1 Einleitung
Wie denkt der Mensch? Wie kann er etwas im Gedächtnis behalten? Wie funktioniert dieses Behalten kurzfristig und langfristig? Oder: Wie funktioniert die Wahrnehmung des Menschen? Wie werden in dieser Wahrnehmung Objekte in der Umwelt erkannt? Wie wird die Aufmerksamkeit auf diese Objekte in der Umwelt gerichtet, damit sie auch wahrgenommen werden? Welche Eigenschaften hat diese Aufmerksamkeit? Wie verändern sich diese Eigenschaften durch Alterungsprozesse oder Training? Diese und unzählige weitere spannende Fragen sind Gegenstand der Forschung in der Kognitiven Psychologie. Und dieses Buch wird versuchen, auf die wichtigsten kognitionspsychologischen Fragen eine Antwort zu geben.
Zwar geben uns die oben stehenden Fragen einen Hinweis darauf, was diese Strömung der Psychologie beinhaltet. Klarer definiert wird Kognitive Psychologie allerdings wie folgt: Die Kognitive Psychologie befasst sich mit Aussagen zu grundlegenden mentalen Erlebnis- und Verhaltensprozessen. Diese Prozesse sind also zuständig für die Aufnahme von Informationen, für deren Veränderung und Abspeicherung sowie für potentielles Verhalten und potentielle Reaktionen entsprechend der aufgenommenen Informationen. Bevor wir uns diesen Prozessen und ihren Eigenschaften zuwenden, wollen wir einige generelle Aspekte der Kognitiven Psychologie klären. In welcher Beziehung steht sie zu anderen Forschungsdisziplinen? Welche Methoden werden in der Kognitiven Psychologie verwendet? Welche Theorien werden im Kontext der Kognitiven Psychologie formuliert? Welches Verhältnis haben diese Theorien zu eher anwendungsorientierten Perspektiven? Und welche historischen Vorgänger und Entwicklungen führten zur Kognitiven Psychologie?
1.1 Beziehung zu anderen Forschungsdisziplinen
Die grundlegende mentale Funktionsweise, die die Kognitive Psychologie zu ergründen versucht, ist immanent wichtig für das Verständnis von Erlebnis- und Verhaltensweisen, mit denen sich andere, eher anwendungsbezogene psychologische Teildisziplinen beschäftigen. Verständnis über die grundlegende Funktionsweise mentaler Prozesse sollte bestehen, um anwendungsbezogene Probleme und Situationen zu erforschen. Zum Beispiel: Warum treten bestimmte Aufmerksamkeitsstörungen nach bestimmten Hirnverletzungen auf (Neuropsychologie)? Wie werden Denkstörungen charakterisiert (Klinische Psychologie)? Wie verhalten sich Menschen einzeln und in Gruppen (Sozialpsychologie)? Wie unterliegen mentale Prozesse altersbedingten Veränderungen (Entwicklungspsychologie)? Im deutschsprachigen universitären Fächerkanon und seiner Modulstruktur gehört die Beschäftigung mit der grundlegenden kognitiven Funktionsweise mentaler Prozesse zur Lehre und Forschung der Allgemeinen Psychologie (Prinz, Müsseler & Rieger, 2017). Deshalb überrascht es nicht, dass die Allgemeine Psychologie ein relativ großes Lehrgebiet und bereits zu Beginn Gegenstand des Studiums ist.
Die Kognitive Psychologie besitzt allerdings nicht nur innerhalb der psychologischen Teildisziplinen eine herausragende Stellung, sondern sie ist auch für viele Sozialwissenschaften grundlegend und bietet Erkenntnisse, auf denen diese Wissenschaften aufbauen können (Anderson, 2013). In der Pädagogik können in Verbindung mit grundlegenden Erkenntnissen der Kognitiven Psychologie neue Lehrmethoden entwickelt werden, die es ermöglichen, Lehrstoff effizienter zu vermitteln. Die Arbeitsökonomie kann von der Kognitiven Psychologie profitieren, indem komplexe Arbeitsumgebungen mit einem hohen Aufwand an mentaler Informationsverarbeitung effizienter gestaltet werden. Diese Effizienz kann helfen, Fehler im Umgang mit der Umgebung zu vermeiden. Und nicht zuletzt kann die Kognitive Psychologie bezogen auf die Wirtschaftswissenschaften menschliches Entscheidungsverhalten beschreiben und helfen, Abweichungen zwischen menschlichen und rein betriebswirtschaftlichen Entscheidungen zu erklären.
Die Kognitive Psychologie bietet diese Erklärungsansätze in den Sozialwissenschaften allerdings nicht exklusiv und isoliert an, kognitive Prinzipien werden auch von Disziplinen außerhalb der Psychologie vertreten. Ein Zusammenschluss dieser Disziplinen und der damit verbundenen Interdisziplinarität sind die Kognitionswissenschaften: Dazu gehören neben der Psychologie die Computerwissenschaften, die Philosophie, die Neurowissenschaften, die Linguistik und die Anthropologie. Wissenschaftler dieser Disziplinen beziehen sich in ihren Ansätzen auf die kognitive Grundfrage, d. h. auf das Erkennen von mentalen Erlebnis- und Verhaltensprozessen, und wenden diese Grundfrage in ihrem jeweiligen Themengebiet an. Diese interdisziplinäre Basis kann vergleichbare Entwicklungen in unterschiedlichen Disziplinen zur Folge haben. Erstes Beispiel: Es gibt Ansätze, menschliche Kognition im Kontext der Kognitiven Psychologie zu beschreiben und in den Computerwissenschaften mithilfe von Computermodellen zu simulieren und nachzustellen. Dabei werden Modelle programmiert und getestet, die menschliche Prozesse abbilden. Ziel dieser Unternehmungen ist es, den Aufbau und die Struktur menschlicher Kognition zu erklären.
Zweites Beispiel: Auch der Vergleich des Aufbaus von Computersystemen mit der menschlichen Kognition zeigt eine parallele Entwicklung in Teildisziplinen. Dieser Aufbau ist in gewissem Grad der Abstraktion äquivalent und wird deshalb als
Computer-Mind-Analogie bezeichnet bezeichnet (
Abb. 1.1). Beide Systeme besitzen Eingabe- und Ausgabeschnittstellen. In Computersystemen kann das beispielsweise die Tastatur beziehungsweise der Monitor sein. Im menschlichen kognitiven System kann es zum Vergleich die visuelleWahrnehmung über die Augen beziehungsweise die manuellen Reaktionen sein. Beide Systeme haben mit der Festplatte und dem Langzeitgedächtnis Komponenten zur langfristigen Abspeicherung von Informationen. Wir werden in Kapitel 3 (selektive Aufmerksamkeit, (
Kap. 3) und Kapitel 5 (kurzfristige Gedächtniskomponenten,
Kap. 5) sehen, dass menschliche Kognition keine unbegrenzte Menge von Informationen aufnehmen und verarbeiten kann, sondern dass einige kognitive Komponenten in ihrer Verarbeitungskapazität begrenzt sind. Ähnliche Begrenzungen finden sich auch im Arbeitsspeicher (d. h. RAM) von Computersystemen. Die Entwicklung möglichst großer Arbeitsspeicher ist deshalb oft ein Verkaufsargument für diese Systeme. Im Gegensatz dazu sind potentielle Entwicklungen im Kontext kognitiver
Komponenten natürlich kein Kriterium. Wir werden zwar sehen, dass kognitives Training die Begrenzung in der Verarbeitungskapazität teilweise reduzieren kann, die Begrenzung an sich aber grundsätzlich bestehen bleibt und robust ist. Somit kann es neben Parallelen in den Vorstellungen kognitiver Ansätze in verschiedenen Disziplinen (wie den Computerwissenschaften und der Psychologie) auch entscheidende Unterschiede in den Eigenschaften dieser Vorstellungen geben.
Abb. 1.1: Computer-Mind-Analogie: Vereinfachter Aufbau (A) eines Computersystems und (B) eines menschlichen kognitiven Systems
1.2 Methoden und Theorienbildung in der Kognitiven Psychologie
Das ambitionierte Ziel kognitionspsychologischer Forschung ist es, Erleben und Verhalten nicht nur zu beschreiben, sondern Theorien über zugrundeliegende mentale Prozesse zu entwickeln und damit Erleben und Verhalten zu erklären. Kognitive Theorienbildung und Methoden werden wegen ihrer engen Verbindung im Folgenden gemeinsam behandelt.
1.2.1 Das Experiment
Wie kann man detaillierte Aussagen zu kognitionspsychologischen Theorien treffen? Diese Frage ist besonders wichtig, da kognitive Prozesse nicht einfach von außerhalb des Menschen beobachtbar und zugänglich sind. In der Konsequenz stehen nur die Methoden Beobachtung und Experiment für die kognitive Forschung zur Verfügung. Die Beobachtung ist vor allem dann sinnvoll, wenn man das psychologische Geschehen in seiner Komplexität und seiner naturwüchsigen Dynamik untersuchen möchte. Das Experiment ist dagegen zu bevorzugen, wenn man die Kausalität von kognitiven Mechanismen im Einzelnen erforschen will. Dazu werden Bedingungen geschaffen, unter denen die Wirksamkeit einzelner Faktoren selektiv betrachtet werden kann; diese gezielte Selektion von Faktoren ist mit der Beobachtung nicht möglich. Das Experiment ist deshalb die Forschungsmethode für die Kognitive Psychologie. Im Rahmen dieser Methode werden oft künstlich vereinfachte Aufgaben unter verschiedenen Bedingungen hergestellt, die im Labor untersuchbar und für eine Fragestellung relevant sind. Diese Aufgaben haben das Ziel, den Einfluss bestimmter Faktoren auf kognitive Prozesse sinnvoll zu erforschen. Die verschiedenen Bedingungen stellen die unabhängigen Variablen dar. Abhängig von diesen Variablen sind neben subjektiven Daten (z. B. die Empfindung der Helligkeit eines Lichts oder der emotionale Zustand einer Person unter verschiedenen Bedingungen) auch Verhaltens- und neurophysiologische Daten (z. B. die Geschwindigkeit und Fehleranfälligkeit bei Entscheidungen zwischen Alternativen oder die Aktivität in bestimmten Gehirnarealen), das sind die abhängigen Variablen.
Schauen wir uns ein typisches Experiment der Kognitiven Psychologie im Detail an: In diesem Experiment mit lexikalischer Entscheidungsaufgabe (
Kap. 6.2.3) sitzen Versuchspersonen vor einem Computerbildschirm. Ihnen werden, über viele Durchgänge hinweg, präzise und softwaregesteuert gängige deutsche Wörter (z. B.
Juli) oder sinnlose Buchstabenketten (z. B.
Jusa) präsentiert. Die Aufgabe der Versuchspersonen ist es, so schnell und fehlerfrei wie möglich per Tastendruck für die Zielreize zu entscheiden, ob es sich um ein gängiges Wort oder um eine sinnlose Buchstabenkette (d. h. ein Nicht-Wort) handelt. Vor jedem Zielreiz wird für einen sehr kurzen Moment (z. B. 100 ms) ein anderes Wort an derselben Position auf dem Computerbildschirm präsentiert, dieses Wort wird als
Prime bezeichnet. Die entscheidende Manipulation in diesem Experiment ist es nun, dass diese Primes entweder in einer deutlichen inhaltlichen (semantischen) Beziehung oder in keiner inhaltlichen Beziehung zu den gängigen deutschen Wörtern stehen. Die Variable »inhaltliche Beziehung« mit ihren Ausprägungen mit und ohne inhaltliche Beziehung ist die unabhängige Variable. Ein Beispiel: Den Zielreizen
Juli oder
Jusa könnte der Prime
Juni oder
Wald vorangehen. Führt man das Experiment durch und analysiert die Reaktionszeiten (abhängige Variable), so stellt man fest, dass die Versuchspersonen auf die gängigen Wörter etwas schneller reagieren, wenn diesen Wörtern ein Prime mit einer inhaltlichen Beziehung vorangeht, im Vergleich zu den Reaktionen in Durchgängen mit Primes ohne inhaltliche Beziehung zum gängigen Wort (Meyer & Schvaneveldt, 1971).
Dieser Befund wird in der Regel als Nachweis dafür interpretiert, dass das semantische Gedächtnis im Langzeitgedächtnis Begriffe nicht isoliert repräsentiert, sondern dass diese Repräsentationen sprachähnlich und hinsichtlich ihrer Semantik miteinander vernetzt sind. Wird in einem Experiment mit lexikalischer Entscheidungsaufgabe der Prime Juni präsentiert, wird die Repräsentation dieses Begriffs aktiviert. Diese Aktivierung breitet sich nachfolgend über die Repräsentation des Prime-Begriffs hinaus auf Repräsentationen umliegender Begriffe mit einer inhaltlichen Beziehung aus, wie z. B. auf Juli. Durch diese Aktivierung ist der Begriff Juli leichter zugänglich und kann effizienter als ein Wort erkannt werden. Wenn ein Prime ohne inhaltliche Beziehung präsentiert wird (z. B. Wald), dann wird der nachfolgende Begriff Juli im Vergleich dazu schwerer zugänglich und kann weniger effizient als ein Wort kategorisiert werden (mehr zum semantisch...