
- 224 Seiten
- German
- ePUB (handyfreundlich)
- Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub
Über dieses Buch
»Damit die Wende gelingt, brauchen wir Vorreiter*innen, von denen wir lernen können.« Tanja Busse
Bio-Lebensmittel sind heute in nahezu jedem Supermarkt zu finden. Bis das so weit war, mussten viele Widerstände überwunden werden. Wie haben es zunächst einige Wenige geschafft, »bio« in unserer Gesellschaft zu verankern? Was leisten diese Pioniere und Vorreiterinnen noch heute täglich für uns?
Der Journalist Jens Brehl hat ausgewählte Bio-Pioniere aus unterschiedlichen Branchen in ganz Deutschland getroffen. Lebendig und unterhaltsam schildert er deren Bestreben, eine bessere Zukunft zu schaffen.
In diesem Buch werden unter anderem porträtiert:
- tegut Lebensmittelmarkt
- Rapunzel Naturkost
- Andechser Molkerei Scheitz
- Hofpfisterei
- Herrmannsdorfer Landwerkstätten
- Voelkel Naturkostsafterei
... und viele mehr.
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Information
Verlag
oekom verlagJahr
2020eBook-ISBN:
9783962387174»Wir stehen bei bio noch am Anfang«
Lebensmittelhändler tegut, Hessen
Ende der 1990er-Jahre ereilte mich mein »Gesundheitsrappel«, wie ich ihn rückblickend nenne. So begann ich darauf zu achten, genug Wasser zu trinken, und ernährte mich fortan vegetarisch. Ab einem gewissen Punkt rückten Bio-Lebensmittel in meinen Fokus, obwohl ich in dieser Hinsicht in einer konventionellen Familie aufwuchs. Mit bio oder Landwirtschaft hatten wir nichts am Hut.
Noch heute denke ich gerne an die Zeit zurück, in der ich Bio-Lebensmittel ganz neu für mich entdeckte. Im gewissen Sinne waren meine ersten Einkäufe regelrechte Schatzsuchen. Vegetarische Brotaufstriche waren für mich fast das achte Weltwunder. Eine meiner ersten Anlaufstellen war das Reformhaus Dr. Heidl in Fulda. Damals befand ich mich noch mitten in meiner Berufsausbildung, und dennoch gab ich dort pro Einkauf meist über 100 Mark aus. Noch heute sehe ich mich vor meinem inneren Auge das Ladengeschäft betreten und meine mitgebrachte Klappbox hinter dem Kassentresen verstauen.
Weniger aufregend waren meine Besuche beim Lebensmittelhändler tegut, denn hier hatte ich zuvor schon eingekauft. War das Reformhaus für mich in gewissem Sinne ein exotischer Ort, betrat ich meinen gewohnten und »normalen« Supermarkt. Hier gab es Bio-Lebensmittel bereits in sämtlichen Warengruppen, und sie standen im Regal neben ihren konventionellen Pendants. Ich griff einfach zu einem anderen Produkt. So banal ich das Erlebnis damals empfunden habe, ist mir heute klar, dass ich es tegut verdanke, so unkompliziert an Bio-Lebensmittel gelangt zu sein. Bereits 1982 – also zwei Jahre nach meiner Geburt – hielten sie dort Einzug. Während ich an der Kasse warte, gehört es mittlerweile zu meinen heimlichen Hobbys zu beobachten, welche Waren die anderen auf das Band legen. Dort landet dann schon mal neben Bio-Milch und Demeter-Gemüse eine Tüte Maggi Fix oder Coca-Cola.

Einer der ersten Läden. Foto: tegut
In meiner Heimatstadt Fulda hat Theo Gutberlet 1947 quasi aus dem Nichts heraus zwei Tante-Emma-Läden eröffnet. Es ist eine dieser fast schon klassischen Nachkriegserfolgsgeschichten.1 Natürlich war damals noch nicht absehbar, inwieweit das Unternehmen wachsen und ab einem gewissen Punkt sogar Bio-Pionier sein würde.

Dieser Tante-Emma-Laden würde heute nur wenige Gehminuten von meinem Medienbüro entfernt liegen. Foto: tegut
Fernab von Einkaufsregalen und Scannerkassen besuche ich Wolfgang Gutberlet, den Sohn des 1994 verstorbenen Gründers, auf seinem Demeter-Hof LindenGut in Dipperz. Petrus ist auf unserer Seite, denn es scheint die Sonne und ein angenehm frischer Wind weht mir um die Nase. In solchen Momenten merke ich, wie sehr es selbst in der vergleichsweise kleinen Stadt Fulda wegen der Autoabgase zeitweise zum Himmel stinkt. Ich lasse den Blick über den bunten Gemüsegarten schweifen, im Hintergrund stehen zwei Gewächshäuser. Von der Aubergine bis zur Zucchini gedeiht hier eine schier unglaubliche Vielfalt. Blumen und Kräuter sorgen für eine wunderschöne Farbenpracht. Wer ein wildes Durcheinander vermutet, irrt sich gewaltig. Die Gärtner überlegen genau, welche Pflanzen miteinander harmonieren – sprich gegenseitiges Wachstum begünstigen, Schädlinge vertreiben oder Nützlinge anlocken. Permakultur spielt eine große Rolle, so ist der Boden beispielsweise gemulcht. Das unterdrückt unerwünschte Beikräuter, und der Boden kann Feuchtigkeit besser bewahren. Den Hitzesommer 2018 hat der Garten vergleichsweise gut überstanden. Auf 1,2 Hektar wächst Streuobst, alleine 180 Apfelsorten sind dort beheimatet. Ein paar Gänse sind ausgebüxt und tollen herum, auch die Laufenten sind kaum zu halten. Auf einer Weide grasen friedlich Rinder. »Jedes Tier hat eine Aufgabe«, erklärt Anja Lindner, die den Hof leitet und mir das Anwesen zeigt. Die Laufenten sichern die Grenzen vor Nacktschnecken, Pferd und Esel dienen auf den Streuobstflächen als natürliche Rasenmäher, und Ziegen sind für die Hühner eine Art Sicherheitsdienst. Seitdem trauen sich Fuchs oder Habicht nicht mehr in die Nähe.
Die Hühner sind in zwei Mobilställen untergebracht, die regelmäßig versetzt werden. Somit haben die Tiere stets frischen Boden und müssen nicht wie bei stationären Ställen immer wieder durch den eigenen Dreck laufen. Wer genau hinsieht, erkennt bei den Hühnern Unterschiede. In einem Mobilstall sind Hybridhühner der Rasse »Lohmann Brown« untergebracht, die auch auf Bio-Höfen oft zu finden sind. Es handelt sich um Hochleistungshühner, die auf eine hohe Legeleistung optimiert sind und nicht selbst weitergezüchtet werden können. Da die Tiere kaum Fleisch ansetzen, ist es unwirtschaftlich, die Hähne zu mästen. Daher tötet man in der Regel die männlichen Küken am Tag des Schlüpfens. Mancherorts gibt es sogenannte Bruderhahn-Patenschaften, doch kritische Stimmen merken an, dass wir damit das System der Hybride zementieren. Denn auch die Hühner sind mitunter am Ende kaum als Suppenhuhn zu gebrauchen, da sie durch die enorme Legeleistung im Grunde ausgezehrt sind. Kein Wunder, denn circa 320 Eier legen sie im Jahr. Daher befinden sich im zweiten Mobilstall zum Vergleich echte Zweinutzungshühner der Rassen »Cream« und »Coffee«, die im Gegensatz zu den Hybriden eine Balance zwischen Legeleistung und Fleischansatz aufweisen. »Die Unterschiede in der Legeleistung sind bei uns im Grunde marginal, da die Zweinutzungshühner nur etwa zehn Prozent weniger Eier legen«, erklärt Lindner. Ganz bewusst arbeitet der Hof mit der ökologischen Tierzucht von Bioland und Demeter zusammen.2
Die auf dem Hof produzierten Lebensmittel verarbeiten das eigene angeschlossene Bio-Hotel und der Bio-Caterer »bankett sinnreich« in Fulda. Der Rest wird ab Hof oder mittels Verkaufsautomaten direkt vermarktet. Als Freund von regionalen Wirtschaftskreisläufen bin ich begeistert. Ein eigener Brunnen, die Photovoltaikanlage und die Pflanzenkläranlage runden das ökologische Bild ab.

»Wenn etwas richtig ist, muss man es machen.« Wolfgang Gutberlet Foto: photoebene Marzena Seidel
Lebensmittel waren für Wolfgang Gutberlet Liebe auf den zweiten Blick. Tatsächlich wäre es ihm sogar lieber gewesen, sein Vater hätte Autos verkauft. »Ich kann nicht kochen und bin kein großer Genießer, auch wenn ich gerne esse«, sagt er lapidar. Seine Sichtweise änderte sich, als er 1972 mit seiner Familie einen kleinen Bauernhof am Mittelberg in der hessischen Rhön bezog. Eigentlich sollte es nur eine Wochenendwohnung sein, doch einmal die Dunkelheit bei Nacht und die herrliche Stille genossen, gab es keinen Weg mehr zurück in die laute Stadt. Gutberlet begann Rinder und Schafe zu halten, doch ein Umstand machte ihn stutzig. »Der Hof hatte mit seinen sechs Hektar früher eine ganze Familie ernährt, selbst als wir auf sieben Hektar erweiterten, hätten wir noch nicht einmal die Kosten decken können.« Seine Gedanken begannen um die Landwirtschaft zu kreisen. Zwar waren die Hungerwinter und Mangelzeiten nach dem Krieg überwunden, aber nicht jeder Bauer profitierte vom Aufschwung. »Die Landwirte haben schon immer zu wenig für ihre Erzeugnisse bekommen, außer in Krisenzeiten.« Zunehmend näherte sich Wolfgang Gutberlet Lebensmittel unter dem Aspekt der Gesundheit. Weihnachten 1982 zog die Familie auf den Bauernhof LindenGut um, der jedoch im Januar 1984 abbrannte. Doch schon im August fand Wolfgang Gutberlet dort wieder seine Heimat.
Schon lange ist er ein bekennender Anthroposoph. Schlüsselerlebnis war ein Besuch der Lebensgemeinschaft Sassen in Schlitz, wo Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam leben und arbeiten. Angeschlossen ist unter anderem ein Bauernhof, eine Gärtnerei und eine Bäckerei, die nach Demeter-Richtlinien wirtschaften. Gutberlet spürte eine besondere Art und Weise, wie die Menschen dort miteinander umgingen. Gefragt, woran das liege, fiel der ihm bis dato unbekannte Name Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie. Wieder zu Hause, zog Gutberlet das Lexikon zurate. Am nächsten Morgen rief er in der Buchhandlung an und bestellte Steiners Gesamtwerk. Es folgte ein Rückruf, ob es ihm wirklich ernst damit sei, 300 Bücher erwerben zu wollen. »Daher holte ich mir auf dem Hofgut Sassen Tipps, wo ich am besten beginnen konnte, mich mit der Materie zu beschäftigen.« Schließlich besuchten alle Kinder die Rudolf-Steiner-Schule im nahe gelegenen Loheland.
Als er Götz Werner, den Gründer von dm, am Flughafen in Kopenhagen traf, erfuhr er, dass auch dessen Kinder eine Waldorfschule besuchten. »Wir haben umgehend beschlossen, zusammen anthroposophisch zu arbeiten. Die Kernfrage war, wie man die Philosophie konkret im Unternehmen umsetzen kann. Wir alle haben gute Gedanken und Werte, aber im Alltag schieben wir sie oft beiseite.« Die beiden sollten später bedeutende Geburtshelfer der Bio-Branche werden und Bio-Lebensmittel für noch mehr Menschen zugänglich machen.
Spätestens als Theo Gutberlet 1973 die Geschäftsleitung an seinen Sohn weitergab, eröffneten sich vielfältige Chancen, tegut zu gestalten. Wolfgang Gutberlet war damals 29 Jahre alt und bildete mit Willibald Arnold und Karl Jungmann die Geschäftsleitung. Ihnen oblag die Aufgabe, tegut aus seiner Pionierphase herauszubegleiten und neue Strukturen zu schaffen. »Wenn eine Organisation größer wird, reicht das Bauchgefühl nicht mehr. Ab einer gewissen Größe muss man anfangen, verbindliche Grundsätze aufzustellen. Man muss Prozesse festlegen und eine Kultur begründen. Das war nun meine Aufgabe. Die Kultur, die mein Vater begründet hatte, war eine Pionierkultur gewesen. Er ging voran, alle schauten auf ihn, und sein Charisma war der entscheidende Motor. Das ging jetzt nicht mehr. Dazu waren wir inzwischen zu groß geworden, zu unübersichtlich«, sagt Wolfgang Gutberlet.3 Wie er das geschafft hat? »Man muss zunächst immer seine eigene Denkweise ändern und beginnen sich anders zu verhalten. Es ist ein Irrtum zu glauben, man könne andere Menschen ändern.« Der neue Führungsstil unterschied sich stark, denn während der Vater als Gründer Entscheidungen entschlossen traf, hörte sich der Sohn die Meinungen der anderen an, suchte den Konsens. »Meinem Vater war das zuwider, daher zog er sich bei solchen Gesprächssituationen zurück und ließ mich machen.« Vereinzelt musste sich Wolfgang Gutberlet anhören, er sei kein richtiger Chef. Dennoch blieb er seiner Philosophie treu.
So traf sich beispielsweise fortan die Geschäftsleitung, die im Laufe der Zeit erweitert wurde, jeden Morgen für eine Viertelstunde. Stehend bildete man eine Runde und legte zunächst eine stille Minute ein, um sich zu besinnen. Es folgte ein täglicher Sinnspruch, oft von Rudolf Steiner, Friedrich Schiller oder Johann Wolfgang von Goethe; immer Idealisten. Man sprach über Ideen und darüber, mit welchem Bewusstsein man die wichtigen Anliegen des Unternehmens angehen müsse. »Mein Vater hätte mit dem Kopf geschüttelt und gesagt, dass wir lieber etwas schaffen sollten«, sagt Gutberlet lachend. Schließlich hatte er die teuersten Mitarbeiter des Unternehmens versammelt, die augenscheinlich untätig waren. »Auch viele Mitarbeiter haben nicht verstanden, worum es mir ging. Das ist aber normal, es verstehen nie alle. Wir haben durch diese Viertelstunde eine gegenseitige Wertschätzung gewonnen, deren Effekt man nicht mit Geld beziffern kann.«
Doch es sollte bald noch »verrückter« werden. Die Familie Gutberlet hatte ihre Ernährung in der Zwischenzeit auf gesunde Kost umgestellt. So lieferte beispielsweise eine Quetsche die Flocken für das selbst hergestellte morgendliche Müsli. »Wir kannten nun bessere Lebensmittel und wollten diese auch unseren Kunden anbieten.« Bio sollte bei tegut Einzug halten. Diese Idee besprach Gutberlet mit Götz Werner, der mittlerweile im Aufsichtsrat von tegut saß. Dieser wiederum hatte bei einem Vortrag Götz Rehn kennengelernt, der damals noch bei Nestlé für die Yes-Riegel zuständig war. Das erste Treffen fand auf dem LindenGut statt. Rehn kündigte und bekam von Werner und Gutberlet ein Forschungsjahr finanziert. Gemeinsam reisten sie durch ganz Deutschland, um nach Kooperationen mit Menschen und Unternehmen zu suchen, die bereits in Sachen Bio-Lebensmittel aktiv waren. »Die wollten aber nichts mit uns zu tun haben, weil wir ihnen zu gefährlich, zu unternehmerisch waren. Auch Demeter hatte kein Interesse an einer Zusammenarbeit. Man fürchtete die Konkurrenz, wenn wir Bio-Lebensmittel im ›normalen‹ Supermarkt anböten.« Bio in Supermärkten kam einem Frevel gleich. Heute ist klar, dass Supermärkte und Discounter die wichtigsten Vertriebskanäle für Bio-Lebensmittel sind, denn 2019 wurde dort 60 Prozent des gesamten Umsatzes generiert. In Geld ausgedrückt landeten von den 11,97 Milliarden Euro stolze 7,13 Milliarden Euro dort in den Kassen.4 Schon damals konnte Gutberlet diese Haltung nicht verstehen. Er war sich sicher: Wenn mehr Menschen mit Bio-Lebensmitteln in Kontakt kämen, hätten alle etwas davon, und man könne gemeinsam wachsen. Der damalige Markt, war positiv ausgedrückt, überschaubar, selbst heute noch ist er eine Nische. Gerade einmal 5,3 Prozent Anteil haben Bio-Lebensmittel am gesamten Umsatz in Deutschland 2018.5 »Wir stehen bei bio noch am Anfang.«
Nach einem erfolglosen Jahr kam die zündende Idee. Götz Rehn sollte sich selbstständig machen und ein Handelsunternehmen mit Bio-Lebensmittel gründen, tegut und dm wären die Kunden. Somit fungierte Rehn sozusagen als Puffer zur Bio-Branche, und gleichzeitig konnte er dank tegut und vor allem dm auch ordentliche Abnahmemengen bieten. Ansonsten hätte wohl kaum ein Lieferant für ihn produziert. 1984 war es dann so weit. Der Arbeitsbegriff Naturkern wurde zugunsten des Namens Alnatura fallen gelassen – heute eine der wertvollsten Marken der Branche. In der Fuldaer tegut-Zentrale lag das erste Büro.
Endlich zogen 1982 Bio-Lebensmittel ins Sortiment ein. Das erste Produkt war Brot vom Hofgut Sassen, welches man in einigen Filialen bekam. Alnatura brachte weitere Vielfalt. Allerdings waren die Bio-Lebensmittel alles andere als ein Renner, da die Kunden sie weitgehend in den Regalen liegen ließen. Es gab nichts zu beschönigen, bio floppte auf breiter Front. Die Bio-Milch wurde mehrmals aufgrund mangelnder Nachfrage ausgelistet. Jedes Mal erging der Befehl von oben, sie wieder ins Sortiment aufzunehmen. Leitende Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen rieten Gutberlet, den »Bio-Quatsch« sein zu lassen, weil er nur Geld koste. »Wenn etwas richtig ist, muss man es machen«, davon ließ sich Gutberlet nicht abbringen. »Die Macht der Gewohnheit ändert man nur über Generationen hinweg. Die meisten Leute essen, was sie schon immer gegessen haben. Bei meinen Eltern gab es nie bio. Jeden Abend lag die gleiche Auswahl Wurst und Brot auf dem Teller.« Gutberlet brauchte einen starken Willen, einen langen Atem und sollte am Ende recht behalten. Anfang der 1990er zog die Nachfrage langsam an und stieg Mitte der 2000er sprunghaft. Während ich diese Zeilen schreibe, liegt der Jahresumsatz der etwa 3.000 gelisteten Bio-Produkte teguts bei knapp 300 Millionen Euro. Bei der hauseigenen Bio-Marke setzt das Unternehmen konsequent auf Verbandsware. Das Bio-Siegel der EU reicht dem Lebensmittelhänder dafür nicht aus.6
Der Erfolg ermöglichte auch Alnatura, am 1. Oktober 1987 den ersten eigenen Supermarkt in Mannheim zu gründen. »Wir haben Götz Rehn gefördert und ihn auch finanziell unterstützt, damit er eigene Geschäfte eröffnen kann.« Ich wundere mich und muss meine Gedanken kurz sortieren. Warum er sich einen Konkurrenten geschaffen hat, möchte ich wissen. »Bio sollte unter die Menschen kommen. Reine Bio-Läden hätte ich nie eröffnet, weil sie nur in Ballungsgebieten funktionieren. Ich wollte die Nachfrage nach Bio-Lebensmittel steigern, sie dafür auch in die Dörfer und damit in die Fläche bringen. Mit einem reinen Bio-Sortiment wäre uns das nicht gelungen, weil der Umsatz zu gering gewesen wäre. Wir haben die Bio-Lebensmittel quasi Huckepack mitgenommen und konnten sie kostengünstiger verteilen.«
So erfolgreich Alnatura heute auch ist, bescherte das Unternehmen dem Gründungstrio Werner, Rehn und Gutberlet einen handfesten Streit. Der Drogist dm führte 2015 eine eigene Bio-Marke ein und listete die Produkte von Alnatura sukzessive aus. Ein herber Schlag, denn aus Sicht von Alnatura brach der wichtigste Kunde weg. Schon bald fanden sich mit Edeka, Rossmann und Müller neue Absatzwege. Schließlich klagte dm, denn aus den Anfangszeiten gab es noch die Vereinbarung, dass neue Kunden nur beliefert werden dürfen, wenn das komplette Gründungstrio einverstanden ist, was dm in eine enorme Machtposition gebracht hatte. Vor Gericht unterlag das Unternehmen allerdings. Davon unabhängig, wurde ein weiterer Rechtsstreit um die Markenrechte ausgefochten, und auch Wolfgang Gutberlet klagte mit. »Das habe ich nicht gerne gemacht, aber wir mussten diesen Punkt klären.« Hierzu einigten sich alle Beteiligten außergerichtlich an genau dem Tisch auf dem LindenGut, an dem ich mit Wolfgang Gutberlet für das Interview sitze. »Ich habe Jahre daran gearbeitet, den Streit zu schlichten.« Für dieses Buch war es geplant, auch Alnatura an seinem heutigen Sitz in Darmstadt zu besuchen und Götz Rehn zu interviewen. Telefonisch teilte mir die Pressesprecherin allerdings mit, dass er weder für ein persönliches Gespräch noch für ein Telefonat zur Verfügung stehe und sich über den zurückliegenden Rechtsstreit generell nicht mehr äußere. Das muss ich respektieren, finde es aber durchaus bedauerlich. Zu gerne hätte ich mehr über die Pionierzeiten erfahren und wie es ihm gelang, namhafte Produzenten für Alnatura zu gewinnen. Auf ein rein schriftliches Interview möchte ich mich nicht einlassen.
Aber zurüc...
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Impressum
- Zitate
- Inhalt
- Vorwort
- Grußwort
- »Wir stehen bei bio noch am Anfang«
- Wenn Utopien wahr werden
- Gemeinsam sind wir stark
- Back Brot, Heinz!
- Mit Laib und Seele
- Bio oder weiche!
- Die Senfrebellen aus Fürstenfeldbruck
- Was für ein Saftladen!
- Bio undercover
- Weil es um mehr als nur um die Wurst geht
- Mahl was anderes
- Pionier in Sachen Bio-Bier
- Danke für die Blumen
- »Wir müssen bio zum Normalfall machen«
- »Nicht bio ist zu teuer, sondern konventionell ist zu billig«
- Im Einsatz für gesunde Lebensmittel
- Teure Höhenflüge
- Schlussgedanken
- Dank
- Über den Autor
- Anmerkungen