I
In Salvatore A. Sannas erstem Gedichtband, Fünfzehn Jahre Augenblicke [1978], trennt eine Illustration, ein eigens von Piero Dorazio angefertigtes Aquarell, die beiden Hälften der Sammlung, deren Inhalt – die Annäherung an Deutschland im ersten und die Wiederbegegnung mit der sardischen Heimat im zweiten Teil – klar zutage tritt. Was aber zeigen, ja: was bedeuten die impressionistisch hingetupften, in Reihen unregelmäßig angeordneten, grauen und schwarzen Farbflecke? An eine Scharnierstelle gesetzt, markiert das (im Original aus zweierlei Blautönen bestehende) Aquarell mit seinen mittelmeerisch bewegten Wellen zunächst eine symbolisch zu verstehende Grenze und vermittelt, bevor der Sardinien-Zyklus beginnt, dem Leser den nun stattfindenden Wechsel zwischen zwei Bereichen, zwei Sphären. Doch Dorazios Illustration will mehr sein als paratextueller Prolog: Sehen bzw. lesen lässt sich das Bild auch als unkenntlich gemachter oder gelöschter Text, eben als jene wenig später erwähnte „matrice spenta“, worunter in einem weiteren Sinne der Mutter-Boden des Lebens und der Poesie gleichermaßen, für Sanna ohnehin untrennbar verbunden, zu verstehen ist. Mithin gerät die Abbildung zum Meta-Zeichen, zum Abbild der Lyrik Sannas überhaupt. Ähnliche, auf Sannas Lyrik übertragbare, sie resümierende selbst-referentielle Zeichen enthalten sämtliche Sammlungen, das reicht, in schöner, aufwärts führender Bewegung, von „Qualche insegna notturna“ (Tutto mi sembra…, Fünfzehn Jahre Augenblicke, S. 41) bis zur angedeuteten Himmelsschrift in Mnemosyne: „Nel cielo terso di un azzurro/pallido i pipistrelli/nottamboli tracciano nell’aria/un intrico di linee invisibili“ (Le attese, le tensioni, Mnemosyne, S. 386). Die nach Calvino jeglicher Dichtung grundsätzlich innewohnende (und von ihm an Cavalcanti und Dante dargelegte) Tendenz entweder zur Schwerelosigkeit oder zum Gewicht (peso) gelangt nunmehr zu einem harmonischen Gleichgewicht: Sanna strebt, und das verdeutlichen die genannten Beispiele ganz beiläufig, in seiner Kunst nach einer Leichtigkeit, wohinter nichtsdestoweniger ein sinnhaft-ernster Gehalt bzw. sorgfältige Ausarbeitung steht (leggerezza della pensosità).2
II
Allegorien, Symbole, Zeichen – eines der hervorstechenden Merkmale dieser ohnehin meist kurzen, überaus komprimierten Gedichte bleibt ihre höchst eindrückliche bildliche Ausdrucksweise, mit Recht könnte man vom Primat des Bildes sprechen. Virtuos bedient sich Sanna dabei verschiedener fein abgestufter Verfahren. Zuweilen geht er von einer offensichtlichen oder leicht nachvollziehbaren allegorischen Bedeutung aus, erweitert sie jedoch (und entzieht sie dadurch wieder teilweise dem Verständnis), etwa indem er die Malven sich der Sonne darbieten lässt („le tue malve/offerte al sole/sotto il ventaglio/delle palme/perdono/la loro innocenza/per l’avidità/dei calabroni“, Château de la Solenzara, Löwen-Maul, S. 142) oder den Hahnenschrei zum Teil eines natur-magisch aufgeladenen Ritus erklärt („Un gallo in lontananza/ripete un rito antico“, Le attese, le tensioni…, Mnemosyne, S. 386). Andere Symbole erschließt der Kontext: Das Eröffnungsgedicht des Sardinien-Zyklus in Fünfzehn Jahre Augenblicke, Massi…, läuft nach der Evokation der anthropomorph dargestellten sardischen Landschaft auf ein Artefakt, ein fremd-artiges, künstliches Objekt zu („Una colonna greca/è un simbolo estraneo/al paesaggio“, S. 44), das die Sonderstellung Sardiniens außerhalb der Magna Graecia und, mittelbar, den ungefügen, rauhen Charakter der Insel anschaulicher nicht ausdrücken könnte – und Winckelmanns aus klassischer Position ausgesprochenem Verdikt über die sardischen Bronzen entspricht, deren Form und Bildung „ganz barbarisch“ seien.
Die Affinität Sannas zur Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts äußert sich wiederholt durch eine hohe Bildhaftigkeit des Gedichtes insgesamt und offenkundig intermediale Bezüge: Tutto mi sembra… (Fünfzehn Jahre Augenblicke) beruft sich auf den gefrorenen Realismus Edward Hoppers; Karbach lehnt sich mit seinen großflächig aufgetragenen Farben an expressionistische Landschaften an; Samaden (ebenfalls Wacholderblüten) präsentiert eine rote Blüte nach Art der Neuen Sachlichkeit, isoliert inmitten einer Winterlandschaft. Einige Gedichte bilden Raum-Installationen derart plastisch nach, dass der Leser, obwohl Sanna fast völlig ohne beschreibende Elemente auskommt, die archetypischen Figuren greifbar vor sich zu sehen meint; dazu zählen der Radio hörende Einsiedler am See (L’eremita…) oder die Schwangere auf der Rasenfläche (Sur la pelouse…, beide Löwen-Maul); noch sorgfältiger inszeniert Quadratscha (Wacholderblüten) ein inferno-rotes Interieur, einen bedrohlich wirkenden Un-Ort.
Vielschichtig, aufgebrochen in eine Folge fragmentierter bildlicher Splitter stellt Sanna dagegen Alte Kunst dar – und bedient sich dabei eines unerwartet elegischen Tones; Pisa und Parma (Feste) breiten aus, wie bei der Betrachtung des Pisaner Campo Santo oder des Baptisteriums zu Parma die Kunst der italienischen Frührenaissance als kenntnisreiche „visione/del particolare“ (Parma, S. 282) er- und belebt wird. Nicht der weit ausholenden, beschreibenden Gesamtschau, Rapport des Bildungsreisenden, sondern den für viele Betrachter belanglosen Details, sei es der bronzene Hippogryph oder ein antikes Relief, gilt die Aufmerksamkeit des Autors, der, vor dem Baptisterium zu Parma stehend, seine eigene (dichterische) Existenz in der Lünette des Südportals dargestellt findet. Beide Male allerdings holt Sanna, ganz illusionsdurchbrechend, sich und den Leser wieder in die Wirklichkeit zurück: Der Blick auf diese Kunst, übrigens ein symbolischer „sguardo in alto“ (Parma), übersieht keineswegs den distanzierenden Rahmen.
Ungleich wirkungsmächtiger (und faszinierender) aber sind die Rätsel-Bilder, die Sanna dem Leser aufgibt. So skizziert das Gedicht Hôtel-Dieu (Feste) eine entlegene mittelalterliche Heiligenlegende, lässt sich aber von seiner Struktur her genauso als suggestive Reihung einzelner Bilder lesen, als quasi-surrealistische Einladung zum freien Assoziieren, und insbesondere die vom Schlussvers vorgeschlagene Aufhebung der passiven Rezeptionshaltung öffnet das auf den ersten Blick hermetisch wirkende Gedicht beträchtli...