Dialektik der kreativen Innovation
Ken Pierre Kleemann, Leipzig
Digitalisierung ist zum Epochenbegriff geworden und fordert die Wissenschaftler und Ingenieure, aber auch Politiker und zivilgesellschaftliche Akteure. Eine Veränderung, welche jeden betrifft und selbst noch in der Entfaltung ist, stellt extreme Anforderungen sowohl an die Erstellung der Infrastruktur als auch an ihre Einbettung und Umsetzung in unseren alltäglichen Verhaltensformen. Eine derartige sozio-technische Veränderung erzeugt nicht nur einen Druck auf die politischen Verfahrensweisen, sondern einen allgemeinen Innovationsdruck in der ganzen Gesellschaft. Doch wird nicht auf eine strukturelle und soziale Gestaltung der Bedingungen der Möglichkeit für derartiges Erfinden gesetzt, sondern der Mythos einer fantasievollen und spontanen Kreativität gepflegt. Dieses Bild einer genialen Spontanität ist ein echtes philosophisches Problem, denn es wird nicht nur ein problematisches Menschenbild gepflegt, sondern auch die Vorstellung eines unstrukturierten Umschlages von Quantität in Qualität in einer eigenwilligen Vorstellung von Dialektik tradiert.
In einem ersten Schritt wird es folglich um dieses neue heilige Triumvirat gehen: Digitalisierung, Innovation, Kreativität. In einem zweiten Schritt wird das Problem der Spontanität zur neueren Entwicklung der Philosophie der letzten Jahre in Verbindung gebracht. Daraus wird sich in einem nächsten Schritt das Problem des verwendeten Bildes der Spontanität als philosophisches und historisches Bild ergeben. Im vierten Schritt wird es somit möglich, die Dialektikdiskussion in der DDR als Erfahrung und Inspiration zu beleuchten, und in einem weiteren Schritt die alternativen Formen einer derartig theoretisch gestützten Praxis deutlich zu machen. Im sechsten Schritt kann so die theoretische und praktische Leistung Rainer Thiels gewürdigt werden, welche sich nicht nur auf die Einführung von TRIZ beschränkt. Erfinderschulen sind auch heute noch eine Chance, die Bedingungen der Möglichkeit von Innovationen fruchtbar zu machen und dennoch dem mythischen Bilde der spontanen Kreativität Raum zu geben, auch ohne die Tradierung eines mehr als problematischen philosophischen Erbes.
1. Kreative Innovation und das Problem der Spontanität
In mantrischen Zügen erschallt das neue heilige Triumvirat durch Fachzeitschriften und Feuilletonartikel: Digitalisierung, Innovation, Kreativität. Unleugbar stehen wir heute in einer Entwicklung, die nicht nur Arbeits- und Verfahrensweisen ändert, sondern auch die Vorstellungen über unser Verhalten entscheidend umgestaltet. Seit nunmehr fast fünfzehn Jahren ist das, was man einst Datenverarbeitung und Computerisierung nannte, in eine neue und qualitativ andere Phase getreten. Nullen und Einsen, Bits und Bytes, Zeichensätze und Programmiersprachen sind nicht nur in riesigen Datenverarbeitungszentren erfasst, sondern durch das Internet vernetzt und in sich relatiert.
Diese Digitalisierung arbeitet nicht mehr einfach mit der Rekursivität einzelner Rechenoperationen, sondern mit einer versprachlichten und verlinkten Wissensbasis. Diese ist mitnichten „einfach programmiert“, sondern in einem langen historischen Prozess von vielen Akteuren erstellt und entwickelt worden. Semantische Technologien und die – wohlgemerkt nicht philosophischen – Ontologien sind digital-sprachlich erfasste Nachbildungen unserer alltäglichen begrifflichen Kategorisierungen; sie sind digitale Begriffe und Relationen, welche sich aus dem Vollzug unserer alltäglichen und durch digitale Geräte gestützten Urteilspraxen nicht nur ergeben, sondern gleichzeitig diese umgestalten.
Neben den Schreckgespenstern des gläsernen Menschen oder des totalen Überwachungsstaats werden echte Optionen einer humanen sozio-technischen Infrastruktur möglich11. Der digitale Behaviorismus12 ist somit nicht allein die Möglichkeit der Abrichtung durch neue Pawlowsche Glöckchen, sondern das echte und umfassende Begreifen und Gestalten wirklicher menschlicher Lebensvollzüge. Big Data Analyse ist nicht einfach die quantitative Erfassung und Steuerungsmöglichkeit einer beschleunigten Gesellschaft, sondern auch Auswertung, Abgleich und Verwendung digitalisierter Lebensweisen. Der sogenannte digitale Wandel fordert somit nicht allein einen Breitbandausbau oder ein 5G Netz, sondern die Anwendung und Veränderung unserer täglichen Lebensweise und die gleichzeitige Adaption und Veränderung der technologischen Grundlagen. Der Sinn des Begriffs einer sоzio-technischen Infrastruktur erhält dementsprechend eine sehr weite Konnotation, welche sich in ihrer Bedeutung nicht auf die Gründung von innovativen Start-ups oder einer volkswirtschaftlichen Ausrichtung von einer Markt- auf eine Technologieführung beschränken kann. Digitalisierung unserer soziotechnischen Infrastruktur bedeutet immer auch, die Bedingungen der Möglichkeit für jegliche Innovation in den Blick zu nehmen und für die gesellschaftliche Gestaltung fruchtbar zu machen.
Damit lässt sich Digitalisierung und Innovation kaum noch trennen von dem, was gebräuchlicherweise Kreativität genannt wird. Fantasie, Genialität und ein gewisses unkonventionelles ästhetische Erleben werden dabei kolportiert und in eine Zwangssynonymisierung gedrängt, in der der „kreative Säulenheilige“ der heutigen digitalen Ära sofort präsent ist. Ob nun Steve Jobs oder ein fragwürdiger Elon Musk, der neue Typus des begnadeten Erfinders ist nicht nur gefunden, sondern selbst als Mythos mit der „digitalen Wende“ emporgestiegen. Das neue heilige Triumvirat wird durch eine derartige popkulturelle Beleuchtung ins Scheinwerferlicht gerückt; Digitalisierung und das heutige Verständnis von Innovation brauchen den Geistesblitz einer intellektuellen Anschauung, welche sich nicht durch Zwänge oder Vorgaben beschränken lassen will und schon gar nicht durch eine systematische und methodische Herangehensweise. Digitalisierung braucht Innovationen, und diese müssen, so der Chor der Allem-A-Strukturellen, fantasievoll und kreativ sein. Der begnadete Erfinder der digitalen Ära ist ein spontaner Kopf. Es ist eine Vorstellung von Kreativität in den heutigen Diskursen im Spiel, welche mit einer problematischen Vorstellung von Spontanität agiert. Dieses Bild der Spontanität ist ein echtes philosophisches Problem.
2. Die Rückkehr der Dialektik und die Kritik des spontanen Menschenbildes
Ein philosophisches Problem wird problematisch, wenn nicht klar wird, was das Problem ist, sondern einen Streit auslöst, was Philosophie selbst ist und soll.
Seit gut dreißig Jahren ist für die Universitäten der Berliner Republik die Verheiratung der kontinentalen und analytischen Philosophie, wie es Habermas nannte, maßstabsgebend13. Sinnfragen oder weltanschauliche Grundsätze werden bei beiden „Richtungen“ einer sprachlichen und damit wissenschaftstheoretischen Kritik unterzogen, wobei die sogenannte kontinentale Philosophie sehr wohl eher den Nimbus der gesellschaftskritischen Gewichtung für sich verbuchen kann. Angelsächsische oder analytische Philosophie geniesst hingegen immer noch den Ruf einer kalten und trockenen Arbeit an Logik und gesellschaftlich unkritischer Wissenschaftstheorie. Mag diese Vorstellung auch auf einige Vertreter der sogenannten Philosophie der idealen Sprache zutreffen14, so gilt dies aber zum einen nicht für die Väter dieser Richtung und zum anderen auch nicht für deren Erben.
Für die Väter aus dem Wiener Kreis war die Kombination von Einheitswissenschaft und Sozialtechnologie eine Selbstverständlichkeit15 und konnte bei einem Menschenbild der individuellen und spontanen Kreativität nicht haltmachen. Gesellschaftliche Gestaltung braucht hier nicht nur den genialen Erfinder, sondern Bedingungen, sowohl wissenschaftlich als auch politisch, welche überhaupt erst einmal Möglichkeiten zeitigen16.
Zwei Erblasten verfolgten aber schon in den 1920er und 1930er Jahren diese Unternehmung. Zum einen wurden diese Bedingungen selbst zum problematischen Ausgangspunkt. Protokoll- oder Beobachtungssätze könnten gar nicht als wissenschaftliche und damit sozialtechnische Grundlage dienen, denn jede Theorie sei doch selbst theoriegestützt17. Durch Popper erfolgte die Rückkehr eines Menschenbildes, welches Trial-and-Error zum bezeichnenden Kern hat18.
Der kritische Rationalismus braucht stringent die Fantasie der offenen Gesellschaft, um eine vermeintlich mögliche Instrumentalisierung der Wissenschaft in einer zukünftigen Technokratie zu vermeiden19. Dialektik wurde so zu einer methodischen Chimäre und zu einer Gefahr, welche die Freiheit der spontanen Kreativität bedrohte. Von einer Verbindung von System und Methode ist am besten gar nicht zu reden. Diese erste Erblast ist bis heute wirkmächtig und glücklicherweise umstritten.
Die zweite Erblast schaut eher auf die Verwendung und Umsetzung problematisch zu sehender Aussagen der Wissenschaft. Ist es nicht möglich, auch bei einer „bloßen“ Falsifizierung zu einem geschlossenen und wirkmächtigen Aussagesystem der Wissenschaft zu kommen? Kann eine ideale Sprache nicht dennoch zu einer signifikanten Gesellschaftsgestaltung f...