Ein Leben in Ost und West
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Ein Leben in Ost und West

  1. 464 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Ein Leben in Ost und West

Über dieses Buch

Unter dem Titel Mein Leben in Ost und West hat Eckhart Dittrich, geboren 1952 in Dresden, aufgewachsen in Thüringen und Absolvent einer Moskauer Hochschule, sein bisheriges Leben episodenhaft aufgeschrieben. Er gibt in seinen Erinnerungen einen detaillierten Einblick in das alltägliche Leben in der ehemaligen DDR und der Sowjetunion - vor und nach der Wiedervereinigung. Als gelernter DDR-Bürger beschreibt er die Wendezeit und die Zeit danach aus ostdeutscher Sicht. Am Beispiel seines Lebens zeichnet er die Folgen nach, die der gesellschaftliche und politische Umbruch für seine Generation - auch in der Sowjetunion - hatte.

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Information

Teil 1 – meine DDR-Zeit

Und so fing alles an

Mit neunzehn träumte ich von der großen, weiten Welt. Deshalb hatte ich beschlossen, nach der Erlangung meines Abiturs nach Moskau zu gehen, um dort am Institut für Stahl und Legierungen ein fünfjähriges Studium zu beginnen. Ich habe nicht lange überlegt und beschlossen, diesen Schritt zu wagen, da ich überzeugt war, für meine Zukunft und die damit verbundene berufliche Entwicklung zwar etwas Nichtalltägliches, aber Richtiges zu tun. Dazu kam, dass ich es richtig gut fand, die einmalige Chance nutzen zu können, in der großen Sowjetunion mein Studium zu absolvieren. Übrigens wurden alle fünf Auslandsstudenten aus unserer Klasse der Geraer Penne an Universitäten und Institute von fünf verschiedenen Städten des europäischen Teils der Sowjetunion verweht. Der Eine studierte in Charkow Computertechnik und Elektronik, der Zweite absolvierte ein zahnmedizinisches Studium in Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad. Der Dritte studierte Mathematik an der Minsker Universität und der vierte sollte nach Warschau gehen. Er ist leider kurz vor dem Studienbeginn bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.
Ich war von allen der Einzige, der an einem Institut in Moskau studierte. Dass ich einmal Metallurgie als Studiengang belegen würde, hätte ich mir vorher auch nicht träumen lassen. Ob es das Richtige für mich war, weiß wohl nur der Wind.

Mein Abi-Jahr in Halle an der Saale

Wer in der DDR im Ausland studieren wollte, musste ein spezielles Vorbereitungsjahr absolvieren. Deshalb setzte ich nach der elften Klassenstufe meine Schulbildung an einem Institut zur Vorbereitung zum Auslandsstudium in Halle an der Saale als Abiturjahr fort. In Halle hatte ich es in diesem Jahr nicht leicht. Das Lernniveau war extrem hoch. Aber man bekam einen überaus starken Schub für das bevorstehende Studium. Übrigens sagte mir mein Russischdozent voraus, dass ich mit meinen miserablen Russischkenntnissen in Moskau kaum Chancen hätte, das Studium zu meistern. Er irrte, wie mein späteres Leben zeigen sollte.
In Halle habe ich die Kultur mit großem Interesse genossen. Das Hallenser Theater hat es mir dabei weniger angetan, aber ich entwickelte mich zu einem regen Besucher von Jazz-Konzerten und erwarb sogar ein Jahresabonnement. Es umfasste acht Konzerte. Die Bands waren von internationaler Güte. Alle drei großen „Bs“ der internationalen Jazz- und Free-Jazz-Szene brachten ihre Arrangements zu Gehör. Bereits damals fanden „The Chris Baber Band“, die „Keith Ball & Kenny Balls Jazzmen“ und die „Mr. Acker Bilk and his Paramount Jazzband“ den Weg in den Hallenser Jazz-Schuppen. Das Publikum war auch vom Fach. Aber die eindeutigen Lieblinge der damaligen Jazz-Szene waren Manfred Krug, die Sängerin Uschi Brüning und das junge Günther-Fischer Quintett. Eindeutig auch deswegen, da sie die meisten Songs selbst kreiert hatten und vorrangig auf Deutsch sangen. Das war damals noch revolutionär. Ich hatte mir alle zugänglichen Jazz-Platten von dem DDR-Label AMIGA gekauft, aber sie sind leider irgendwann verlustig gegangen.
Die Hallenser Jazz-Szene war bestimmt auch ein Fundament für die Installation des in jedem internationalen Musikkalender verewigten und von vielen Fans dick unterstrichenen Dresdener Jazz-Festivals. Das Festival wurde zu DDR-Zeiten bereits riesengroßgeschrieben und ist heute noch eine Jazz-Adresse erster Güte. Die Partnerstadt von Dresden, Leningrad, hat es nachgemacht und richtet bereits seit den Sowjetjahren schon viele Jahre ein solches Festival aus.
Die Zeit in Halle an der Saale war schön, aber auch schwierig. Manchmal war sie auch kurios. Alteingesessene erzählten mir einmal, dass in der Hallenser Reilstraße, einer wichtigen Ausfallmagistrale der Stadt, früher mehr als ein Dutzend Eckkneipen und sonstige Bierlokale existierten und die Wirte immer gut zu tun hatten. Man trank seine Lieblingsbiersorte und hielt zu seiner angestammten Kneipe in ewiger Treue.
Eine Ausnahme bildeten die Studenten der Martin-Luther-Universität in Halle. Bei ihnen war es z.B. Brauch, einen sehr skurrilen Wettbewerb zu veranstalten. Er beinhaltete die Aufgabe, dass die Studenten an einem Abend in so viel wie möglichen Bierlokalen dieser Straße je ein Glas Bier (0,33 Liter) trinken mussten. Die Wettbewerbsbiertrinker führten eine Liste aller Kneipen mit sich, die aufgesucht werden mussten und ließen sich auf ihr vom Kellner des jeweiligen Etablissements die durch Austrinken erzeugte vollständige Leere des vorher bis zum Rand gefüllten Bierglases bestätigen. Das große Ziel war es dabei natürlich, alle Kneipen zu schaffen. Ich kann nicht mehr genau sagen, wie viele Biergläser dafür getrunken werden mussten, um alle aufzusuchen, aber es waren mehr als zwölf. Es soll ganz wenige Wettbewerbsteilnehmer gegeben haben, die diese anfänglich bestimmt spaßmachende und später wahrscheinlich auf allen Vieren endende Aktion in Angriff nahmen. Man erzählte sich, dass damals sogar Buch geführt und die einzelnen Versuche genau festgehalten worden seien. Ich habe in Halle gern einmal ein Bier getrunken und kannte mit der Zeit die Angebotspalette an verschiedenen Sorten, die in den Kneipen in der Reilstraße angeboten wurden. Die Vielfalt war erheblich und das Besondere bestand in der Tatsache, dass einige von ihnen hochprozentige Starkbiere anboten. Wenn die Teilnehmer des Bierrennens bei ihrer Sauftour solches Bier mitgetrunken hatten, schieden sie ganz schnell aus dem Wettbewerb aus, da sie viel schneller volltrunken waren als nach dem Genuss normalprozentiger Biere. Oft musste der Notarzt bemüht werden, um die K.O. gegangenen Trinker vor dem Himmelstor zu bewahren. Da es in den neunzehnhundertfünfziger und -sechziger Jahren wohl zu viele Bierleichen gab, griff die Universitätsleitung hart durch und setzte dem Treiben ein Ende, in dem sie die Betroffenen mit sofortiger Wirkung exmatrikulierte. Diese exemplarische Strafe hatte wohl eine durchschlagende Wirkung, denn die Aufzeichnungen in dem besagten Buch sollen abrupt zu Ende gewesen sein. So erzählte man es sich. So eine Vorgehensweise hätte meinem Institut in Moskau bestimmt auch gut zu Gesicht gestanden. Aber alle ernstgemeinten Versuche früherer russischer Zaren und kommunistischer Staatsführer der Sowjetunion, sowie Moralpredigten sowjetischer und später russischer Präsidenten vermochten nicht, dem massenhaften Wodka-Trinken Einhalt zu gebieten.
Aber es hat sich in den letzten zehn Jahren eine Entwicklung ergeben, die selbst die Russen unglaublich finden. Die junge Generation des digitalen Zeitalters nahm mit Riesenschritten immer mehr Abstand von dem sinnlosen und letztendlich gesundheitsruinierenden Wodka-Saufen. Das Medium Internet spielte dabei eine äußerst positive Rolle, da die moderne russische Jugend im Word Wide Web sehen konnte, dass man das Leben auch auf andere Weise gestalten konnte. Es wurde mehr Bier getrunken und das, man wollte es kaum glauben, in Maßen. Die alte Generation der Wodka-Trinker war langsam am Aussterben. Diesen bedauernswerten Menschen wurde auch kaum medizinisch geholfen, weil man das leider als sinnlose Liebesmüh betrachtete und die kostenintensive Behandlung dieser Menschen sowieso nicht bezahlen konnte.
Generell bedeutet das aber nicht, dass der Wodka in Russland irgendwann ausstirbt, aber laut Aussage mehrerer meiner Moskauer Bekannten beklagen die Wodkaverkäufer im Kiosk an der Straßenecke den Rückgang des Wodkaverkaufs. Offizielle staatliche statistische Angaben weisen eine Reduzierung von bis zu 20 Prozent in der letzten den letzten zehn Jahren auf.
In Halle machte ich mit den Fahrscheinkontrolleuren einmal wegen folgender Geschichte unfreiwillig sehr schlechte Erfahrungen. Wir wohnten während des Vorbereitungsjahres für das Auslandsstudium am Rande der Stadt in zweistöckigen Holzhäusern unter recht engen und unbequemen Verhältnissen. Zum Unterrichtsgebäude lief man zwanzig Minuten. Man konnte auch in Richtung Stadtzentrum mit der Straßenbahn fahren. An einem Knotenpunkt der Straßenbahnlinien stieg man um und fuhr dann mit einer anderen Bahn bis direkt vor das Unterrichtsgebäude. Ich hatte mein Fahrrad mit nach Halle genommen und war damit unschlagbar schnell unterwegs. Da ich nicht allein auf die Idee kam, mich mit dem Drahtesel zu bewegen, fuhr jeden Tag zum Unterricht und ins Internat eine große Fahrradfahrertraube durch die Außenbereiche der Stadt. Aber die Straßenbahn war unschlagbar, wenn man zum Hallenser Bahnhof oder in das Stadtzentrum wollte. Ich hatte keine Monatskarte für die Nutzung der Straßenbahn gekauft. Deshalb musste ich in der Bahn den damaligen Wahnsinnspreis von 15 Pfennigen in einen Metallkasten stecken, an dem an der Seite ein Hebel angebracht war, der durch seine Bewegung mit der Hand sowohl den Fahrschein freigab als auch das eingeworfene Geld in eine Box beförderte, die sich im Inneren den Metallkastens befand und regelmäßig vom Fahrer der Straßenbahn geleert wurde. Pro Wagen waren zwei solcher Kisten installiert.
Und mir passierte bei einer Fahrt folgendes: Ich stieg mit einem Freund in die Bahn ein und wollte das Kleingeld für den Fahrschein aus meiner Geldbörse nehmen. Ich hatte jedoch nur vierzehn Pfennige gefunden. Mein Freund hatte auch nur seine fünfzehn Pfennige und keine weiteren der kleinen Aluminiumchips. Ich sagte zu mir halblaut, dass die vierzehn Pfennige reichen mussten und zog mir einen Fahrschein. Jetzt kam das Unerwartete. Neben mir stand zu meinem Pech ein Kontrolleur in Zivil und teilte mir mit, dass ich gegen die gültigen Transportbestimmungen des Hallenser Straßenbahnbetriebes verstoßen hätte und eine Strafe in Höhe von fünf Mark zahlen müsse. Ich war wegen dieser Pfennigfuchserei geschockt und hatte den Kontrolleur um Verständnis gebeten. Er ließ sich jedoch nicht erweichen und sogar auch dann nicht, als mir ein anderer Passagier den fehlenden Pfennig spendierte. Aus einem Pfennig wurde in meinem Portemonnaie ein Fehlbetrag von fünf Mark. Ich musste gleich bezahlen. Der nächste Besuch des Biergartens war somit obsolet. Dass ich damals mehr als stinksauer war und den Kontrolleur verfluchte, kann wohl jeder verstehen.

Reisevorbereitungen

Die Aufstellung der Packliste für meine große Reise war durch sich später als berechtigt herausstellende Zweifel, ob man in Moskau Waren und Sachen wie in der Heimat kaufen konnte, beeinflusst worden. Und dennoch, die Liste hatte katastrophaler Weise einen gravierenden Fehler. Trotz größter Gründlichkeit und mehrmaliger genauester Überprüfung hatten meine sonst immer alles bedenkende Mutter und ich vergessen, für mich einen Wintermantel zu kaufen. Eine Woche vor meiner Abreise stellten wir diesen unverzeihlichen Fehlposten fest. Aber woher im Hochsommer einen dicken, gut gefütterten Wintermantel mit einer passenden Kapuze nehmen? Kein Textilgeschäft in der näheren und weiteren Umgebung, nicht einmal in dem sonst gut versorgten Berlin, hatte saisonbedingt derartiges im Angebot. Was tun?
Da passierte etwas Unerwartetes. Meine Mutter kannte auf Grund ihrer beruflichen Tätigkeit eine Reihe von Textilfirmen in Thüringen, die im Hochsommer bereits Wintersachen fertigten. Sie hatte in ihrem Leben niemals solche Beziehungen für persönliche Zwecke ausgenutzt und nun dieses Problem. Sie nahm also notgedrungen Verbindung mit drei Betrieben auf und bereits zwei Tage später kamen mit der Post drei Pakete an, in denen ich tatsächlich Winterkutten vorfand. Verwundert war ich nur, dass die drei gelieferten Mäntel Label von Quelle, Neckermann und Otto trugen. Die bundesdeutschen Versandhausketten bezogen damals aus der DDR einen Großteil ihrer Kollektionen zu sehr günstigen Konditionen und die DDR erhielt dafür die so dringend benötigten Devisen. Nach dem gleichen Vertragsmodell ließen IKEA und Neckermann und Co. schon damals Möbel in der DDR zu einem Spottpreis fertigen. Eine der Winterkutten gefiel mir besonders gut und somit wurde ich einer der Wenigen, der zu dieser Zeit eine Studentenkutte von Neckermann sein Eigen nennen durfte.

Abschied von der Heimat

In der Republik war es schon eine Woche lang heiß und trocken. Es herrschten Temperaturen von über dreißig Grad und wir fuhren unter diesen Bedingungen im Trabant meiner Eltern vom Süden der Republik nach Berlin. Diese Fahrt ging einen Tag vor meiner Abreise nach Moskau über die Bühne. Alle schwitzten im Auto und ich war erstaunt darüber, wie mein Vater unseren geliebten Trabbi samt meiner Mutter, meiner kleinen Schwester, mir und zwei großen Koffern auf der Autobahn nach und durch Berlin bewegte. Er hatte sich für die Transporte diverser Ausrüstungen für unseren Garten einen Dachgepäckträger für die Pappe, wie das Auto im Volksmund liebevoll genannt wurde, besorgt, die nun zum Transport meiner zwei Koffer herhalten musste. Der Trabbi war in seiner mannigfaltigen Einsetzbarkeit einfach unschlagbar. Einer der beiden Koffer war ein sogenannter Schrankkoffer mit enormen Maßen, in dem alle meine Sachen, etwas Geschirr und anderer Hausrat verstaut waren. Alles war auf eine Reise zugeschnitten, bei der die Rückreise erst nach sechs Monaten in Aussicht gestellt wurde, nachdem das erste Semester absolviert worden war.
Wir fuhren also einen Tag vor meiner Abfahrt nach Berlin und übernachteten im Interhotel „Unter den Linden“ an der Straßenecke Unter den Linden/Friedrichstraße. Dieses in den neunzehnhundertsechziger Jahren im Rahmen des Wiederaufbaus des Ostberliner Zentrums errichtete Hotel wurde nach der Wende durch einen größeren Hotelneubau ersetzt. Wir bezogen zwei Zimmer in der obersten Etage. Am Abend gingen wir in der Nähe des Brandenburger Tores in ein teures Restaurant essen. Ich konnte aus dem Fenster die direkt gegenüberliegende sowjetische Botschaft sehen, was für mich einer gewissen Symbolik nicht entbehrte. Problematisch wurde es mit meiner siebenjährigen Schwester. Sie wollte unbedingt mit dem Paternoster im Hotel fahren, und das alleine! Sie fuhr in den obersten Stock und verpasste den Ausstieg. Diese Art von Lift fährt ja permanent eine Endlosschleife und die Kabinen kehrten dabei absteigend neben dem aufsteigenden Strang wieder zurück. Meine Schwester fing an zu schreien, als sie den Ausstieg verpasste, sie kam aber dann doch unverletzt und total verheult auf der anderen Seite wieder zum Vorschein. Meine Mutter, die wohl kurze Zeit Höllenqualen erlitt, konnte sich lange nicht beruhigen. Am nächsten Morgen fuhren wir mit dem Taxi zum Bahnhof und die Stunde des Abschied Nehmens kam bedrohlich nahe.

Meine Abreise zum Studium nach Moskau

Berlin Ostbahnhof, an einem sehr heißen Sommertag Ende Juli 1971. Mit einer Hand voll weiterer Abiturienten, unendlich vielen Eltern und Verwandten stand ich auf Bahnsteig 1 und wartete auf einen besonderen Zug. Dieser Zug sollte mich nach Moskau, meinem zukünftigen Studienort, bringen. Einer wochenlangen Vorfreude auf diese Reise waren seit Tagen viele bange Fragen gewichen, was mich in dieser Großstadt erwarten würde. Ich hatte von vielen Leuten aus deren Erzählungen über ihre eigenen Erfahrungen oder aus anderen Quellen Gutes und weniger Gutes über die Sowjetunion berichtet bekommen.
Alles war nun in einem unhandlichen Schrankkoffer verpackt. Der Koffer stand vor mir und es schien mir, dass er auch nicht so recht wusste, was die nächste Zeit bringen würde. Wie wir uns beide so ansahen, flogen in meinen Gedanken die letzten Jahre meines noch jungen Lebens vorbei. Ich sah meine Zeit an der Erweiterten Oberschule, die dem Gymnasium gleichzusetzen war. Aus meiner Schulklasse wechselten nach der elften Klasse fünf wagemutige Jungs ohne Auslandserfahrungen an die Arbeiter- und Bauernfakultät in der Saalestadt Halle, in der man auf das Auslandsstudium vorbereitet wurde. Mädchen aus unserer Klasse und sogar der gesamten Klassenstufe wurden keine Angebote unterbreitet. Man hielt sie für nicht gut genug dafür. Unser Klassenleiter an der Geraer Schule war der Hauptblockierer und als ein Mädchenhasser bekannt. Er war ein ungehobelter Grobian gegenüber dem weiblichen Geschlecht und ließ das die Mädels spüren. Er bot aus seiner fatalen Grundüberzeugung heraus nur den Jungs die Möglichkeit an, im Ausland zu studieren. Von ihm kam der Spruch: „Herr kommt von herrlich und Dame kommt von dämlich.“ Als meine Mutter davon Wind bekam, stellte sie unseren Klassenleiter zur Rede. Leider war ihrem Protest kein Erfolg beschieden. Der sture Herr blieb bei seiner Meinung.
Ob mir bewusst war, auf was ich mich mit dem Auslandsstudium einließ, weiß ich nicht mehr, aber der Abschied von der gewohnten Umgebung und den Bekannten und Verwandten war nicht leicht. Meine Mutter, die natürlich ihren Sohn wohlbehütet sehen wollte, stammte aus einer einfachen Bauernfamilie und wurde in eine Zeit hineingeboren, die zu den schwärzesten Jahren deutscher Geschichte gehörte. Sie konnte nach dem Krieg die Chance nutzen, in Dresden ein Studium zu beginnen. Sie wurde Diplompsychologin, was sich bestimmt auch auf meine Erziehung auswirkte. Später absolvierte sie noch ein weiteres Studium, das ihr den Titel Diplompädagogin einbrachte. Sie war ihr ganzes Berufsleben lang in einer leitenden Position der bezirksgeleiteten Industrie des Bezirkes Gera tätig. Mein Vater, auch ein Kind einer ländlichen Familie aus dem sächsischen Erzgebirge, suchte sich nach dem Krieg eine Arbeit und ging deshalb auf Wanderschaft. Er blieb in dem sächsischen Dorf hängen, wo meine Mutter wohnte, erlernte den Beruf eines Maurers, heiratete meine Mutter und ging mit ihr gemeinsam zum Studium nach Dresden. Als fertiger Diplom-Ingenieur für Bauwesen übernahm er gleich nach dem Studium wichtige Aufgaben beim Bau eines Wasserkraftwerkes in der DDR, um später auch auf der Ebene des Bezirks Gera eine Führungsposition im Bauwesen bis zu seiner Rente inne zu haben. Meine Schwester kam als Nesthäkchen dreizehn Jahre nach mir zur Welt. Ich habe ihre Entwicklung nicht weiterverfolgen können, da ich nach Moskau ging, als sie gerade mal sieben Jahre alt war.
Die kaum zu verstehende Stimme der Bahnsteigansagerin rief mich aus meinen Gedanken in die Wirklichkeit auf den Bahnsteig zurück, als sie darüber informierte, dass der Zug leider später zur Abfahrt bereitgestellt würde und dass für die Studenten, die nach Moskau reisten, der Waggon am Ende des Zuges zur Verfügung stehen werde. Also begann auf dem nicht sehr breiten und wegen der vielen Menschen kaum passierbaren Bahnsteig eine regelrechte Völkerwanderung. Meine Mutter unterdrückte ein paar große Tränen und hielt meine Schwester, die ständig weinte und mich von der Abreise abhalten wollte, fest an der Hand.
Plötzlich war der Zug da und es wurde angesagt, dass er nur wenige Minuten auf dem Bahnsteig stehen würde. Ich weiß heute nicht mehr, wie wir meinen Schrankkoffer in der Eile in den Zug verfrachtet bekamen. Viele andere Koffer wurden einfach durch die Zugfenster gehievt. Dann fuhr der Zug auch schon an und es gab kein Adieu, auch kein Abschiedsküsschen, denn als wir, die wir uns im Zug wiederfanden, langsam wieder zu uns gekommen waren, hatte der Zug bereits den Berliner Ostbahnhof verlassen. Ich ertappe mich heute noch manchmal bei dem Gedanken, dass die Hektik bei der Abfahrt initiiert worden war, damit wir schnell weg waren. Gut war jedoch, dass Alle ihre Koffer in den Zugabteilen wieder vorfanden. Das Chaos auf dem Bahnsteig hatte also keine Verluste mit sich gebracht. Die Mädels, die mit uns nach Moskau fuhren, hörten nicht auf zu heulen und wollten wieder aussteigen. Aber ehe wir sie beruhigen und damit unsere eigenen, ähnlich gelagerten Gefühle unterdrücken konnten, war nach einer Stunde Fahrt bereits Frankfurt/Oder in Sicht, die Stadt an der Grenze zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen. Einige Jungs in unserem Zugwagen entdeckten auf dem Bahnsteig einen Kiosk, legten ein paar wenige Mark zusammen und kauften schnell noch einen Kasten Bier, der uns den völlig missglückten Abschied von unseren Nächsten und Lieben wenigstens etwas erleichterte. Ich wusste ja damals noch nicht, dass dieses Bier für einige Monate das letzte normal schmeckende Bier sein sollte, welches ich trank. Der sogenannte Gerstensaft Moskauer Brauart schmeckte überhaupt nicht, egal, wo man ihn kaufte. Ich definierte aus Frust das Getränk, welchem die Russen die Bezeichnung Bier gaben, als ein Gesöff, das mehrere Wochen irgendwo abgestanden gelagert wurde. Das habe ich aber nie laut gesagt, sonst hätte ich ganz schnell eine kostenlose Rückfahrkarte nach Berlin erhalten. Die Passkontrolle verlief auf beiden Seiten reibungslos, da die polnischen Beamten auf unsere neuen Reisepässe auf Grund einer Vereinbarung über den visafreien Reiseverkehr zwischen der DDR und der VR Polen nur einen kurzen professionellen Blick warfen. An der polnisch-sowjetischen Grenze kam die polnische Grenzkontrolle gar nicht erst. Dafür nahmen die sowjetischen Beamten bei der Grenzkontrolle in der Grenzstadt Brest die Sache sehr ernst und sammelten von allen die Pässe ein. Wir erhielten sie erst kurz vor der Weiterfahrt zurück. Auf der Reiseanlage zum Pass (ein doppelseitiges Dokument mit einem Sichtvermerk der DDR-Dienststellen der Polizei, das wie ein Visum funktionierte), und im Reisepass selbst prangten nun zwei rote Einreisestempel. Unsere Reispässe hatten ihre Jungfräulichkeit mit einem Schlag verloren. Dieser Pass, auf den ich sehr stolz war, begleitete mich die gesamten fünf Jahre meines Auslandsstudiums und war am Ende mit vielen roten Sichtvermerken „verunstaltet“ worden. Aber die DDR-Grenzorgane stempelten in den Pässen fleißig mit. Die Farbe ihrer Stempel war jedoch grün. Ich war nach dem Studium äußerst verwundert, dass mein Reisepass die gesamte Zeit in Moskau ohne zerrissen zu werden, durchhielt.
Anfang der siebziger Jahre war die Eisenbahnstrecke Berlin-Moskau noch größtenteils nicht elektrifiziert. Die polnischen Eisenbahnstrecken wurden gerade elektrifiziert, so dass es teilweise recht flott voranging. Die Züge wurden auf der sowjetischen Seite der Strecke mit schweren Dieselloks gezogen, deren Modelle auch im Güterbahnbetrieb der DDR zum Einsatz kamen. Vie...

Inhaltsverzeichnis

  1. Inhaltsverzeichnis
  2. Teil 1: Meine DDR-Zeit
  3. Teil 2: Mein Leben im wiedervereinten Deutschland
  4. Teil 3: Meine persönliche Sicht auf Russland und die Ukraine
  5. Impressum