Und ich überlege noch immer, wie ich mich nach unserer ersten Umarmung fühle. Allein wie sich das anhört: unsere Umarmung. Vielleicht war es das gar nicht, vielleicht hast du es nur geschehen lassen.
Während deine Enkelin die Schokoladenmousse auf den Tellern arrangierte, gingst du um den Esstisch herum, den Blick auf die leeren Teller, Gläser und Schalen gerichtet. Dachtest du, was ich dachte? Wenn von einem nicht mehr bleibt als ein Rezept für Schokoladenmousse. Das denke ich immer, wenn Noëlle ihre Oma-Mousse macht. Oma, Mama, Verena – sie hat gefehlt, wie sie die Jahre zuvor gefehlt hat. Wenig ist das nicht, im Gegenteil, wenn man fehlt in den kleinen Dingen.
Dann bist du bei der Balkontür stehen geblieben.
Wie schnell die heute bauen, hast du gesagt. Ein paar Wochen noch und der Kasten steht. Direkt vor eurer Nase.
Ich bin aufgestanden und habe mich neben dich gestellt.
Du solltest endlich Vorhänge kaufen, hast du gesagt.
Das da drüben ist die Schlafzimmerseite, Vater. Wenn uns jemand im Pyjama beim Essen zusehen will – gerne.
Vor die Fenster gehören Vorhänge. Beim Balkon sowieso. Das hat dir auch Verena gesagt.
Du hast den Kopf geschüttelt und hörbar durch den Mund ausgeatmet, wie du es immer tust, wenn du genervt bist oder beleidigt.
Minergie, habe ich gesagt.
Großartig. Ein Klotz vor dem Kopf, aber immerhin Minergie.
Das spart Heizkosten. Und schont die Umwelt.
Wers glaubt. – Reine Geldmacherei ist das.
Und das Lamm? Wars wieder zu wenig durchgebraten?
Also das Gratin –
Immerhin, sagte ich.
Wie wir eben miteinander reden.
Aber dann habe ich noch etwas gesagt.
Und weißt du was, Geburtstagskind? Du kannst stolz sein, habe ich gesagt. Ehefrau, Tochter, Enkelkind. Ein eigenes Haus und ein langes Berufsleben. Ich finde, junger Mann, du hast einiges richtig gemacht in deinem Leben. Und das mit den Tierchen – das hast du jetzt auch im Griff.
Dann habe ich dich umarmt. Zum ersten Mal. An deinem dreiundachtzigsten Geburtstag, Vater.
Und jetzt weiß ich auch nicht weiter.
„Die Rechnung bitte“, sagte Mona und legte das Diktiergerät auf den Tisch. Sie trank den letzten Schluck Cappuccino, hielt nach Noëlle Ausschau, die eben noch auf der Schaukel gesessen und mit ihrem Smart-phone hantiert hatte.
Die zugige Gartenterrasse war spärlich besetzt, im Lauf des Tages hatte sich eine schmierige, bleischwarze Decke über den Himmel gezogen. Fernsicht gab es nur auf dem Prospekt der Gaststätte. Weit unten, in der Talsenke, war die Stadt zu erahnen, lebloses Betongrau: der mittelalterliche Kern, die Agglomerationssiedlung am Fluss, etwas weiter gegen Osten die Müllverbrennungsanlage, im Süden der mächtige Bettenturm des Krankenhauses.
In einem der Nebengebäude war Monas Vater vor sechs Jahren operiert worden; eine Routineuntersuchung hatte einen stark erhöhten PSA-Wert an den Tag gebracht. Die umgehend durchgeführte Biopsie der Prostata bestätigte die Befürchtungen, machte ihren Vater von einem Moment auf den andern zum Krebspatienten. Um die Hoffnung am Leben zu halten, wurden ein paar Wochen später Drüse und Samenbläschen komplett entfernt.
Damals hatte Mona sich das Diktiergerät gekauft. Kaum war ihr Vater wieder zu Hause, brachte sie es ihm vorbei. „Erzähl“, sagte sie. „Erzähl mir deine Kindheit, deine Jugend. Du bist mein Vater, und ich weiß so wenig über dich, am wenigsten von früher. Stichwörter, die ich irgendwann aufgeschnappt habe, mehr nicht.“ – Der Vater hob abwehrend die Hände. „Ach was. Kommt nicht in Frage. – Das Gute am Leben ist ja, dass es jeden Tag ein bisschen mehr vorbei ist. Nicht, dass du mich falsch verstehst: Ich habe nicht vor, schon jetzt abzutreten. So schnell bringt mich dieser Krebs nicht um.“
Über Wochen sprach Mona ihren Vater bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf die Jugenderzählung an, machte ihm klar, dass es ihr bloß um die Fakten gehe, darum, von seiner Kindheit, die sie nur aus Andeutungen und Nebensätzen kenne, ein konkretes Bild zu bekommen. Immerhin sei er ihr Vater und sie würde gerne wissen, wie er das geworden sei.
„Verstehst du“, sagte Mona, „wir sind ja nicht, wir werden, jeden Tag ein bisschen mehr. So ist es doch. Ohne Vergangenheit gäbe es uns nicht. Klar, die Krankheit, sie verändert die Gegenwart, auch meine. Und die Zukunft. Gerade deshalb ist die Vergangenheit wichtig. Wertfrei. Als Wegstrecke von hinter dem Mond bis hier, als Abfolge von Momenten und Ereignissen. Keine Psychologie, Vater, bloß nicht. Ich will die Geschichte.“
„Die ist schnell erzählt“, sagte er. „Viel ist da nicht hängen geblieben.“
„Du tust es?“
„Wenn es sein muss.“
„Es muss sein“, sagte sie.
Monas Vater ließ sich Zeit mit seiner Geschichte. Dann aber brachte er ihr das Diktiergerät zurück. Ohne sichtbare Regung drückte er es ihr in die Hand: „Siebenundvierzig Minuten für vierundzwanzig Jahre“, sagte er, „mehr ist mir nicht eingefallen. Hab ich dir ja gesagt. Viel Gestotter, viele Pausen, man muss auch mal nachdenken beim Reden. So bleibt am Ende wenig von einem Leben. Sehr wenig.“
Er hatte den Kopf gehoben und über die Tochter hinweg in seine eigene Ferne geschaut.
Mona bezahlte, ließ das Rückgeld ins Portemonnaie des Kellners fallen. Sie sah sich erneut nach Noëlle um, ihr schweifender Blick blieb hängen am Bettentrakt des Krankenhauses. Er stand da wie ein grauer Legostein, den jemand in eine Spielzeuglandschaft gestellt und dann vergessen hatte.
Sie fuhr über die silberne Oberfläche des Diktiergeräts. Seit dem Tag, als der Vater es ihr wieder in die Hand gedrückt hatte, war es ihr ständiger Begleiter. Sie steckte es in die Handtasche, wenn sie aus dem Haus ging, und nachts lag es auf dem Nachttisch. Wann immer sie wollte, konnte sie auf Wiedergabe drücken, das gespeicherte Leben des Vaters abrufen, zum Eigenen machen, was ohnehin zu ihr gehörte.
Über all die Jahre hatte es dafür keine Notwendigkeit gegeben. Sie hatte die Geschichte ihres Vaters mit sich getragen wie ein Vermächtnis. Das hatte genügt. Nicht ein einziges Mal hatte sie sich das Band auch wirklich angehört. Aber sie mochte die Vorstellung, dass in diesem kleinen Gerät nicht nur Vaters Erzählung abgelegt war, sondern dass es da auch unendlich viel Platz gab für das Gespräch mit ihm. Irgendwann, dessen war sie sich sicher, würde sie damit anfangen. Alles, was ihr zu diesem Leben einfiel, auf das virtuelle Band sprechen. Jeder so gebannte Gedanke, jede Mitteilung an den Vater wäre ein digitales Gräblein, jede Aufnahmesequenz ein virtueller Friedhof, von ihr selbst anzulegen und nach Belieben zu erweitern. Ein Ort, von dem ihr Vater nie erfahren würde, und einer, den sie zu seinen Lebzeiten nicht begehen würde. So hatte sie sich das gedacht, all die Jahre.
Und dann war die Zeit für den Anfang gekommen, an seinem dreiundachtzigsten Geburtstag. Sie hatte dem Vater noch etwas Schokoladenmousse mitgegeben, das Geschirr gespült und sich dann allein an den Esstisch gesetzt. Kurz vor Mitternacht drückte sie die Wiedergabetaste. Siebenundvierzig Minuten Kindheit und Jugendzeit ihres Vaters Johannes. Danach holte sie sich ein Bier aus dem Kühlschrank, legte das silberne Kästchen vor sich auf die Tischplatte.
„Lieber Vater“, sagte sie probehalber.
Dann hatte sie Aufnahme gedrückt.
Trotz seines fortgeschrittenen Alters hatte sich Monas Vater erstaunlich schnell von der schweren Operation erholt. Er gewöhnte sich an die Einlagen in der Unterhose, trainierte verbissen die Stellvertretermuskulatur, um „das Leck da unten“, wie er sagte, wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sie bewunderte ihn für die Kraft, mit der er kämpfte für seine Würde als Mann, für seine Selbstachtung als Mensch.
Dann stieg das prostataspezifische Antigen erneut. Die „Tierchen“, wie sie die Tumorzellen halb im Scherz, halb aus Verzweiflung nannte, waren wieder da, rotteten sich in ihrem Vater zusammen, um zu Ende zu bringen, was sie vor fünf Jahren angefangen hatten. Und erneut legte ihnen die Medizin das Handwerk. Dreißig Bestrahlungseinheiten und mehrere Hormonspritzen später waren sie definitiv eliminiert oder ließen ihn wenigstens unbehelligt. Seit Monaten waren seine Werte unauffällig, der PSA-Wert praktisch bei null.
So hatte Monas Vater seinen dreiundachtzigsten Geburtstag gefeiert, müde und abgekämpft, gezeichnet von der zugleich lebenserhaltenden und zerstörerischen Tortur. So war er nach dem Essen bei der Balkontür gestanden, ein sehr alter Mann.
„Mama – die Wuschels!“, rief Noëlle.
Mona verstaute das Diktiergerät in der Handtasche, ging der Stimme ihrer Tochter nach, die beim Außenstall des angrenzenden Bauernhofs auf ihre Lieblingstiere gewartet hatte.
Bei ihrem ersten Besuch in der hoch über der Stadt gelegenen Gaststätte, es war ein Ausflug mit Oma und Opa gewesen, hatte Noëlle die schottischen Hochlandrinder wegen ihres zotteligen Stirnhaars „Wuschels“ genannt und sie war dabei geblieben, obwohl die Tiere von damals längst geschlachtet waren.
Als Mona beim Stall ankam, war Noëlle bereits dabei, die zutrauliche, rotbraune Alte zu füttern, die ihre ausladenden Hörner durch die Holzstäbe der Futterkrippe streckte und nicht genug zu bekommen schien vom frischen Gras, das Noëlle büschelweise herangetragen hatte.
„Danach müssen wir aber los“, sagte Mona. „Du hast die Hausaufgaben noch nicht gemacht. Und der Kühlschrank ist leer.“
„Hausaufgaben? – Mama, du lernst es nie.“
„Ich weiß. Und einkaufen soll ich allein.“
„Genau“, sagte Noëlle. „Weil ich ja mit Dana ins Kino gehe. Hast du sicher nicht vergessen. – Und die andern hier wollen übrigens auch“, sagte sie und wedelte so lange mit einem weiteren Grasbüschel, bis auch die beiden Kälber sich auf die Futterkrippe zu bewegten.
Mona schaute auf die Uhr. In einer halben Stunde würde Noëlle zurück sein. Unter der Woche nie später als halb elf, das war die Abmachung. Mona warf einen Blick in Noëlles Zimmer, schaute ein paar Augenblicke den bunten Fischchen zu, die über den Bildschirm schwammen. Dann ging sie in die Küche, machte sich einen Tee und stellte sich an die Balkontür.
Der Rohbau, der aus der riesigen Grube gewachsen war und noch weiter wuchs, erschien im gedämpften Licht der Quartierbeleuchtung noch klotziger als bei Tag, die Aussparungen für die Fenster waren schwarze Löcher, die Monas Blick in eine kalte Leere hineinzogen. – Die erste Umarmung, und du bist dreiundachtzig, dachte sie. Eine Umarmung zwischen Lammfilet und Schokomousse. Und was bedeutete das jetzt? Ein spontaner Ausdruck von Zugehörigkeit, vielleicht. Dankbarkeit, Rührung – alles zusammen. Liebe, ja, das auch. Aber die erste Umarmung? Wohl kaum. Die erste, bestimmt, seit sie kein Kind mehr war, denn Vater war nicht leicht zu umarmen gewesen – leicht zu umarmen bist du nicht. Nicht, weil du mein Vater bist, nicht, weil ich deine Tochter bin. Sondern weil du so ein Vater bist. Aber was weiß ich schon! Was weiß ich von dir?
Johannes Elias Haller,
aufgewachsen mit drei älteren Schwestern,
bis zum Ende der Schulzeit teilzeitverdingt auf dem
Bauernhof des Onkels,
Tuberkulose,
Schlosserlehre,
Tuberkulose, halbseitige Lähmung,
Ausbildung zum Rollladenmonteur,
mit vierundzwanzig: Heirat mit Verena Müller,
ein Jahr später ein Kind: Monika,
fünfzehn Jahre später ein Nachzügler: Martin, tot zur
Welt gekommen,
Umschulung zum Busfahrer,
Arbeit bei den Städtischen Verkehrsbetrieben bis zur
Pensionierung,
sieben Jahre später: Tod der Ehefrau Verena, Hirnschlag,
Prostatakrebs mit siebenundsiebzig, operiert,
Rückfall mit zweiundachtzig, bestrahlt, geheilt,
seit gestern dreiundachtzig.
Das bist du, den ich nicht kenne. Daran ändern auch die siebenundvierzig Minuten über den jungen Johannes nichts. Denn wie man so einen Vater aushält, eine Kindheit als Verdingter, was das mit einem macht, was so ein Junge für ein Vater wird. Dass mich das kümmern muss, weil es auch mich betrifft, alles das, was wir einander sind und nicht – so richtig ist mir das erst gestern bewusst geworden.
Deshalb die Umarmung.
Deshalb die Umarmung?
Ich weiß es nicht.
Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos ließen die etagenhohe Metalltafel gegenüber aufblitzen, die das Baukonsortium zu Informations- und Werbezwecken am Gerüst befestigt hatte. Sekundenlang leuchtete die frühe Nacht, dann war der Spuk vorbei. Mona nippte an der Tasse, setzte sich an den Esstisch.
Gewiss, ich habe mir oft Gedanken gemacht über dein Leben, soviel ich eben davon wusste. Und ich habe ziemlich früh begriffen, wer für dieses Leben verantwortlich war, von Anfang an. Dass ich deinen Vater schon früh aus meinem Leben gestrichen hatte, hast du nie verstanden. Dass ich mich als Studentin weigerte, den Todkranken noch einmal zu besuchen, hat dich getroffen; richtig übelgenommen hast ...