben ihrem Umfeld Beziehungssicherheit. Ein Aspekt, der immer wichtiger im Arbeitsleben wird.
Damit ich diesen Halt in mir spüre, ist ein Anhalten sinnvoll. Damit wir unsere inneren Stabilitätsfaktoren entdecken, benötigen wir Zeit. Wir finden unsere Haltung im Innen, nicht im Außen.
Dies wird mir im Sommerurlaub 2018 klar. Wir verbringen zwei wundervolle Wochen in Portugal an der Algarve. In einer fantastischen, puristischen Ferienwohnung lassen wir uns treiben. Von der Dachterrasse blicken wir über ein Naturreservat. Absolute Ruhe. In dem kleinen Ort gibt es nichts. Kein Hotel. Keinen Supermarkt. Nur einen Briefkasten und ein Café. Wir leben in den Tag hinein und sind nach zwei Tagen schon tiefenentspannt. Abends fahren wir meistens in ein kleines Fischerörtchen und essen fangfrischen Fisch oder zelebrieren ein mediterranes Picknick im Wohnzimmer.
An einem späten Nachmittag schnüre ich meine Laufschuhe, ziehe mein pinkes Lieblingslaufshirt an und laufe los. Der erste Kilometer ist zäh. Es ist warm. Meist bin ich immer nach spätestens zehn Minuten drin in meinem Rhythmus. Ab da läuft es zumeist. Statt befreit die Sonne und die Bewegung zu genießen, klemmt es im Kopf und damit auch im Körper. Wieso das denn? Was ist denn jetzt los? Ich stoppe das Laufen und gehe. Denke über alles nach. Wie schön dieser Urlaub jetzt schon ist. Wie fantastisch und erfüllt dieses Jahr bisher war und dass ich alle Jahresziele schon erreicht habe: einen Marathon gesund und in Bestzeit, mein drittes Buch ist fertig, angenehme Auftragslage. Was für ein grandioses Leben ich führen darf. Wie glücklich ich mit Christian bin, welch schöne und reife Ehe wir führen. Wo ist also das Problem? Obwohl alles da ist, fehlt mir etwas ganz Wichtiges. Ein Ziel. Ich fühle mich ziellos. Ein sehr neues Gefühl. Ungewohnt. Und unangenehm. Jetzt ist mir klar, wieso ich mich bei diesem Lauf so fremd fühle. So als ob jemand den Stecker gezogen hat. Bis...