Wochensprüche
des Sommerhalbjahres
DAS SOMMERHALBJAHR
Seelenerlebnisse des Frühlings – Aufstieg in die höheren Welten
Frühling im Erdenleben – 1. Woche
1 Oster-Stimmung (7. – 13. April)
Wenn aus den Weltenweiten
Die Sonne spricht zum Menschensinn
Und Freude aus den Seelentiefen
Dem Licht sich eint im Schauen,
Dann ziehen aus der Selbstheit Hülle
Gedanken in die Raumesfernen
Und binden dumpf
Des Menschen Wesen an des Geistes Sein.
Im ersten Wochenspruch, den Rudolf Steiner mit dem Titel „Oster-Stimmung“ überschrieben hat, ist die spezielle Erlebnisweise der Menschen während ihres Lebens auf der Erde in sorgsam ausgewählten, weisheitsvollen Worten beschrieben. Sobald wir durch die physische Geburt „das Licht der Welt erblicken“, kommen wir unter den direkten Einfluss der uns tagtäglich von außen berührenden Sinneseindrücke. Sie sprechen zunächst zu unseren Sinnesorganen und locken die Aufmerksamkeit unserer Seele nach draußen. Ganz besonders intensiv nehmen wir das zu Beginn des Frühlings wahr, wenn durch die höher steigende Sonne die Tage wieder länger als die Nächte werden und das Licht über die Dunkelheit obsiegt. Dann feiert auch das Leben in der Natur seine Auferstehung und beschert uns durch sein zunehmendes Sprießen, Wachsen und Erblühen die alljährlich immer wieder aufs Neue entstehende erstaunliche Vielfalt an Formen und Farben der Pflanzenwelt. Aber auch innerhalb der Tierwelt drängt das zunächst im Schutz des Waldes oder des Stalles geborene neue Leben immer zahlreicher aus seinen Verstecken hervor und wagt sich hinaus in die mit ihren Sinnesreizen so verlockende Außenwelt. Eindrücke solcher Art sind es, welche wir Menschen am Frühling ganz besonders lieben. Auch uns selbst locken sie hinaus in die Natur. Wir fühlen uns erfrischt und belebt durch das jedes Jahr neu ersprießende Wunder, welches sich nun allüberall um uns herum auf der Erdoberfläche abspielt.
Sonderbarer Weise erwähnt Rudolf Steiner im ersten Wochenspruch seines Seelenkalenders nichts von dieser so zahlreich sich vollziehenden Geburt neuen Leibeslebens in der uns umgebenden Natur, obwohl der erste Wochenspruch doch mit „Osterstimmung“ überschrieben ist und wir mit der Osterzeit gerade die alljährliche Auferstehung neuen Lebens auf der Erde verbinden. Ganz entgegen unserer Erwartung lenkt Rudolf Steiner unsere Aufmerksamkeit schon gleich mit seinen ersten Worten von der Erdoberfläche und der irdischen Natur weg, hinauf in die von „Licht“ erfüllte Atmosphäre, welche die Erde umgibt, ja sogar noch weiter hinaus in die „Weltenweiten“ und „Raumesfernen“, also in den Bereich des Außerirdischen. Lässt man die Worte des ersten Wochenspruches ganz unbefangen auf sich wirken, so kann durchaus zunächst ein Gefühl des Befremdens entstehen und in der Seele die Frage aufwerfen: Weshalb übergeht Rudolf Steiner so ganz und gar das doch überaus beeindruckende und wunderbare, ja bezaubernde Frühlingsgeschehen auf der Erde? Weshalb lenkt er in dieser Zeit der Leibesgeburten unseren Blick so konsequent hinweg von der Erde, hinaus in die Weiten?
Bei genauerer Betrachtung stellen wir zudem fest, dass von der ganzen Erdennatur überhaupt nur ein Einziges seine Erwähnung findet. Das ist die Leibeshülle des Menschen. Doch selbst sie wird kurz und prägnant einfach nur als „Hülle“ bezeichnet und zwar von etwas, das Rudolf Steiner „Selbstheit“ nennt. Ganz offensichtlich möchte er unsere Aufmerksamkeit auf einen Bewusstseinsprozess hinlenken, der sich an dieser Hülle des Menschen vollzieht und zwar an seiner Außenseite, insbesondere am Sehsinn, dem Hauptsinn des Menschen. Als solcher wird dieser mit der Bezeichnung „Menschensinn“ besonders gewürdigt, wenngleich er sicherlich doch auch stellvertretend für alle anderen Sinne des Menschen steht. Der Grund für das besondere Hervorheben des Sehsinns, liegt sicherlich darin, dass wir mit ihm das die Erde umgebende „Licht“ wahrnehmen und, diesem folgend, am weitesten in die „Weltenweiten“ und „Raumesfernen“ hinaus vorzudringen vermögen, wesentlich weiter als es uns der Hörsinn gestatten würde, ganz zu schweigen von den nur über über die unmittelbare Umgebung des Körpers und diesen selbst Auskunft gebenden Sinnen des Tastens, Riechens und Schmeckens. Als Folge der Berührung des „Menschensinnes“ durch das Licht der Sonne wird in der Seele des Menschen etwas ausgelöst. Ein anteilnehmendes Gefühl der Freude zieht als Antwort unserer Innenwelt, „aus den Seelentiefen“, den von außen an uns herandringenden Sinneseindrücken entgegen. Im Verlaufe dieses Prozesses des Betrachtens der Außenwelt erwacht der Mensch zu einem ersten zaghaften Bewusstsein seiner „Selbstheit“. Er wird sich eines gegenüber der Außenwelt in einem gewissem Maße Eigenständigen, seines Ichs, bewusst. In einem Vortrag aus dem fünften Karma-Band weist Rudolf Steiner mit kurzen, prägnanten Worten darauf hin:
„dass wir hier auf der Erde als Mensch stehen, gewissermaßen räumlich eingeschlossen in unsere Haut. Alles, was innerhalb unserer Haut ist, nennen wir uns selbst. Alles dasjenige, was außer unserer Haut ist, nennen wir die Welt. Und wir blicken von demjenigen, was innerhalb unserer Haut ist, heraus in die Welt.“ 6
Gleich zu Beginn der Wochensprüche des Seelenkalenders wird der Mensch also nicht als ein bloß physisches, lebendes Leibeswesen beschrieben, sondern insbesondere als ein Bewusstseinswesen, das auf der Grundlage einer Dreiheit von Leib („der Selbstheit Hülle“), Seele („Freude aus den Seelentiefen“) und Geist („Gedanken“) sogar zur Erkenntnis der „Selbstheit“, zum Ich-Bewusstsein, erwacht. In dieser dreigliedrigen Zusammensetzung wurde der Mensch im Verlaufe eines langen Evolutionsprozesses aus dem Gesamtgöttlichen, das uns als Natur umgibt, herausgeboren. Die Rosenkreuzer des Mittelalters fassten ihr Wissen um diesen Werdeprozess der menschlichen Wesensglieder in den Worten „Ex deo nascimur“ – „Aus Gott werden wir geboren, gehen wir hervor“ – zusammen und verbargen ihr Wissen in der Buchstabenfolge „EDN“. Mit der Osterzeit, in welcher die Geburt neuen Leibeslebens in der Natur ihren Höhepunkt erlebt, findet dieses „Ex deo nascimur“ sein sinnlich erlebbares Abbild im Jahreslauf und seine Erfüllung. Die Kraft des Aufbaus neuer Leiblichkeiten wird zwar in den Folgemonaten des Frühlings weiter wirken, aber sie wird danach immer mehr abnehmen und im Verlaufe der Sommermonate schließlich ausklingen.
Wenn Gott etwas gebiert, so ist dieses jedoch von seiner Art und Wesenheit. Der in und an seinen niederen Hüllen sich entwickelnde eigentliche Mensch ist tatsächlich göttlicher Natur, wie wir durch Christus selbst wissen. In Johannes 10,34 berichtet uns das Evangelium, wie Christus die jüdischen Schriftgelehrten auf eben diese Tatsache hinwies mit den Worten: „Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: «Ich habe gesagt: Ihr seid Götter?»“. Christus nahm hier Bezug auf Psalm 82, Vers 6, welchen die Schriftgelehrten kannten, und der die Menschen an ihren göttlichen Ursprung erinnert: „Ich habe gesagt: «Ihr seid Götter und Söhne des Höchsten allesamt.»“ – Wenn wir aber Söhne des Höchsten sind, so sind wir Söhne des Vaters. Welcher Art jedoch ist unser Vater, von dessen Art wir sind? Rudolf Steiner äußerte sich nach Notizen aus einer privaten Lehrstunde folgendermaßen dazu:
„Die erste Kraft, die unmanifestierte Gottheit, wird auch der Vater genannt; die zweite Kraft ist der Sohn, der zugleich Leben und schöpferische Substanz ist, und die dritte Kraft ist der Geist. Zusammen erscheinen sie als diese drei Urkräfte, also als Vater, Sohn und [Heiliger] Geist, als Bewusstsein, Leben und Form.“7
Bei anderer Gelegenheit, als Rudolf Steiner über die drei Arten des Schaffens sprach, teilte er über die dreifaltige Gottheit mit:
„Überall aber, wo wir ein Hervorgehen haben aus dem Nichts, da haben wir den ersten Logos. Daher nennt man den ersten Logos oft auch das in den Dingen selbst Verborgene, den zweiten Logos die in den Dingen ruhende Substanz, die Lebendiges aus Lebendigem schafft, den dritten Logos den, der alles Vorhandene kombiniert, aus den Dingen die Welt zusammensetzt. Diese drei Logoi gehen in der Welt immer durch- und ineinander. Der erste Logos erfährt auch die innere Weisheit und auch den Willen. Im Schaffen des ersten Logos ist Erfahrung, das heißt, Gedankensammeln aus dem Nichts und dann wieder Schaffen nach den Gedanken aus dem Nichts. Die Schöpfung aus dem Nichts ist aber nicht so gemeint, als ob gar nichts dagewesen wäre, sondern dass im Laufe der Entwickelung Erfahrungen gemacht werden und dass im Laufe des Werdens Neues geschaffen wird, dass das, was da ist, gleichsam abschmilzt und aus der Erfahrung heraus Neues geschaffen wird.“ 8
Diese beiden Aussagen Rudolf Steiners lassen sich in den Worten zusammenfassen: Der Vater ist höchstes göttliches, schöpferisches Bewusstsein, in sich selbst verborgen. Er bedarf keiner Außenwelt, um sich seiner selbst bewusst zu sein. Seine Leben bewirkende Tätigkeit ist der aus der Ureinheit herausgeborene Sohn, der eingeborene Sohn. Der Geist zeigt sich als Form oder Stoff verschiedenster Dichtigkeitsstufen und in verschiedenster Kombination. Der Sohn hat unmittelbaren Anteil am Bewusstsein des Vaters und ist selbst schöpferisch. Sinn jeder Offenbarung des Vaters ist es, an der geoffenbarten Form neues Bewusstsein bis zur höchsten schöpferischen Bewusstseinsstufe hinauf zu entwickeln, auf der es sich mit seinem Ursprung wieder vereinigen kann, dann allerdings bereichert mit all den neuen Erfahrungen, die auf dem Entwicklungswege gemacht wurden. „Es ist am Ende also etwas da, was am Anfange nicht da war: nämlich alle Erfahrungen. Was am Anfange da war, ist herausgeflossen in lauter Dinge und Wesenheiten. Ein neues Bewusstsein ist am Ende entstanden mit einem neuen Inhalt, ein neuer Bewusstseinsinhalt.“
Um dieses große Schöpfungswerk zu vollbringen, opfert sich der Sohn und steigt bis zu den dichtesten Formzuständen herab, durchdringt diese, belebt und beseelt sie. Dadurch macht er die ihnen innewohnenden göttlichen Funken allmählich tauglich, einerseits eine immer stärker und umfassender werdende Schöpferkraft sowie andererseits eine immer stärker und umfassender werdende Bewusstseinskraft zu entwickeln. Deshalb sagt er von sich: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“. (Joh. 14, 6) Er ist der Weg zum Vater.
In weit zurückliegenden Zeiten der Evolution des menschlichen Bewusstseins haben wir schon drei niedrigere Bewusstseinsstufen durchlaufen, das dumpfe Trancebewusstsein, das Tiefschlafbewusstsein und das Traumbewusstsein. In einem weiteren Evolutionsschritt konnten wir auf der Erde bis zum äußeren Gegenstandsbewusstsein entwickelt werden, welches uns ermöglicht an einer Außenwelt zur Erkenntnis unserer selbst zu gelangen, zum Ich-Bewusstsein. Von da aus können wir nun unter Christi Führung zu den nächsthöheren Bewusstseinsstufen aufsteigen:
„Es gibt sieben Stufen des menschlichen Bewusstseins: Trancebewusstsein, Tiefschlaf-, Traumbewusstsein, Wachbewusstsein, psychisches, überpsychisches und spirituelles Bewusstsein. Eigentlich gibt es im Ganzen zwölf Bewusstseinsstufen; die fünf anderen sind schöpferische Bewusstseinsstufen. Es sind solche der Schöpfer, der schaffenden Götter. Diese hängen mit den zwölf Tierkreiszeichen zusammen. Diese zwölf Stufen muss der Mensch nacheinander durchmachen. …
Man kann sich ein hohes Wesen denken, das alle zwölf Bewusstseinsstufen aus sich herausgesetzt hat. Es selbst ist dann als Dreizehntes da und wird sich sagen: Ich könnte das, was ich bin, nicht sein, wenn ich nicht diese zwölf Bewusstseinsstufen aus mir herausgesondert hätte. – Diesen Fall haben wir in Christus mit den zwölf Aposteln. Die zwölf Apostel stellen die Bewusstseinsstufen dar, durch die Christus hindurchgegangen ist.“ 9
Christus entwickelt das menschliche Ich-Bewusstsein bis hinauf zum höchsten, dem Menschensohn vorbestimmten Zustand, dem Bewusstsein des Gottessohnes. Der dreizehnte Bewusstseinszustand ist der des zum Vater heimgekehrten Sohnes. „Werdet vollkommen wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Mt. 5, 48) und „Ich und der Vater sind eins“(Joh. 10, 30). Doch es gibt nur einen, der uns bis zum Ziel unserer Entwicklung führen kann. Daher sagt Christus auch: „Niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ (Joh. 14, 6) Rudolf Steiner erklärt noch weiterführend dazu:
„Durch den Christus-Impuls soll dieses Ich in entsprechender Weise gefunden werden. Und dass innerhalb Mitteleuropas dieses Ich gerade am reinsten sich mit dem Christus-Impuls verbindet, das drückt sich sprachlich dadurch aus, dass in unserem «Ich», durch eine innere geistige Notwendigkeit der fortschreitenden Entwickelung, ausgedrückt sind die Initialen des Christus: I-C-H, Jesus Christus. Dies mag als ein Traum erscheinen für den, der heute auf dem Gebiete der Traumwissenschaft stehenbleiben will. Für den, der sich aus dieser Traumweltanschauung erweckt, für den ist das eine große, bedeutsame Wahrheit. «Ich» drückt die Verbindung des Menschen mit Jesus Christus aus.“ 10
Die zwölf Entwicklungsschritte der Evolution vom Menschenwesen zum Gotteswesen, welche in einem dreizehnten, höchsten Zustand gipfeln, haben ihr Spiegelbild auch im Jahreslauf. Allerdings spiegelt sich dort die Entwicklung der Schöpferkraft getrennt von der Entwicklung des Bewusstseins wider. Geradeso wie der Erdenmensch aus einem unteren Menschen, dem Stoffwechselmenschen, und einem oberen Menschen, dem Bewusstseinsmenschen, besteht, spiegeln sich die Entwicklungsstufen zur Erlangung der stoffbildenden göttlichen Schöpferkraft in den Naturstimmungen der „unteren Jahreshälfte“, dem dunklen Winterhalbjahr wider, dagegen die mit der Erlangung der göttlichen Bewusstseinskraft verbundenen Entwicklungsstufen in den Naturstimmungen der „oberen Jahreshälfte“, dem hellen Sommerhalbjahr.
Im Seelenkalender beschreibt uns Rudolf Steiner, in seinen weise gewählten, zum Teil geheimnisvoll erscheinenden Formulierungen der Wochensprüche, wie wir angeregt durch die wechselnden Naturstimmungen des Jahreslaufes an den Entwicklungen der göttlichen Schöpferkraft einerseits und der göttlichen Bewusstseinskraft andererseits seelisch-fühlend Anteil nehmen können. Der erste Wochenspruch des Jahres beginnt daher unmittelbar mit der Geburt des menschlichen Ich-Bewusstseins auf seiner niedrigsten Entwicklungsstufe. Di...