Einführung in narrative Methoden der Organisationsberatung
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Einführung in narrative Methoden der Organisationsberatung

  1. 124 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Einführung in narrative Methoden der Organisationsberatung

Über dieses Buch

Das Erzählen ist nicht nur eines der mächtigsten Instrumente zur Kommunikation und zur Informationsspeicherung, das die Menschheit entwickelt hat, sondern Narrationen sind auch entscheidend an der Konstruktion der Identität von Individuen und sozialen Systemen beteiligt.Unter dem Schlagwort "Storytelling" ist das Arbeiten mit Geschichten (Narrationen) in Unternehmen heute weit verbreitet. Dieses Buch zeigt, dass die Einsatzmöglichkeiten von narrativen Methoden im oben genannten Kontext weit über das reine Erzählen von Geschichten hinausgehen.Letztlich wird die Identität von Unternehmen und Organisationen durch die Geschichten, die Mitarbeiter und Führungskräfte, Kunden oder die Medien erzählen, konstruiert, am Leben gehalten und kommuniziert. Entwicklung und Veränderung sind immer (auch) Arbeit an der Narration. Die Erzählprozesse verändern also die Identität.Welche Geschichten konstruiert eine Person oder ein Unternehmen über sich selbst? Und wie lassen sich diese Geschichten und damit das eigene Selbstverständnis, das Handeln oder die Prozesse verändern? Vor dem Hintergrund solcher Fragen werden narrative Ansätze, Methoden und Veränderungsdesigns für das Einzelcoaching sowie wie für die Organisationsentwicklung und das Change-Management anwendungsorientiert dargestellt.

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Information

Jahr
2017
ISBN drucken
9783849701574
eBook-ISBN:
9783849780678
Auflage
1
1 Einleitung
1.1 Unternehmen, Coaching und Organisationsberatung
»Coaching« ist bekanntlich ein Begriff, der umso weiter in seinem Bedeutungsspektrum wurde, je häufiger man ihn in den letzten Jahren gebraucht hat. Ich möchte hier nicht auf alle diese Facetten eingehen, dazu findet sich genug in einführenden Büchern zum Coaching (z. B. Radatz 2009). Ähnliches gilt für den Begriff »Organisationsberatung« (vgl. z. B. Königswieser u. Hillebrand 2013). Sehr allgemein könnte man den Unterschied zwischen beiden Begriffen dahin gehend fassen, dass Coaching eher Einzelberatungssituationen im beruflichen Kontext umfasst, Organisationsberatung dagegen Interventionen in Gesamt- oder Teilsysteme von Organisationen. Doch auch diese Grobdefinitionen sind nicht ganz trennscharf, spricht man ja einerseits auch von Teamcoaching, bei dem ein Teilsystem der Organisation beraten wird, andererseits ist Einzelcoaching etwa von Geschäftsführern und Vorstandsmitgliedern gleichzeitig oft unmittelbar eine Intervention, die die gesamte Organisation betrifft. Im Folgenden werde ich die beiden Begriffe, ohne sie genau zu definieren, in der oben erwähnten ungefähren Abgrenzung benutzen.
Eine weitere Vorbemerkung betrifft den systemischen Hintergrund der narrativen Beratungsmethoden, die in diesem Buch vorgestellt werden. Ich verzichte auf eine allgemeine Einführung in die systemische Denkweise und die daraus resultierende beraterische Haltung und verweise auch hier auf entsprechende Fachliteratur (z. B. von Schlippe u. Schweitzer 1999; Simon 2008). Obwohl ich persönlich sehr viel mit narrativen Ansätzen in der Beratung arbeite, wohl auch, weil mich meine eigene Lebensgeschichte von der Beschäftigung mit Geschichten zur systemischen Beratung geführt hat und nicht umgekehrt, wie es vermutlich bei den meisten Lesern, die aus dem »systemischen Feld« kommen, der Fall ist, so bin ich doch nicht der Ansicht, dass narrative Ansätze das allein selig Machende sind. Ich bitte die Leser dieses Buches, das Folgende als eine Bereicherung ihres Methoden- und Werkzeugkoffers zu sehen und für sich selbst zu prüfen, welche dieser Methoden ihnen liegen und für ihre eigenen Beratungssituationen passend sind. Zudem sind diese narrativen Ansätze immer auch kombiniert mit anderen systemischen Methoden zu denken. Wenn ich im Folgenden empfehle, Fragen zu stellen, ist intendiert, dass man sich aus dem systemischen Frageninventar (z. B. dem zirkulären Fragen) bedienen möge, und bestimmte Ansätze sind letztlich systemische Methoden, denen die narrative Perspektive eine Zusatzdimension gibt.
1.2 Narrative Ansätze in Beratung und Coaching
Geschichten, also Äußerungen in narrativer Form, werden seit jeher in nahezu jedem Coaching- und Beratungsgespräch angewendet: Der Berater bittet den Klienten zu erzählen, unter welchen Umständen das Problem, das ihn in die Beratung geführt hat, zum ersten Mal aufgetreten ist, wie es sich entwickelt hat, welche Lösungsversuche er bisher schon unternommen hat und so weiter. Oder der Klient erzählt, wie seine bisherige Karriere verlaufen ist, und entwickelt dann die Geschichte in die Zukunft hinein, beschreibt, wie er sich weiterentwickeln möchte und wie er dabei die Hilfe des Coachs benötigt. Auch Werkzeuge oder methodische Ansätze wie die Wunderfrage oder die Lebenslinienarbeit basieren letztlich auf narrativen Ansätzen: auf der erzählenden Konstruktion der Erlebnisse am Tag nach dem »Wunder« oder in der erzählenden Rekonstruktion des bereits zurückgelegten Lebenswegs und der Planung der nächsten Schritte. Und auch der Berater selbst erzählt viel: in der Supervision von seinen Fällen, im Privatleben von seinen Erlebnissen und Erfahrungen, wie jeder andere Mensch auch. Narrativität ist also für jeden Coach, Berater, Organisationsentwickler und Therapeuten ein bekanntes, ganz selbstverständlich erscheinendes Werkzeug. Warum also ein ganzes Buch zur Einführung in die scheinbar ohnehin vertrauten narrativen Methoden?
Meine Antwort lautet: Weil in der Arbeit mit dem Erzählen noch sehr viel mehr Potenzial steckt, als meist in der Beratungspraxis angewendet wird. Beschäftigt man sich näher mit den Elementen und Bauplänen von Geschichten, wird man neue Möglichkeiten entdecken, wie man mit Geschichten in einem Beratungsgespräch arbeiten kann, die weit über die Rekapitulation von Lebens- und Problemgeschichten in der Anamnese oder der Auftragsklärung hinausgehen.
Auch Methoden der narrativen Therapie, wie sie etwa von Michael White und David Epston (vgl. 2009; White 2010) entwickelt wurden, nutzen diese Potenziale nur zum Teil – aber sie nutzen einen zentralen Aspekt narrativer Realitäts- und Sinnkonstruktion: den der Verbindung von Narration und Identität. Auf die Übertragbarkeit des Ansatzes von White und Epston auf Beratung im beruflichen und organisationalen Kontext werde ich daher ausführlich eingehen – aber auch auf andere narrative Ansätze in der Beratung, die andere sowie ich alleine oder gemeinsam mit anderen entwickelt haben.
Das Erzählen ist nicht nur eines der mächtigsten Instrumente zur Kommunikation und zur Informationsspeicherung, das die Menschheit jemals entwickelt hat, sondern Narrationen sind auch entscheidend an der Konstruktion der Identität von Individuen und sozialen Systemen beteiligt: Letztlich sind es die autobiografischen Erzählungen, die wir uns selbst und die andere über uns erzählen, die unsere Identität ausmachen. Und auch die Identität von Unternehmen und Organisationen wird durch die Geschichten, die Mitarbeiter und Führungskräfte, Kunden oder die Medien erzählen, konstruiert, am Leben gehalten und kommuniziert. Entwicklung und Veränderung sind immer (auch) Arbeit an der Identität: Halte ich es für möglich, dass ich etwas besser kann, als ich bisher dachte? Welche Handlungsoptionen gibt es, an die ich bisher noch überhaupt nicht gedacht habe? Welche neuen, hilfreicheren Handlungsmuster lassen sich in einem Unternehmen entwickeln? Alle Prozesse, die zu den damit angesprochenen Veränderungen führen, verändern natürlich auch das Selbstverständnis der Person bzw. der Organisation – und dann natürlich wiederum das Bild, das die Umwelt von ihr entwickelt. Diese Prozesse verändern also die Identität. Wenn aber Identität als Summe von Geschichten beschreibbar ist, dann liegt nahe, dass man Geschichten auch als Methoden nutzt, um mit und an dieser Identität zu arbeiten.
Die meisten Coaching- und Beratungsmethoden, die in dieser Einführung beschrieben werden, beschäftigen sich mit »Identitätsgeschichten«, mit authentischen Geschichten aus dem jeweiligen (Um-)Feld des Klienten bzw. Klientensystems. Keine Beachtung finden Beratungsmethoden, bei denen fiktive Geschichten – häufig etwa sogenannte Weisheitsgeschichten oder Beispielgeschichten aus einem mit dem jeweiligen Thema der Beratungssituationen vergleichbaren Kontext – gewissermaßen ins System »eingespeist« werden in der Hoffnung, Reaktionen auszulösen. Das liegt vor allem daran, dass der Autor mit solchen Methoden wenig Erfahrung hat und sie die wenigen Male, da er sie ausprobiert oder ihre Anwendung beobachtet oder von ihnen gelesen hat, wenig überzeugend fand. Selbstverständlich kann es in einigen Fällen sinnvoll sein, durch Erzählen neue Ideen zu streuen, durch Pointen Menschen auf neue Handlungsoptionen zu bringen. Doch das Potenzial solcher Interventionen ist nach meiner Erfahrung sehr beschränkt; allzu fremd und wenig praxisnah erscheinen diese Geschichten häufig dem System; wer sich dennoch für solche Methodiken interessiert, dem sei das Buch von Christina Budde (2015) empfohlen.
2 Geschichten und Identität
2.1 Die narrative Konstruktion von Identität
Identitäten von Individuen ebenso wie von Organisationen sind wesentlich oder sogar vollständig bestimmt durch Geschichten: Geschichten, die wir selbst über uns erzählen, Geschichten, die andere über uns erzählen, Geschichten, in die wir hineingeboren sind, seien dies Familiengeschichten oder nationale oder kulturelle Geschichten; dass zum Beispiel Geschichten aus der deutschen Geschichte etwas mit unserer Identität als Deutsche zu tun haben, kann man spätestens wahrnehmen, wenn man nach Israel reist. Unsere Identität entsteht und bildet sich immer wieder neu an den Schnittpunkten dieser Geschichten.
Abb. 1: Narrative Konstruktion von Identität
Nach diesem Konzept von Identität ergeben sich zwei wichtige Implikationen:
  • Identität entsteht am Schnittpunkt mehrerer Systeme; sie ist nicht Bestandteil eines »Individuums« (wie auch immer wir uns das vorstellen mögen), sondern entsteht dort, wo Person, (synchrone) Umwelt und (diachrone) Historie sich schneiden.
  • Identität ist deshalb auch nie vollständig von einem Individuum beeinflussbar bzw. allein veränderbar – denn die Geschichten, die der Einzelne über sich erzählt, sind eben nur ein Teil der Geschichten, die seine Identität ausmachen.
Auf den ersten Blick klingt dies wie eine Ernüchterung bezüglich der Veränderungsmöglichkeiten in einem Beratungsprozess – denn wenn der Klient nur einen kleinen Teil seiner Identitätsgeschichten »kontrollieren« kann, wie soll er sich da verändern? Hier erweist sich der Vorteil des systemischen Ansatzes, der ja immer System und Umwelt, in diesem Fall das Individuum und seine sozialen Bezüge, integriert betrachtet. Nehmen wir einmal – beispielhaft und zugegebenermaßen sehr plakativ – an, ein Klient betrachte es als ein wesentliches Identitätsmerkmal, ein »Versager« zu sein; ein Merkmal, das er selbstverständlich mit zahlreichen Geschichten aus seiner Autobiografie unterfüttern kann. Und nehmen wir weiterhin an, auch große Teile seiner Umgebung (Kollegen, Familie etc.) halten ihn für einen Versager. Es liegt auf der Hand, dass eine Veränderung der Identität bezüglich des Versagermerkmals nur in zwei Stufen funktionieren kann: Der Klient sollte selbst Zweifel daran bekommen, dass er ein Versager ist, und er sollte Strategien kennen, wie er diesen Zweifel auch seiner Umgebung einimpfen könnte. Denn vermutlich würde es ihm mittelfristig noch schlechter gehen, wenn er sich nach dem Beratungsprozess zwar für großartig hielte, große Teile seiner Umgebung in ihm aber weiterhin den Versager sähe. Ähnliches gilt natürlich auch für Unternehmen: Wenn ein Unternehmen (also alle Führungskräfte und Mitarbeiter) sich selbst für äußerst innovativ hält, die meisten Kunden es aber als schwerfällig und konservativ ansehen und innovative Projekte lieber mit Mitbewerbern durchführen, hat es ein Problem (dieses Beispiel beruht auf einem tatsächlichen Fall aus der Beratungspraxis des Autors).
Beratungsarbeit bedeutet daher immer, einerseits den Klienten dabei zu unterstützen, neue Ideen von der eigenen Identität zu entwickeln bzw. alte Ideen aufzugeben und gleichzeitig diese neuen Ideen so in Handlung umzusetzen, dass auch sein Umfeld neue Ideen von ihm entwickeln kann.
Die Idee, dass Identität keine feste Größe ist, die ein für alle Mal festgelegt ist, sondern etwas, das im Lauf des Lebens immer wieder neu konstruiert und verändert werden muss, taucht verstärkt vor allem im Zusammenhang mit Überlegungen der Post- oder Spätmoderne auf: Wenn es keine verlässlichen Referenzsysteme mehr gibt, wenn die »großen Erzählungen« (Lyotard 2012) nicht mehr die Kohärenz der Gesellschaft ebenso wie die Rolle des Einzelnen in ihr garantieren können, dann muss diese Kohärenz ständig neu konstruiert werden. Und
»Kohärenz wird über Geschichten konstruiert. In dem Konzept der ›narrativen Identität‹, das immer mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht […], wird diese Idee ins Zentrum gerückt« (Keupp et al. 2008, S. 58).
Im Kontext der systemischen Therapie und Beratung hat diese Idee vor allem durch die Arbeiten des amerikanischen Psychologen Jerome Bruner Wirkung entfaltet; auf ihn berufen sich explizit auch die Begründer der narrativen Therapie, Michael White und David Epston (s. u.). Jerome Bruner (1997, S. 122) konstatiert eine »narrative Wende«; Menschen verwandeln »ihre Erfahrung der Welt und ihrer eigenen Rolle in dieser Welt in Geschichten« (ebd., S. 123). Diese Geschichten und die Art und Weise, wie sie erzählt werden, konstruieren die Ich-Identität.
Vielleicht mag der Gedanke, dass wir selbst und unsere Umwelt unsere Identität immer wieder neu durch Geschichten konstruieren, auf den ersten Blick befremdlich wirken, vielleicht auch, weil wir gewohnt sind, unsere Identität als ein »Ding« zu denken, ein »Objekt«, das man besitzt, oder ein Merkmal, das so unveränderlich ist wie unsere Augenfarbe. Das wäre eine typische »Verhexung unseres Verstandes durch die Sprache«, wie Ludwig Wittgenstein (1980, S. 79) die falschen Fährten nennt, auf die wir durch die Sprache geführt werden: Nur weil ein abstrakter Begriff wie »Identität« sprachlich (als Substantiv) genauso funktioniert wie ein konkreter (z. B. »Hammer«), neigen wir dazu, das, was hinter abstrakten Begriffen steckt, konkreten Objekten als ähnlich zu denken.
Wenn man einmal genauer darüber nachdenkt, was wir über uns selbst wissen, landet man sehr schnell bei Geschichten, die wir zu konkreten Erlebnissen konstruieren. Wenn ich mich zum Beispiel für einen friedfertigen Menschen halte und darüber nachdenke, wie ich denn auf diese Zuschreibung komme, sind es Erlebnisse, die mir einfallen: vielleicht, wie ich als Schüler mal einen Streit geschlichtet habe oder als junger Mann einer Schlägerei aus dem Weg gegangen bin. Natürlich gibt es in jedem Leben Tausende von solchen Erlebnissen, wahrscheinlich auch andersartigen, in denen ich mich nicht ganz so friedfertig verhalten habe, aber zur Identitätskonstruktion ziehen wir zu einem bestimmten Zeitpunkt (oder in einer bestimmten Phase des Lebens) nur einen Teil dieser potenziellen Geschichten heran.
Identität hat jedoch nicht nur einen Vergangenheitsaspekt – über zu Geschichten geronnenen Erlebnisse und Erfahrungen –, sondern auch einen Zukunftsaspekt:
»Identität hat etwas mit dem zu tun, was vor uns liegt und wie wir uns auf diese Zukunft einstellen wollen. Identität ist eine Konstruktion, die niemals abgeschlossen ist, sondern auf etwas hin operiert, was wir noch nicht sind« (Abels 2010, S. 442; Hervorh. im Orig.).
2.2 Beratung als Arbeit an Identitäten
Gerade dieser Zukunftsaspekt ist natürlich für Beratungskontexte von entscheidender Bedeutung: Es geht ja nicht darum, eine bestimmte Identitätskonstruktion analytisch zu konstatieren, sondern Veränderungen zu ermöglichen: Wie können Handlungsoptionen erweitert und neue Problemlösungsstrategien entwickelt werden, damit man eben nicht im Status quo der womöglich durch die aktuelle Identitätskonstruktion eines Individuums oder einer Organisation verursachten Probleme stecken bleibt? Oder, anders ausgedrückt: Wie können Individuen und Systeme ihre Identitätsgeschichten so entwickeln, dass in Zukunft neue Optionen ermöglicht werden? In einem systemisch-konstruktivistischen Verständnis ist damit jede Beratung, die auf Veränderungen abzielt, eine Arbeit an der Identitätskonstruktion des Klienten: Im Veränderungscoaching will der Klient sich explizit verändern, er will neue Möglichkeiten, Ressourcen, Handlungsoptionen entdecken und damit ein neues Bild von sich gewinnen und neue Geschichten über sich erzeugen.
Aber auch im Entscheidungscoaching spielt die Identitätskonstruktion eine basale Rolle: Geht es doch beim Treffen einer Entscheidung – sei dies nun eine berufliche wie die über einen neuen Job oder eine private wie die über einen Hausbau – immer darum, welche der infrage stehenden Optionen am besten zum Klienten passt und welche Option welche Auswirkungen auf das künftige Leben und damit auch auf das Bild des Klienten von sich selbst hat. Beispielsweise würde die Entscheidung, eine sehr verantwortungsvolle Führungsposition zu übernehmen, unter Umständen auch bedeuten, mehr in Öffentlichkeit und Medien aufzutreten, was der betreffende Klient vielleicht bisher vermieden hat. Gehört zu seinem Selbstbild etwa der Glaubenssatz, nicht gut in diesen Dingen zu sein – ein Glaubenssatz, der natürlich mit Erlebnissen aus der eigenen Autobiografie untermauert ist –, würde sein Selbstbild seiner eigenen Einschätzung seiner Eignung für die Führungsposition im Weg stehen. Glücklich kann er daher mit der Entscheidung für jene Position nur werden, wenn er diesen Aspekt seiner Identität für veränderbar hält, wenn er sich also von einem, »der mit Öffentlichkeit und Presse nicht so gut kann«, zu einem verändert, »der das zumindest leidlich kann«. Damit dies funktionieren kann, muss er natürlich neue Erfahrungen machen, die in neuen Geschichten kulminieren – oder er muss Ausnahmegeschichten in seiner Autobiografie finden. Und auch im Konfliktcoaching schließlich geht es häufig, wenn auch versteckter, um Identitäten – z. B. darum zu verstehen, warum den Konfliktparteien bestimmte von außen marginal erscheinende Standpunkte so wichtig erscheinen.
Narrative Methoden zielen also wie jede Beratung, jedes (systemische) Coaching in die Zukunft, hin zur Lösung; im Unterschied zu anderen Methoden fokussieren sie dabei ganz explizit auf die Geschichten, über die Identitäten konstruiert werden. Sie versuchen, über eine Veränderung von identitätsrelevanten Geschichten auch Elemente der Identitätskonstruktion einer Person oder einer Organisation zu verändern und damit neue Handlungsoptionen zu ermöglichen.
2.3 Identitätslandschaften
Innerhalb des s...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelblatt
  3. Urheberrecht
  4. 1. Einleitung
  5. 2. Geschichten und Identität
  6. 3. Wie Geschichten funktionieren
  7. 4. Narrative Methoden beim Einzelcoaching
  8. 5. Narrative Interventionen in Systeme
  9. 6. Nachbemerkungen: Organisationen und ihre Narrationen
  10. Literatur