Liebe, Arbeit, Gottvertrauen
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Liebe, Arbeit, Gottvertrauen

Die Familiengeschichte von Liesbeth und Johann Jakob 1906-1979

  1. 180 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Liebe, Arbeit, Gottvertrauen

Die Familiengeschichte von Liesbeth und Johann Jakob 1906-1979

Über dieses Buch

Der lange Weg der Vertreibung aus der HeimatIm Mittelpunkt der Geschichte steht die Vertreibung der Familie Jakob aus Seitendorf, einem Dorf in der Oberlausitz östlich der Neiße, am 22. Juni 1945. Liesbeth und Johann Jakob hatten sieben Kinder, die vor und während des zweiten Weltkrieges geboren wurden. Der Vater Johann kam nicht aus dem Krieg zurück, galt lange Zeit als vermisst, so dass Liesbeth am Tag der Vertreibung auf sich allein gestellt war. Zum Glück hatte sie ihre Mutter an der Seite, die in den kommenden schweren Jahren in Wittgendorf eine große Hilfe war.Es werden Begebenheiten aus der Kinder- und Jugendzeit von Liesbeth Kretschmer und Johann Jakob in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen erzählt, als sie sich kennenlernten und schließlich im Jahr 1931 den Bund fürs Leben schlossen.Im Hauptteil des Buches erzählen vier Kinder von Johann und Liesbeth Jakob ihre Erlebnisse aus der Zeit vor und nach der Vertreibung aus dem Heimatdorf Seitendorf. Es sind authentische und teilweise sehr emotionale Erfahrungen, die jeder der Zeitzeugen aus seiner ganz persönlichen Sicht beschreibt.

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Information

Jahr
2020
ISBN drucken
9783751917551
eBook-ISBN:
9783752649833
Auflage
2
Thema
Kunst

Erinnerungen der Tochter Gertraud (Traudel)

Die frühe Trennung von der Familie und die verlorene Heimat Seitendorf sind Dinge, die ich mein Leben lang nicht vergessen kann.
Ich wurde am 26. November 1930 als ältestes von sieben Kindern geboren. Meine Eltern, Johann Jakob und Liesbeth Kretschmer, kannten sich seit ihren Kindertagen. Die Eltern der beiden waren gute Bekannte und so wurde aus den gemeinsamen Kindertagen Ende der zwanziger Jahre mehr als nur eine lange Freundschaft. Gemeinsame Zukunftspläne entstanden und wahrscheinlich gab mein Erscheinen auf dieser Welt den letzten Ausschlag für die Hochzeit am 12. Dezember 1931. Gefeiert wurde im Seitendorfer Kretscham, der sich unterhalb des Kirchberges in der Dorfmitte befand. Im gleichen Haus war auch eine Fleischerei untergebracht. Es muss wohl eine schöne und ausgelassene Feier gewesen sein, bei der die zahlreichen Gäste sechsundachtzig Liter Pilsner tranken und zweihundertdreißig Zigaretten rauchten. Das jedenfalls geht aus der im Original erhaltenen Rechnung des Gastwirtes Rudolf Karsch hervor.
Es ist schon erstaunlich, dass ein solches Dokument und andere scheinbar nebensächliche Dinge die Hektik und Ratlosigkeit am Tag der Vertreibung aus Seitendorf überstanden haben. Auf der anderen Seite sind es gerade diese geretteten Sachen und Papiere, die uns heute helfen, das Leben und die Entscheidungen unserer Eltern zu verstehen.
Unser Vater hatte sich seit der Rückkehr von der Wanderschaft einen guten Ruf als Korbmacher erarbeitet. Obwohl er erst fünfundzwanzig Jahre alt war, hatte er einen festen Kundenstamm aus Seitendorf und den umliegenden Dörfern. Er war zuversichtlich, dass er als selbständiger Korbmacher eine eigene Familie ernähren konnte. Auf die Hilfe seines Vaters und der ganzen Familie konnte er sich immer verlassen.
Nachdem Großvater August mit Frau und Tochter in das Haus seines verstorbenen Bruders im Oberdorf gezogen war, konnte unser Vater das Elternhaus umbauen. Mit einem zweistöckigen Anbau wurde im Obergeschoss ein Laden eingerichtet, in dem Ausstellungsstücke zu sehen waren und der Verkauf der feinen Waren, wie Kinderwagen und Koffer, stattfand. Ich weiß, dass Vater auch Pläne hatte, den Verkaufsraum später in das Erdgeschoss zu verlegen. Für die Kunden wäre das günstiger gewesen, doch es sollte nie dazu kommen. Durch den Anbau wurde zusätzlicher Platz für eine Wohnstube und eine Küche geschaffen, so dass kurz nach der Hochzeit meiner Eltern unsere Großmutter Hulda zu uns in die Dorfstraße 193 zog.
In der Zeit der großen Arbeitslosigkeit war es nicht leicht, mit einem Handwerk eine sichere Existenz aufzubauen. Die Leute hatten wenig Geld und die meisten mussten zweimal überlegen, wofür sie es ausgaben. Wen wunderte es da, dass ein neuer Korb warten musste, wenn ein Kind in die Schule eintrat oder Konfirmation hatte. Und obendrein hatte es ihm so mancher Bauer im katholischen Seitendorf übel genommen, dass Johann Jakob eine Protestantin, deren Familie aus Dornhennersdorf kam, geheiratet hat. Nicht wenige mieden deswegen in den folgenden Jahren die Korbmacherei Jakob.
Meine Kindheit in Seitendorf war trotz der schwierigen politischen Weltlage eine schöne Zeit, an die ich gern zurückdenke. Die Demokratie in der Weimarer Republik geriet zu Beginn der dreißiger Jahre in immer größere Schwierigkeiten. Der Einzug der Nationalsozialisten in den Reichstag im Oktober 1930, einen Monat vor meiner Geburt, bedeutete den Anfang vom Ende der Republik. Es dauerte nur wenige Jahre bis die Nazis am Ziel ihrer politischen Intrigen waren. Am 30. Januar 1933 ernannte Reichpräsident Hindenburg Hitler zum Reichskanzler. Nach dem Tod Hindenburgs am 2. August 1934 trat Hitler die Alleinherrschaft über Deutschland als Kanzler und Reichspräsident an.
Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, was in den nächsten zwölf Jahren in Deutschland passieren und welche Auswirkungen der Größenwahn Hitlers auf die Welt haben würde. Was für eine Bedeutung aber hatte die Veränderung der Weltordnung in Bezug auf das Schicksal jedes Einzelnen, auf das Schicksal der Familie Jakob aus Seitendorf, einem Dorf in der Oberlausitz?
Ich wurde in eine Zeit hineingeboren, die am Ende meiner Kindheit zu der schlimmsten des 20. Jahrhunderts gehörte. Es mag nach diesen Worten unwirklich klingen, aber für uns Kinder war die Welt in meinem Heimatdorf in Ordnung. Uns ging es gut. Wir hatten satt zu essen, viele Freunde und eine Familie, in der wir uns wohl fühlten. Ende der dreißiger Jahre hatte ich vier Geschwister, Günter, Ruth, Werner und Thea, die für manche Aufregung aber nie für Langeweile sorgten. Von den Sorgen und Ängsten der Erwachsenen über die politische Lage oder gar über einen drohenden Krieg bekamen wir nichts mit.
Ich erinnere mich noch sehr gut an den Sommer nach dem Ende meines ersten Schuljahres, als ein Jeep mit hohem Tempo die Dorfstraße herauf kam und vor unserem Haus anhielt. Es war ein schöner warmer Tag mit wenigen Wolken am Himmel. Ich durfte mit meinen Geschwistern Günter und Ruth und ein paar Nachbarskindern im Garten spielen. Mutter war mit der Großmutter zum Friedhof gegangen, um nach dem Rechten zu sehen und die Blumen zu gießen. Aber der Vater war in der Werkstatt und konnte uns durch das geöffnete Fenster sehen. Das Auto hatte kaum gehalten, als vier oder fünf Männer in Uniform heraussprangen, das Gartentor aufrissen und gegen die Haustür schlugen. „Aufmachen!“, schrie einer von ihnen so laut, dass wir Angst bekamen und hinter den Schuppen rannten. Niemand von uns hatte so etwas vorher schon einmal miterlebt. Durch das Fenster konnte ich hören, wie Schranktüren geöffnet und wieder zugeschlagen wurden, wie die Schubladen der Kommode aufgezogen und der Inhalt achtlos auf den Fußboden geworfen wurde. Niemand im Haus sprach ein Wort. Ich konnte meinen Vater nicht sehen. Ich weiß nicht, ob er in dem Moment wusste, was das alles zu bedeuten hatte.
Nach etwa einer halben Stunde hörte ich den gleichen Mann wie am Anfang vor der Tür sagen, „Mitkommen!“. Vielleicht hat er auch noch mehr gesagt. Ich stand wie versteinert im Garten und hatte das ungute Gefühl, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde. Mit ängstlichem Blick sah ich, wie mein Vater wortlos aus dem Haus kam und in den Jeep einsteigen musste. Im nächsten Augenblick war das Auto verschwunden. Die Werkstatt war leer. Wir warteten alle ungeduldig auf Mutter, die auf dem Weg nach Hause war und dem Jeep begegnete. Sie konnte nicht ahnen, dass ihr Mann ein paar Minuten vorher von der Staatspolizei abgeholt wurde und in dem Auto saß.
Vater wurde in ein Gefängnis nach Dresden gebracht. Über ein halbes Jahr musste er Verhöre und Untersuchungen über sich ergehen lassen. Wenigstens durfte er hin und wieder einen Brief nach Hause schreiben. Der Inhalt wurde natürlich zensiert, aber für uns war es ein Lebenszeichen. Vater hat nie etwas Unrechtes getan, dafür war er im Herzen viel zu gut und hilfsbereit. Während er unschuldig im Gefängnis saß, hatten wir große Angst, dass er nicht zurückkommt. Immer wieder hörte man von Verhaftungen und Verurteilungen. Das Naziregime war gnadenlos gegenüber allen, die auch nur im Verdacht standen, nicht bedingungslos hinter Hitler zu stehen.
Ich erlebte Mutter in diesen Monaten oft verzweifelt. Sie musste stark sein, gemeinsam mit der Großmutter für uns Kinder sorgen, aber ich weiß auch, dass sie oft geweint und gebetet hat. Eine große Hilfe waren die Nachbarn und Freunde. Sie haben sich die Sorgen angehört und uns Mut und Hoffnung gemacht. Alle haben wieder und wieder versucht, Erklärungen zu finden. Was konnte die Staatsmacht dem Vater vorwerfen? Was sollte er, ein einfacher Korbmacher aus einem Dorf in der Oberlausitz, getan haben? Wir haben bis heute nur Vermutungen. Immer wieder war Vaters Werkstatt ein Treffpunkt von Menschen aus dem Dorf, die über die Freuden und Sorgen des alltäglichen Lebens sprachen. Für seine Arbeit im Büro hatte er sich vor ein paar Monaten eine Schreibmaschine gekauft. Vermutlich haben die Männer bei der Hausdurchsuchung gehofft, Flugblätter oder andere staatsfeindliche Schriften zu finden.
Es war für uns alle ein Glück, dass letztlich die Gerechtigkeit siegte. Jeder kann sich vorstellen, wie froh und erleichtert die ganze Familie war, als im Frühjahr des nächsten Jahres der Vater wieder vor der Tür stand. Besonders für uns Kinder war die Welt wieder in Ordnung.
Wir lebten in unserer eigenen Welt und genossen jeden Tag, an dem die Sonne schien, an dem wir in der Schule etwas Neues lernten und den wir mit Geschwistern und Freunden beim Spielen verbrachten. Einen Spielplatz mit fertigen Spielgeräten, wie man ihn heute kennt, gab es im Dorf nicht, aber so etwas wurde auch nicht vermisst. Vieles war im Garten und in der Natur zu finden. Wir hatten in unserem Garten eine Kastenschaukel für die Kleinen, eine große Schaukel und eine herrliche Turnstange, an der ich gern herumturnte.
Die Übungen brachten mir später sogar einen Vorteil beim Baumklettern. Die Apfel- und Kirschbäume im Garten forderten uns geradezu heraus. Ich kletterte gern mit meinem Bruder Günter um die Wette. Wer war schneller auf der dritten Astgabel? Zum Stoppen der Zeit zählten wir einfach langsam bis Hundert. Meistens hatte ich die Nase vorn, was mich mächtig stolz machte. Klar war ich die Ältere, aber eben ein Mädchen. Günter hatte so seine Probleme mit dem Gleichgewicht. Auch wurde ihm beim Schaukeln im Garten, beim Bus fahren oder auf der Schiffsschaukel zur Kirmes schnell mal übel.
Noch mehr Spaß machte es, Spielgeräte mit Phantasie selber zu bauen. So legten wir Vaters kurze Leiter über den Sägebock und fertig war die herrlichste Wippe der Welt, auf der viele Kinder gleichzeitig wippen konnten.
Von unserer selbstgebauten Leiterwippe gibt es ein schönes Foto mit fünf Jakobkindern. Günter und ich sitzen jeder auf einem Ende der Leiter, Ruth und Werner auf den beiden Seiten des Sägebocks und Thea lehnt als Jüngste ganz lässig in der Mitte an der Leiter. Das Foto ist eines der wenigen Kinderbilder, die während der Vertreibung mitgenommen und gerettet werden konnten. Wer dieses Bild sieht, kann sich gut vorstellen, dass es bei uns nie Langeweile gab.
Natürlich verbrachten wir nicht die ganze Zeit zusammen. Jeder hatte seine Freunde im Dorf und die Jungen hatten andere Interessen. Puppenspielen war Mädchensache. Vater hat uns einen wunderschönen Puppenwagen geflochten, der genauso aussah, wie die modernen, echten Kinderwagen, die in den Städten und Dörfern auf den Straßen zu sehen waren.
Die größeren Kinder hatten fast alle Fahrräder, die kleineren mit Tretrollern und Dreirädern ihren Spaß. Für die ersten wackligen Versuche auf dem Fahrrad eignete sich der Grasweg zum Richter Bauern, der direkt über unserem Garten begann, am Besten. Stürze taten hier nicht so weh und wenn man mal nicht mehr bremsen konnte, ging es auf der anderen Seite wieder leicht bergan.
Ein Bach entlang des Gartens ist natürlich eine Verlockung für jedes Kind. Wasser zieht Kinder magisch an. So manches Mal bauten wir im Bach hinter dem Schuppen einen Damm, der das Wasser anstaute, und ließen Schiffchen aus Holzstückchen oder Papier fahren. Auf der anderen Bachseite konnten wir herrliche Höhlen und Buden in Nachbars Sträuchern bauen. Ein beliebtes Versteck waren Richters Sträucher, in denen wir nicht zu sehen, aber ganz sicher zu hören waren.
Auf dem Hof oder der Straße spielten wir mit Kreiseln, Tretrollern oder schoben uns gegenseitig in unserem Kastenwagen. Auch das Murmelspielen war äußerst beliebt. Reigenspiele wie ‘Dornröschen hat ein schönes Schloss‘ spielten wir nicht nur in den Schulpausen, sondern auch zu Hause. Unsere Lieblingsbeschäftigung aber war es, alte Fahrradfelgen ohne Bereifung mit kleinen Stöckchen um die Wette die Straße entlang zu kullern. Daran beteiligten sich oft alle Kinder der Nachbarschaft. Mit Geklapper und Gejohle ging es die Straße hoch und runter.
An anderen Tagen ritzten wir mit einem spitzen Stein Kästchen in den harten Belag des Weges und hopsten nach inzwischen vergessenen Spielregeln auf einem Bein kreuz und quer herum. Manchmal sehe ich heute Schulkinder, die sich mit Kreide Kästchen auf den Asphalt malen und mit der gleichen Freude wie wir damals dieses alte Spiel spielen. Beim Zusehen kommen die Erinnerungen an meine eigene Kindheit in Seitendorf hervor. Es sind schöne Bilder, die aus dem Gedächtnis lebendig werden.
Wir kannten viele Ballspiele, die wir miteinander, aber auch allein spielten. Hochwerfen, zuwerfen, gegen die Wand werfen, mit und ohne in die Hände klatschen, der Varianten gab es viele. Auch Völkerball wurde leidenschaftlich gern gespielt. In der Nachbarschaft waren immer genügend gleichaltrige Mitspieler zu finden. Da brauchten wir nicht lange zu suchen.
Bei schlechtem Wetter mussten wir in der Stube oder in den anderen Zimmern des Hauses spielen. Selbst Vaters Werkstatt blieb davon nicht verschont, jedoch galten dort besondere Verhaltensregeln. Wenn wir die Ordnung seiner Arbeitsmaterialien und Werkzeuge zu sehr störten, kam es schon mal vor, dass wir nebenan weiterspielen mussten.
Wir hatten viele Spiele, einige davon noch aus Mutters oder Großmutters Kindheit, die immer sorgfältig behütet und aufgehoben worden waren. Leider mussten wir fast alle Spielsachen unserer Kindheit, von Generation zu Generation weitergegeben, während der Vertreibung in der Heimat zurücklassen. Auch so können Traditionen enden.
Ich erinnere mich an das schöne Tischkegelspiel mit handlangen Holzkegeln und einer silberfarbenen Metallkugel. Die Kugel bestand aus zwei unterschiedlich schweren Hälften, so dass sie nicht geradeaus, sondern im Kreis rollte. Es gehörte schon ein wenig Geschick und Übung dazu, die Kugel so loszurollen, dass sie im großen Bogen auf die neun Kegeln traf. Mit viel Eifer, Spaß und Ehrgeiz, aber mit von Mutter überwachter Ordnung und Ruhe, wurde reihum gekegelt.
Da das Spiel viel Platz brauchte, wurde der große Esstisch abgeräumt, der später in der polnischen Kommandantur landete. Auch das schöne Wohnzimmerbild vom Vierwaldstädter See hatte es später den neuen Machthabern angetan und hing nach der Ausweisung über dem Schreibtisch des Kommandanten.
Winter ohne Eis und Schnee, Garanten für Kinderfreuden, war zu meiner Kindheit gar nicht vorstellbar. Die Schneemänner blieben oft tage- oder wochenlang stehen, ehe sie wegtauten. Wir bauten Schneehütten und ganze Schneehäuser, in denen wir drin stehen konnten. Der Feuerlöschteich war jedes Jahr zugefroren. Es wimmelte darauf von Schlittschuhläufern. Allerdings hatten wir keine Schlittschuhe wie sie heute üblich sind, sondern eiserne Kufen, die in Länge und Weite verstellbar waren und dadurch unter jeden Winterstiefel passten.
Hügelig war unsere Heimat und es gab viele Weiden. Die Zäune standen weit auseinander, so dass wir viele Rodelbahnen zur Auswahl hatten und immer diejenige mit dem besten Schnee nehmen konnten. Skier hatte fast jeder im Dorf und so verging kaum ein schöner Wintertag, den wir nach den Hausaufgaben nicht an der frischen Luft verbrachten. Stürze waren da nicht immer zu vermeiden. Ich erinnere mich, dass sich einmal der Klippel Heinz weit draußen hinter dem Gehöft vom Hermann Bauer ein Bein brach. Wir vier Jakobs, der Günter, der Werner, die Ruth und ich, versorgten ihn so gut wir es konnten, legten ihn auf mehrere, zusammengebundene Skier und zogen ihn so bis nach Hause. Das war schon aufregend.
Als die Tage wieder länger wurden und der letzte Schnee endlich getaut war, stand meist das Osterfest schon vor der Tür. Es ist das wichtigste Fest der Christen. Die Kreuzigung von Jesus Christus am Karfreitag und die Auferstehung am Ostersonntag sind hohe Feiertage im christlichen Kalender. Für die Kinder verband sich das Osterfest aber auch mit dem Tag vor Karfreitag, dem Gründonnerstag. Die Aufregung war schon am Abend vorher so groß, dass wir kaum einschlafen konnten. In Gedanken ging ich die Dorfstraße entlang und erinnerte mich ganz genau, bei welchem Haus es im vorigen Jahr besondere Leckereien gab.
Das Aufstehen fiel mir an diesem Tag mehr als leicht. Schnell in die Sachen, ein Teller Suppe zum Frühstück und schon stand ich mit den anderen Kindern auf der Dorfstraße. Mit einem Leinensäckchen um den Bauch zogen wir von Haus zu Haus und sangen immer wieder das Bettellied zum Gründonnerstag.
„Gun Murgen zun Grinndurschtche, gatt mer woas as
Battelsäckel.
Lußt mich ne zu lange stihn, iech will a Häusel wetter gihn.
Kimmt ha ne raus, kimmt sie ne raus, do kimmt dr kleene Junge raus und teelt de ganzen Brazeln aus.“
Die vielen Süßigkeiten waren noch nicht gegessen, als am Ostersonntag schon der nächste Höhepunkt wartete, das Saatreiten. Bei dieser Tradition der katholischen Kirche segnete ein Pfarrer die Saat auf den Feldern und betete für eine gute Ernte. Nach dem Mittag versammelten sich die Bauern des Dorfes in Frack und Zylinder auf ihren geschmückten Pferden vor der katholischen Kirche.
Der Anblick der schönen Pferde faszinierte mich jedes Jahr neu. Ich kannte mich mit den verschiedenen Rassen nicht besonders gut aus. Ich erfreute mich mit den anderen Kindern an dem langen Zug mit über sechzig Pferden. Vorn fuhr der Pfarrer mit dem Kruzifix in einer Kutsche. Es dauerte eine Weile bis der letzte Reiter an uns vorbeigeritten war. Da wir den Weg der Pferde kannten, brauchten wir nur eine Abkürzung zu nehmen und uns ein wenig beeilen, um den ganzen Zug noch einmal zu sehen.
Am Rande vieler Felder gab es kleine Altare und Wegkreuze. Vor jedem wurde angehalten, gesungen und gebetet. Den Abschluss bildete jedes Jahr die Predigt des Pfarrers am Eichberg unterhalb des Feldbauern. Das war immer sehr feierlich und viele Dorf - bewohner ließen sich diese Besonderheit des Osterfestes nicht entgehen. Im Kloster St. Marienthal in Ostritz wird dieser Brauch auch heute noch gepflegt.
In unserem Haushalt gab es Sachen, die nicht für uns Kinder bestimmt und gerade deshalb reizvoll und interessant waren. Das Grammophon gehörte dazu. Es war schon etwas Besonderes, wenn die Großmutter die Schallplatten auflegte und wir alle zusammen Volkslieder hörten und fleißig mitsangen. Manchmal, wenn etwas mehr Ruhe war und besonders in der Weihnachtszeit, spielte ich auf der Zither. Unmusikalisch waren wir alle nicht, aber später in den schwierigen Zeite...

Inhaltsverzeichnis

  1. Über das Buch
  2. Danksagung
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Vorwort
  5. Wittgendorf, August 1969
  6. Die Kinder von Liesbeth und Johann Jakob Kurzdarstellung
  7. Die Familie von Johann Jakob
  8. Das Elternhaus von Johann Jakob
  9. Die Familie von Liesbeth Kretschmer
  10. Das Elternhaus von Liesbeth Jakob
  11. Begebenheiten aus dem Leben von Liesbeth Kretschmer und Johann Jakob
  12. Erinnerungen der Tochter Gertraud (Traudel)
  13. Erinnerungen der Tochter Ruth
  14. Erinnerungen des Sohnes Werner
  15. Erinnerungen der Tochter Thea
  16. Nachwort
  17. Impressum