1. Tag: Traunstein - München - Paris - Bayonne – St. Jean Pied de Port
Der Aufbruch:
„Wir müssen in unserem Leben immer wieder neu Aufbrechen
und gegen das Unbekannte ankämpfen“
Rückblick:
Ein lauter Pfiff! Die Türen knallen zu und der Zug nach München setzt sich sehr schnell in Bewegung, wo ich in den Nachtzug nach Paris umsteigen muss.
Ich stehe am geöffneten Abteilfenster und winke heftig. Warum steigen mir in diesem Moment nur diese lästigen Tränen in die Augen... und ich schäme mich deshalb ein bisschen, denn das kenne ich gar nicht von mir.
Marcus, mein 24 jähriger Sohn, der mich im Auto zum Bahnhof gebracht hat, steht noch auf dem Bahnsteig, winkt zurück. Er wird sehr schnell immer kleiner und nach einer Kurve ist er nicht mehr zu sehen. Ich schließe das Abteilfenster und setze mich auf die Bank.
Vorgesorgt, für alle Fälle...
Vor zwei Stunden hat mich Marcus von daheim abgeholt. Sehr zu seinem Erstaunen habe ich ihm die wichtigsten Unterlagen und Ordner, private und geschäftliche Papiere, Bankkonten, Verträge, Versicherungsunterlagen und mein Testament - alles zu seinen Gunsten geschrieben - übergeben, alles für den Fall das... Na ja, man kann ja nie wissen!
Ich habe zu Marcus gesagt: „Weißt Du, sterben müssen wir alle einmal, es ist nur eine Frage wann, klar und natürlich wie? Aber wer weiß das schon?
Und wenn Petrus, auf diesem Pilgerweg nach Santiago de Compostela, der Meinung sein sollte, dass für mich nun die Zeit gekommen sei, wo er mich als Schutzengel für andere brauchen kann, dann lass mich bitte dort wo er mich abruft und bitte nicht nach Deutschland zurückholen.
Behalte mich in der Erinnerung, die Du von mir in Dir trägst. Versuche einfach das, was Du von mir an seelisch / geistigen Inhalten für Dein Leben bekommen hast in Dein Leben einzubauen, so wie Du es für richtig findest. So kann ich gut weiterleben. Das ist viel mehr wert als ca. 20 Jahre lästige Grabpflege, aus Pflichtgefühl!“
Und außerdem, so denke ich mir, es ist ja eh kaum jemand da, der auf mich warten würde, außer vielleicht einige Patienten, evtl. die Mitglieder meiner Therapiegruppen, die mich mögen und mich auch irgendwie brauchen. Aber, auch sie würden schnell neue Wege gehen, sollte ich einmal nicht mehr da sein. So ist das nun einmal im Leben. Das Leben geht einfach weiter.
Marcus selbst, zu dem ich ein sehr gutes Verhältnis habe, braucht mich schon lange nicht mehr. Er hat studiert, baut sich sein eigenes Leben auf, so wie das auch normal ist. Er kommt allein bestens zurecht. Also: wem würde ich schon fehlen, wenn mich der Petrus abberufen würde... und somit habe ich alles für den eventuellen Tag X vorsorglich vorbereitet.
Mit meinen Gedanken und Vorbereitungen befinde ich mich in bester Tradition der Wallfahrer und Pilger. Wenn in früheren Jahrhunderten jemand auf eine Pilgerwallfahrt gehen wollte, dann war es seine Pflicht, vorher alle seine persönlichen und privaten Dinge zu ordnen, Schulden zu bezahlen, die Familie (auch für den Fall des Todes) zu versorgen und ein Testament zu hinterlegen. Nach bewiesener Erledigung dieser Pflichten bekam er neben dem Pilger-Segen der Kirche, noch einen schriftlichen Pilgerpass und Ausweis.
Marcus hat zu alledem nichts gesagt. Ich denke mir, er hat sich seinen Teil über die neuen, seltsamen Wege seines plötzlich „spinnerten“ Vaters gedacht.
Das geht mir plötzlich viel zu schnell
Auf der Bank, im Zugabteil mir gegenüber, steht mein mit Kleidungsstücken für alle Wetter-Fälle, Medikamenten, Sanitär- und Waschzeug usw. gefüllter Rucksack, mit dem Schlafsack und der Isomatte obenauf, die Trekkingschuhe daran gehängt, Brotzeitbeutel, zwei Wanderstecken, Geldtasche und Wasserflasche.
Nun wo ich hier im Zug sitze, geht es mir nach all den vielen spannenden und freudigen Vorbereitungen plötzlich nicht mehr gut. Das geht mir plötzlich alles viel zu schnell, denke ich mir. Und mit jeder Minute wo sich der Zug bewegt, entferne ich mich Kilometer um Kilometer weiter weg von daheim, entferne mich von allem Gewohnten. Ich reise ins Ungewisse.
Es melden sich Zweifel. Ich frage mich, ob dieser Schritt richtig, nicht zu gewagt und zu groß für mich ist. Ich frage mich, was eigentlich in mich gefahren ist, 6 Wochen auf eine Pilgerwallfahrt von über 800 Kilometer zu gehen, noch dazu allein in einem fremden Land, mit nicht sonderlich guten spanischen Sprachkenntnissen. Irgendwie spüre ich plötzlich Angst vor meiner eigenen Zivilcourage... und ich spiele mit dem Gedanken, in Rosenheim wieder auszusteigen und zurückzufahren. Aber wäre das richtig?
Nein, mein „Über - Ich“ findet es ist nicht richtig und ich erkenne, hier meldet sich plötzlich ein Muster aus meiner Kindheit wieder: Wenn Ängste in meiner Kindheit zu stark wurden, habe ich versucht, dem Unbekannten, Unangenehmen oder Bedrohlichen usw. auszuweichen. Aber mein „Über - Ich“ ruft mich zur Ordnung. Ich sage mir selbst, dass ich nun ausführen werde, was ich mir vorgenommen habe. Also bleibe ich bei der nächsten Station sitzen und fahre weiter. Allerdings ein unguter Druck in meinem „Bauch“ bleibt bestehen.
Loslassen, wie macht man das?
Und der Zug fährt einfach weiter. Er bringt mich immer weiter weg von daheim, von Haus, Garten, Praxis, Patienten, Therapiegruppen, meinen psychologischen Märchenabenden, die ich sehr liebe und die ich sonst genau in den Sommerferien immer abhalte, usw. Und von meiner ehemaligen Lebenspartnerin, mit der ich fast 14 Jahre zusammen war, die zum eigentlichen Auslöser für diese Pilgerwallfahrt wurde.
Sie hat nämlich nach dem letzten Urlaub unsere Partnerschaft beendet. Zugegeben: Irgendwie hat es schon lange bei uns „gekriselt“, aber damit habe ich nicht gerechnet. Sie sagte mir frei heraus, dass in ihr keine Liebe mehr für mich da sei und für sie der Kreis geschlossen wäre. Sie möchte nicht mehr mit mir zusammen und wieder frei sein und ihr Leben alleine leben. Aus/ Ende!
Ich fragte mich, ob ich ihr - nach 14 Jahren Partnerschaft - zu langweilig geworden bin, denn sie betont ausdrücklich: sie brauche jetzt Musik und Tanzen, Tanzen, Tanzen.
Ich dachte mir, ja, das mag wohl so sein. Ich bin für sie jetzt einfach das Alte, das Fass, das ausgeschöpft ist, das Gewohnte, das Bekannte, der Lebenseintopf, sicher oft ohne viele Höhen und Tiefen, auch aufgrund unseres Lebens-Alltags von zwei getrennten Praxen mit vielen Patienten, voller Pflichten, so wie im richtigen Leben... Und ich denke mir, ja, sie hat aus ihrer Sicht sicher recht. Ich muss sie nun wirklich loslassen.
Nur wie macht man das? Loslassen, wenn die eigenen Gefühle noch völlig dagegen sprechen? Ihre Gefühle, sind für mich anscheinend schon lange tot, aber meine Gefühle für sie sind immer noch sehr lebendig.
Für mich begann nun eine ungute Zeit, mit einem auf und ab meiner Gefühle, immer wieder hin und her gerissen zwischen Hoffnung, Depression, Trauer und Akzeptanz.
Erst hoffte ich, das sei nur eine vorübergehende Krise von ihr, denn sie war in der letzten Zeit auch ständig überarbeitet. Ich habe natürlich, wie bei meinen Patienten, erst einmal mit Verständnis reagiert und auf Änderung gehofft. Aber nun, nach fast einem Jahr muss ich einsehen, es gibt diese Hoffnung nicht mehr, denn in ihrem Leben gibt es anscheinend eine neue Liebe.
Das immer deutlichere Wahrnehmen dieser Endgültigkeit, das Grübeln und gleichzeitige Hoffen auf Erwachen wie aus einem Alptraum...und nun das alles loszulassen, das war nicht leicht und tat einfach weh.
Ich fühlte mich in dieser Situation wie der kleine Carlo von damals..., welcher als ungewolltes Kind von der Mutter alleingelassen und abgelehnt wurde..., ein Gefühl eigentlich eines Therapeuten nicht würdig. Eigentlich! Aber ich bin auch nur ein Mensch und ich möchte „echt“ sein dürfen. Meine Seele zeigt eben auf dem Hintergrund dieser kindlichen Erfahrungen in der jetzigen Wiederholung, noch ihren „alten“ Schmerz.
Jakobsweg: Zeit der intensiven Vorbereitungen
Eine liebe Freundin gab mir dann symbolisch gesprochen einen Tritt, indem sie mir das sagte, was ich in einem solchen Fall auch jedem meiner Patienten gesagt hätte: „Trauerarbeit hin, Trauerarbeit her..., ein Jahr lang herumsitzen, Trübsal blasen, grübeln, warten auf ein Wunder, allein sein und leben zwischen unerfüllter Hoffnung, Leid und Trauer, so geht das doch nicht weiter.“ Sie meinte, ich sollte endlich wieder die „Fenster von meinem Leben aufmachen“, viel Licht, Luft und Freude hineinlassen, z.B. eine Schiffsreise machen, neue Leute kennen lernen, mal wieder nach anderen Frauen schauen, alles nach dem Motto: „Andere Mütter haben auch schöne Töchter!“
Ich schüttelte den Kopf, denn plötzlich war ein anderer Impuls in mir: „Nein“ sagte ich, „Ich möchte jetzt keine Schiffsreise machen. Ich möchte den Jakobsweg nach Santiago de Compostela in Spanien gehen, der schon sehr lange auf meinem inneren Wunschzettel steht“ ..... Und mit dieser Sekunde war mir klar... genau das ist es, das mache ich!
Seit diesem Entschluss, ging es mir fast schlagartig besser. Ich hatte ein neues Ziel und die Fenster meines Lebens geöffnet. Schon am gleichen Abend begann ich mit den Vorbereitungen und im Internet nach Informationen zu suchen. Die unerwartete Fülle zum Thema „Jakobsweg“, die ich fand, war im ersten Moment geradezu erschlagend. Ich bestellte mir Informationen über den Jakobsweg, einige Bücher, Wanderkarten und Wanderführer, und so begann ich mich eifrig durch viel Lesen vorzubereiten.
Die Credencial
Ich bestellte mir bei einem deutschen Jakobsverein schon einmal vorab meinen Pilgerpass, die sogenannten Credencial für 5 €, was – so bemerkte ich am Jakobsweg - es aber nicht gebraucht hätte. Diese Credencial bekommt man vor Ort in jeder Pilgerherberge, oft sogar gratis.
Diese Credencial ist eine Besonderheit und entspricht einer uralten Tradition:
In dieser Credencial wird mit Stempel und Unterschrift durch die aufgesuchte Herberge, Kirchengemeinde usw. bestätigt, wann und wo sich der Pilger aufgehalten hat. So ist der gesamte Weg des Pilgers nachweisbar.
Das war insbesondere in der mittelalterlichen Gerichtsbarkeit wichtig. Ein „Täter“ konnte mit dem Pilgerweg nach Santiago seine Strafe erlassen bekommen. Allerdings musste er dazu seine Pilgerschaft (die oft 3-6 Jahre dauerte) mit der Credencial nachweisen.
Am Ende seiner Pilgerreise kann der heutige Pilger mit dem Nachweis der Stempel in seiner Credencial im Pilgerbüro in Santiago „Die Compostela“ bekommen, die mittelalterliche Pilgerurkunde als Nachweis für die Pilgerschaft nach Santiago.
Ich informierte mich in mehreren Sportgeschäften, kaufte mir dann einen Schlafsack, Isomatte, Spezialstrümpfe, Funktionsunterwäsche, Taschenlampe, brachte meine Trekkingschuhe zum Schuhmacher, besorgte noch neue Einlagen und alles musste ausprobiert werden.
Ich begann als Training, nun täglich einen Rundweg von ca. 10 Kilometer zu gehen, erst sehr beschwerlich, dann mit immer größerer Freude. Viele zusätzliche Kleinigkeiten galt es noch zu besorgen. Ein weiteres Problem war es, die Praxis für sechs Wochen Leerlauf zu organisieren… und 1000 weitere Gedanken gingen mir ständig durch den Kopf.
Mit der Bahn zum Jakobsweg
Und je intensiver ich mich mit den Vorbereitungen zum Jakobsweg beschäftigte, desto mehr traten meine grauen Gedanken in den Hintergrund und spannende Vorfreude war in mir. Ob das ein „Zufall“ war?
Also terminierte ich den Beginn meiner Pilgerreise auf Mitte Juli, leider genau in die Sommerferien Juli und August. Das ist eine Zeit, vor der in den Erfahrungsberichten anderer Pilger immer wieder aufgrund der großen Hitze und wegen Überfüllung des Jakobsweges und der Pilgerherbergen aufgrund der Schulferien, und durch Touristen, Wanderer, Fahrradgruppen usw. gewarnt wird. Aber es geht vom Praxisablauf einfach nicht anders.
Eine weitere Frage war: wie komme ich zum Jakobsweg? Wo soll ich beginnen... und ich entscheide mich für die klassische Route, den französischen Weg, der in St. Jean Pied de Port beginnt.
Viele Male spielte ich im Internet die verschiedenen Fahrverbindungen von Flugzeug, Bus, und / oder Bahn und die dazugehörigen Fahrpläne durch, bis ich mich für den Zug entscheide und mir zwei Wochen vor meinem Abreisetermin am Bahnhof Traunstein die Fahrkarten besorgte. Ich hatte großes Glück, dass ich noch Platzkarten bekommen habe, denn die Züge waren schon ziemlich ausgebucht.
Nachdem mir all diese Dinge durch den Kopf gegangen sind, fuhr der Zug gerade in München ein, wo ich in den
Nachtzug-Liegewagen nach Paris umsteigen musste. Als ich den mir endlos scheinenden Bahnsteig entlang ging, bemerkte ich, wie ungewohnt stark so ein vollgepackter Rucksack auf dem Rücken drücken kann. Die Fahrt im Nachtzug war ganz annehmbar...