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Die Erben des Dschingis Khans

  1. 340 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Die Erben des Dschingis Khans

Über dieses Buch

1240 nach Christus steht das Heer der Mongolen vor den Toren Kiews. Die Stadt fällt nach kurzer Belagerung. Ihre Bewohner trifft die ganze Grausamkeit der asiatischen Eroberer. Nur wenige überleben das Massaker der Mongolen. Zwei von ihnen sind der Genuese Francesco und seine Frau Arabella, die in die Sklaverei verschleppt werden und Zeugen der Intrigen, Grausamkeiten und Machtgier der mongolischen Führer untereinander werden. Nach Jahren der Trennung stehen sie sich plötzlich als Fremde gegenüber, die verschiedenen Parteien angehören.Weitere Romane über die Geschichte der Mongolen: Mongolen - Steppenbrand 2 / Kublai Khan und Kaidu KhanHerr der Seidenstraße/ Tamerlan

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Information

Jahr
2020
ISBN drucken
9783751924320
eBook-ISBN:
9783751941730

1.

Schneeflocken wurden von einem kalten, heulenden Wind herumgewirbelt, der über die weiße Ebene fegte. Sie hüllten das riesige Feldlager fast völlig ein, das sich vor den Mauern der Stadt Kiew ausgebreitet hatte. Klirrende Kälte ließ an diesem frostigen Dezembermorgen den Atem von Mensch und Tier zu weißem Dampf gerinnen. Doch selbst dieses menschenfeindliche Klima hatte das Leben im Feldlager nicht zum Erliegen bringen können. Seit dem Einsetzen der Morgendämmerung waren Handwerker damit beschäftigt, die mitgeführten Gerüste und Sturmblöcke des Heers zusammenzusetzen.
Eine große Zahl dieser Handwerker waren nur dürftig bekleidete, aneinandergekettete Sklaven, die ihre harte Arbeit bei jedem Wetter erledigen mussten. Bewacht wurden sie von den strengen Blicken kleiner, stämmiger Männer, die in lange Überröcke gehüllt waren und dicke Pelzmützen auf dem Kopf trugen. Unter diesen Überröcken verbargen sie Lederrüstungen, die die gedungenen Körper der Männer noch stämmiger wirken ließen. An ihren Gürteln hingen lange Schwerter, auf den Rücken hatten sie Köcher mit Pfeilen und Bogen hängen, und in ihren Händen hielten sie Lanzen, stets dazu bereit, sie jederzeit zu gebrauchen. Ihre Gesichter zeigten grimmige Entschlossenheit. Ihren schmalen, schlitzförmigen Augen schien keine Bewegung der ihrer Aufsicht unterstellten Gefangenen zu entgehen. Mitleidlos trieben sie die Sklaven zur Arbeit an. Sobald einer der Gefangenen erschöpft zusammenbrach, wurde er von einer ihrer Lanzen durchbohrt, abgekettet und auf einen Haufen geworfen, auf dem sich bis zum Abend ein Berg von Leichen türmen würde. Doch dieses grausame Aussiebverfahren war für die geschundenen Sklaven längst zum Alltag geworden. Nur der Starke überlebte. Für den Schwachen gab es in der Welt ihrer Peiniger keinen Platz. Darum war es für jeden der gefangenen Männer inzwischen nur eine Frage der Zeit geworden, wann auch ihn das Schicksal des neben ihm gerade Hingerichteten ereilen würde. Ob früher oder später, irgendwann würde jeden der Überlebenswille verlassen und er sich hinlegen, um auf einem solchen Leichenberg sein Grab zu finden. War es nicht überhaupt ein Wunder, dass einige von ihnen noch lebten?
Fast zwei Jahre war es her, dass die Mongolen Moskau eingenommen hatten. Wer ihrem blutigen Gemetzel nach dem Fall der Stadt entgangen war, den hatten sie in Ketten fortgeführt. Die Entbehrungen und Leiden, die die Gefangenen seither hatten erdulden müssen, waren unvorstellbar. Zur harten Fronarbeit hatten sich nicht nur Hunger und Kälte gesellt, sondern bald auch Hoffnungslosigkeit. Eine russische Stadt nach der anderen war den Eroberern in die Hände gefallen. Und nach jedem Fall hatten die Mongolen ihre Drohung wahr gemacht. Wer sich nicht freiwillig unterwarf, der durfte auf keine Schonung hoffen. Verbrannte, entvölkerte Städte und Dörfer waren dann alles, was das mongolische Heer zurückließ. Wie viele solcher Niederlagen und anschließenden Vernichtungen hatten sie inzwischen erlebt? Schon deshalb glaubte längst keiner der Gefangenen mehr an einen Sieg und eine damit verbundene Befreiung durch ein russisches Heer.
Während die Arbeiten an den Sturmgeräten unaufhaltsam vorwärts gingen, ließ es sich Batu, der Kahn der Goldenen Horde, nicht nehmen, die Stadtmauern Kiews persönlich zu inspizieren, um mögliche Schwachstellen im Verteidigungssystem der Stadt ausfindig zu machen.
„Hier, am Polnischen Tor, werden wir am schnellsten durchbrechen können“, meinte er an Subatei gewandt, dem altgedienten mongolischen Heerführer, der schon an der Seite Dschingis Kahns geritten war, sowie Berke, seinem Bruder. Beide begleiteten Batu Khan auf seinem Ritt. „Da die Mauer hier aus Holz ist, wird sie unseren Rammböcken nicht lange standhalten können. Bei Tengris, dem Gott unserer Ahnen, schwöre ich, dass diese Stadt bald aufgehört haben wird zu existieren.“
Zustimmend nickte Subatei.
„Ja“, sagte er zuversichtlich. „Lange werden wir wohl kaum brauchen. Erst Kiew und dann weiter nach Westen. Wir werden nicht eher ruhen, bis wir diesem aufsässigen Ungarnkönig Bela die Antwort gegeben haben, die ihm gebührt.“
Während Batu Khan, Subatei und Berke die Stadtmauern Kiews weiter auf ihren kleinen mongolischen Pferden umrundeten, betraten in der Stadt zwei Männer einen der Festungstürme. Das Bild, das sich ihnen von der Plattform des Turms aus auf die Ebene bot, ließ sie erschaudern. Soweit ihr Blick reichte, erstreckte sich das Lager der Mongolen. Ihre lang gestreckten weißen Jurten reihten sich endlos aneinander. In ihrer Mitte erhob sich das mit goldenen Stäben verzierte Zelt ihres Khans, das den von Batu, einem Enkel Dschingis Khans, befehligten Truppen den Namen „Goldene Horde“ gegeben hatte. Diese Jurten führten die Mongolen auf großen, von zweiundzwanzig Ochsen gezogenen Karren überall hin mit. Der Lärm der unzähligen, das Lager bewohnenden Menschen vermischte sich mit dem Geblök ihrer mitgeführten Herden und dem lauten Gewieher ihrer Pferde, Kamele und Esel. Dieser ohrenbetäubende Krach verstärkte noch den furchteinflößenden Eindruck, den das Mongolenlager ohnehin schon bot.
„Wie ist Eure Sicht der Lage, Francesco? Sprecht offen.“
„Mir scheint die Lage hoffnungslos“, erwiderte dieser tonlos, im Gedanken für einen Augenblick zu seiner Frau und seiner Tochter schweifend. Zum wiederholten Mal machte er sich bittere Vorwürfe, dass er die beiden nicht zuhause in Genua gelassen hatte, als er den Auftrag angenommen hatte, einige Umbauten an der Kiewer Sophienkirche durchzuführen.
Dieser unverzeihliche Leichtsinn hatte hauptsächlich darin seine Ursache, dass man die aus dem Osten hereingebrochene Bedrohung durch die Mongolen in Westeuropa noch immer nicht richtig einzuschätzen gelernt hatte. Während man in Westeuropa noch rätselte, welche Ziele diese wilden Reiterhorden eigentlich verfolgten, überrannten die Tataren, wie die Russen ihre Eroberer nannten, ungehindert ganz Osteuropa.
„Das ist auch meine Meinung“, antwortete Dmitri sorgenvoll. „Wir hätten uns ergeben sollen, als noch Zeit dazu war. Aber unser stolzer fürstlicher Kommandant hielt das ja nicht für angebracht. In seinem Übereifer musste er die mongolischen Gesandten, die die Übergabe forderten, auch noch über die Stadtmauer zu Tode stürzen lassen.“
Francescos Mund verzog sich zu einem bitteren Grinsen.
„Nun wird diese Stadt seinen Übermut büßen müssen, während er sich beim Herannahen der mongolischen Streitmacht heimlich bei Nacht davongeschlichen hat.“
Ahnungsvoll streifte Dmitris Blick für einen Augenblick den Genuesen. Er konnte nur zu gut verstehen, welche Sorgen diesen jetzt quälen mussten. Wie froh Dmitri doch war, dass er selbst keine Angehörigen in der Stadt hatte, um deren Schicksal er nun bangen musste. Seine Aufgabe war darauf beschränkt, bis zum bitteren Ende zu kämpfen und möglichst nicht lebendig in die Hände der Mongolen zu fallen.
„Ich hätte Euch nicht bitten dürfen zu bleiben, um die Leitung beim Ausbau der Verteidigungsanlagen der Stadt zu übernehmen.“
„Ich habe es doch gern getan“, widersprach der Genuese. „Nur leider waren all die Mühen und Anstrengungen nun doch umsonst. Die Mauern beim polnischen Tor sind noch immer aus Holz. Sie sind das schwache Glied in der Verteidigung der Stadt.“
„Ja“, stimmte Dmitri zu, der nach der Flucht von Michael von Chernigow das Kommando über die Stadtverteidigung übernommen hatte. „Diese Mauern werden nicht einmal einen Tag lang dem Ansturm der mongolischen Rammböcke standhalten können. Doch wie auch immer - an dem, was da kommen wird, lässt sich nun gewiss nichts mehr ändern. Darum solltet Ihr nach Hause zu Eurer Frau und Eurer Tochter gehen, Francesco. Die beiden werden Euch jetzt sicher nötiger brauchen als diese Mauern, die sich nicht mehr verbessern lassen.“
Nachdenklich nickte Francesco.
„Vielleicht habt Ihr recht. Vielleicht sollte ich nach Hause gehen. Wir sehen uns morgen bei Tagesanbruch wieder. Ich schätze, dann werden sie mit dem Zusammensetzen ihrer Sturmgeräte fertig sein.“
Den Mantel fröstelnd enger um sich ziehend wanderte Francesco durch die menschenleeren Straßen der Stadt Kiew. Die Stadt war im Lauf der letzten Jahrhunderte zu einem der bedeutendsten kulturellen und geistigen Zentren Osteuropas aufgestiegen. Auch ihn hatte ihr Zauber sofort eingefangen, als er vor vier Jahren hierhergekommen war. Der Auftrag, einen Umbau an der Sophienkirche durchzuführen, die mit ihren dreizehn Kuppeln, ihren byzantinischen Mosaiken und schimmernden Fresken eines der prächtigsten Bauwerke der Stadt war, hatte der vielversprechendste seines Lebens zu werden versprochen. Natürlich hatte er ihn darum mit Freuden angenommen. Und nach anfänglichem Zögern hatte er sich schließlich auch dazu durchgerungen, seine Frau Arabella und seine dreijährige Tochter Marie mit auf die Reise zu nehmen.
Schon damals wusste man von der Bedrohung, die von einer wilden Reiterhorde aus dem Osten ausging. Bereits 1221 war Sudak, eine genuesische Handelsniederlassung auf der Krim, von den Mongolen überrannt worden. Nur wenige Bewohner hatten mit Schiffen dem der Eroberung folgenden Massaker der Mongolen entkommen können. Was sie in Genua über die Grausamkeit jenes asiatischen Reiterstamms berichteten, hatte ganz Europa eine Zeit lang erbeben lassen. Doch bald darauf hatte es den Anschein gehabt, als sei die Gefahr wieder gebannt. Aus unerklärlichen Gründen waren die Mongolen in den Osten zurückgezogen. An die Möglichkeit einer Rückkehr hatte zu diesem Zeitpunkt niemand ernsthaft geglaubt.
Die ersten beiden Jahre in Kiew hatten dann auch all die Hoffnungen und Erwartungen erfüllt, die Francesco und Arabella hegten. Sie waren zu Ansehen und Wohlstand gelangt. Arabella und er hatten schnell Freunde gefunden und begonnen, sich in der fremden Umgebung zu Hause zu fühlen.
Doch vor zwei Jahren war dann ein erneuter Ansturm der Mongolen auf Russland erfolgt. Rjazan, Susdal, Moskau, Wladimir, Jaroslawl, Twer, Nowgorod – eine russische Stadt nach der anderen war den Barbaren aus dem Osten in die Hände gefallen. Und überall hatten die Mongolen bei ihrem Abzug Leichenfelder zurückgelassen. Ihre Grausamkeit den Unterlegenen gegenüber kannte keine Grenzen. Ihre Mordlust machte weder vor Alten und Kranken noch vor Frauen und Kindern halt.
Als bekannt geworden war, dass sich die Goldene Horde von Westen plötzlich nach Süden gewandt hatte, war jedem Bewohner Kiews klar, dass eines ihrer nächsten Ziele ihre Stadt sein würde. Natürlich hatte Francesco daraufhin sofort beschlossen, nach Genua zurückzukehren, hatte sich dann aber schließlich dazu überreden lassen, vorher bei der Verstärkung der Stadtmauern mitzuwirken. Da im Moment keine unmittelbare Gefahr bestand, war Arabella der Ansicht gewesen, dass es ihre Pflicht sei, den neu gewonnenen Freunden in der Not so gut wie möglich beizustehen.
Diese Einschätzung der Situation war selbstverständlich richtig gewesen. Solange keine mongolische Gesandtschaft erschienen war und die Übergabe der Stadt verlangt hatte, drohte keine unmittelbare Gefahr. So waren sie zwar stets reisefertig gewesen, um beim ersten Anzeichen einer bevorstehenden Belagerung zu fliehen, doch als die Zeit dann tatsächlich drängte, war Marie an einer Lungenentzündung erkrankt. Die Ärzte sagten ihren Tod voraus, wenn man sie in ihrem kritischen Zustand der Mühsal einer Reise aussetzte. Daraufhin hatte Francesco Arabella beschworen, allein abzureisen. Er hatte versprochen, mit Marie nachzukommen, sobald sich ihr Zustand gebessert haben würde. Doch Arabella hatte sich geweigert, ihr krankes Kind zu verlassen.
Wehmütig sah Francesco das Bild seiner jungen, schönen Frau für einen Augenblick vor sich, hörte ihr Lachen, das immer so erfrischend auf ihn wirkte. Sie war eine tapfere und mutige Frau. Wie sehr liebte er sie doch. Warum nur hatte sie sich nicht in Sicherheit gebracht, als noch Zeit dazu gewesen war? Nun saßen sie alle drei in einer tödlichen Falle.
Viel schneller als vorhersehbar gewesen war, war das mongolische Heer vor der Stadt erschienen und hatte sie eingeschlossen. Mit diesem Belagerungsring war den Bewohnern Kiews jede Fluchtmöglichkeit genommen worden. Nun hatten sich alle, mit Ausnahme der wehrfähigen Männer, in ihre Häuser verkrochen, um in deren Schutz der drohenden Gefahr vielleicht doch noch zu entgehen. Allein die Verteidiger der Stadt standen trotz klirrender Kälte auf den Zinnen der Stadtmauer, um jederzeit einen feindlichen Angriff abzuwehren.
Lautlos stapfte Francesco durch den frisch gefallenen Schnee. Die Stille, die die sonst immer belebten Straßen und Gassen Kiews einhüllte, wirkte auf ihn gespenstisch. Es war die Stille des herannahenden Todes. Einer plötzlichen Eingebung folgend, beschloss Francesco in die Kirche zu gehen, um zu beten.
In den frühen Morgenstunden des darauffolgenden Tages begann der erwartete mongolische Ansturm auf Kiew. Batu Khan hatte nicht nur die Eroberung, sondern die völlige Zerstörung der Stadt angeordnet. Der Tod der mongolischen Gesandten sollte nicht ungesühnt bleiben, waren blutige Rache und Abschreckung doch seit jeher die wirksamsten Waffen der Mongolen in der Unterwerfung anderer Völker gewesen.
„Es ist der Wille unseres Gottes Tengris, dass der Mongole die Welt beherrscht!“ Dieser Ausspruch Dschingis Khans war jedem Mongolen zum Leitspruch geworden. Jedes Volk, das sich diesem gottgewollten Herrschaftsanspruch der Mongolen widersetzte, wurde darum schonungslos vernichtet.
Während die Mongolen von allen Seiten her gleichzeitig auf die Stadt eindrangen, hämmerten ihre Rammböcke beharrlich gegen die Mauern am polnischen Tor. Mit Wurfgeschossen in die Stadt geschleuderte Steine und Pfeilhagel führten bald zu großen Verlusten unter den Verteidigern. Erschwerend für die Verteidigung wirkten sich auch bald die Trompetenstöße aus, die die Mongolen zum Angriff anfeuerten und das wilde Kriegsgeschrei ihrer Reiter. Beides versetzte nicht nur die Stadtbewohner in Angst und Schrecken, sondern machte es den Verteidigern auch immer unmöglicher, sich untereinander zu verständigen. Trotzdem schlugen sich die Bewohner Kiews unter der Führung Dmitris tapfer.
„Wenn wir schon sterben müssen, dann nehmen wir wenigstens so viele von diesen schlitzäugigen Hunden mit uns in den Tod wie irgend möglich“, rief Dmitri seinen Männern zu, als den Mongolen am Nachmittag der Durchbruch gelang. Entschlossen zückten die Kiewer ihre Schwerter. Doch dem Druck der wild von ihren kleinen, gelenkigen Pferden auf sie einhauenden Mongolenkriegern konnten sie nicht lange standhalten. Bis zum Abend waren die umkämpften Straßen mit Leichen übersät. Als die Mongolen sich endlich bei Einbruch der Dunkelheit aus dem Kampf zurückzogen, hatte Dmitri die Hälfte seiner Männer verloren.
„Es ist aussichtslos. Morgen werden wir nicht mehr sein. Diese Stadt wird aufgehört haben zu existieren“, prophezeite Dmitri düster.
Erschöpft nickte Francesco, während er die von einem verirrten Pfeil stammende Wunde an seinem Oberarm so gut wie möglich selbst zu verbinden versuchte.
„Ja, es ist aussichtslos. Gerade darum sollten wir unser Leben so teuer wie möglich verkaufen. Wir müssen die Nacht dazu nutzen, um die Kirche herum neue Befestigungen zu errichten.“
Seufzend nickte Dmitri. Zwar würde dieser klägliche Versuch nicht viel nützen, doch er würde seine Soldaten wenigstens davon abhalten, zu viel zu grübeln.
„Gut, wir werden es versuchen“, stimmte er zu. Und an seine Leute gewandt erteilte er den Befehl: „Sucht Karren, Holz und Steine zusammen, alles was man für eine neue Befestigung brauchen kann. Wir verschanzen uns hier um die Kirche der heiligen Jungfrau Maria herum.“
Wie von Dmitri erwartet, lenkte das Errichten einer neuen Befestigung die Gedanken seiner Soldaten von der bevorstehenden Niederlage ein wenig ab. Nur Francesco, der das Unternehmen leitete, vermochte sich nicht recht auf seine Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder kreisten seine Gedanken um Arabella, seine Frau, und Marie, seine Tochter. Was konnte er nur tun, um sie zu schützen? Was, wenn die Mongolen sie nicht nur erschlagen, sondern auch noch quälen und vergewaltigen würden? Francesco wusste, dass diese Barbaren keine Ehre kannten. Es bereitete ihnen Lust, ihre Opfer vor dem Tod so lange wie möglich zu peinigen. In seiner stillen Verzweiflung erwog Francesco es einen Augenblick lang, seine Frau und sein Kind selbst zu töten. Ja, er würde Arabella in die Arme schließen und ihr dann unbemerkt von hinten einen Dolch ins Herz stoßen. Sie würde sterben, ohne es vorher überhaupt bemerkt zu haben. So würde sie nicht leiden müssen. Doch kurz darauf verwarf Francesco diesen Gedanken wieder. Nein, seiner Frau und seinem Kind mit eigener Hand den Tod zu geben, das würde er niemals über sich bringen. Doch was konnte er sonst tun?
Dmitris Hand, die sich plötzlich auf seine Schulter legte, schreckte ihn aus seiner Grübelei auf.
„Wir sind alle in Gottes Hand, Francesco. Sein Wille geschieht.“
Müde nickte Francesco, zu erschöpft, um die ihn quälende Frage auszusprechen. Wo war er, dieser Gott? Warum ließ er eine solche Grausamkeit überhaupt zu?
Am frühen Morgen griffen die Mongolen erneut an. Zuerst schwirrten Pfeilhagel durch die Luft. Von ihnen wurden viele der letzten Verteidiger niedergestre...

Inhaltsverzeichnis

  1. Weitere Romane der Autorin Birgit Furrer-Linse
  2. Inhaltsverzeichnis
  3. 1. Kapitel
  4. 2. Kapitel
  5. 3. Kapitel
  6. 4. Kapitel
  7. 5. Kapitel
  8. 6. Kapitel
  9. 7. Kapitel
  10. 8. Kapitel
  11. 9. Kapitel
  12. 10. Kapitel
  13. 11. Kapitel
  14. 12. Kapitel
  15. 13. Kapitel
  16. 14. Kapitel
  17. 15. Kapitel
  18. 16. Kapitel
  19. 17. Kapitel
  20. 18. Kapitel
  21. 19. Kapitel
  22. 20. Kapitel
  23. 21. Kapitel
  24. 22. Kapitel
  25. 23. Kapitel
  26. Zeittafel
  27. Zur Geschichte
  28. Impressum