Teil I
Im Fluss der Zeit
Die erste Dekade 1929 – 1938
Im geschichtlich bedeutsamen Jahr 1929 fühlten sich Honoratioren aus Hannover bewogen, bestimmten Zeiterscheinungen auf dem Gebiet der Kultur entgegenzutreten. Sie taten dies mit dem „Aufruf zur Gründung der Musikgemeinde“ in Hannover (der einschränkende Name „Kammermusik-Gemeinde“ wurde erst 1939 angenommen).
Aufruf zur Gründung der Musikgemeinde
„Wir Lebenden sind verpflichtet, einmal unserer selbst wegen und dann für unsere Nachkommen, auch auf musikalischem Gebiet der überhandnehmenden Verflachung unseres geistigen Lebens einen Damm vorzusetzen. Diese Verflachung ist eine Kriegsfolge und wird durch Rundfunk, Jazz-Musik, Grammophon und übertriebene Sportbewertung von Tag zu Tag schlimmer. Wir wollen daher versuchen, für das Zustandekommen einiger guter Konzerte (Kammermusik, Solisten, bei günstiger Entwicklung auch Orchester) einen Kreis musikliebender Menschen aus allen Schichten zusammenzubringen, der sich verpflichtet, durch Zeichnung von je zwei Karten für einige solcher Konzerte eine Grundlage zu schaffen.
Wir sind überzeugt, daß das Musikleben Hannovers damit einen neuen — wenn auch zunächst nur einen bescheidenen — Aufschwung nehmen wird. Alles Geschäftliche scheidet aus, wir denken nicht daran, irgendeinen Unternehmer oder bestimmte Künstlerkreise zu bevorzugen, vielmehr bitten wir Wünsche zu äußern und Vorschläge zu machen. Die Geschäftsführung dieser Musikgemeinde übernimmt der ‚Kulturring‘.“
Aus heutiger Sicht war das ein heftiger Impuls. Er zielte rein sachlich auf mehr Konzertveranstaltungen in Hannover. Die Begründung für die Initiative entsprang aber einem Zeitgeist, der im damaligen Deutschen Reich durchaus verbreitet war. Er führte in seinen krassen Ausprägungen wenig später zu einem gewaltigen Niedergang der Kultur in Deutschland. Dies betraf auch die Musik und das Musikleben.
Ein Stein des Anstoßes war die Jazz-Musik, wie im Aufruf zu lesen war. Ein Artikel aus der Zeitschrift für Musik, Heft 4 1929, zeigt, wie weit die Ablehnung dieser Musik verbreitet war. Diese von Robert Schumann 1834 mit anderen gegründete und von ihm geprägte Neue Zeitschrift für Musik erhielt 1920 den auch programmatisch zu verstehenden kürzeren Titel Zeitschrift für Musik. Unter der Leitung von Alfred Heuß wurde sie zu einem reaktionären und nationalistischen Monatsblatt. So befasste man sich mit Schuberts Abstammung, um daraus seinen Genius zu erklären. Die Diktion des zugehörigen Artikels in Heft 1 – 1929 - liegt nahe an heute einschlägig negativ gesehenen nationalsozialistischen Schriften. Das war damals aber nicht besonders ungewöhnlich. Weite Kreise der Musikwissenschaft tendierten in diese Richtung.
Zeitschrift für Musik, Heft 4 1929
Zu den Leserinnen und Lesern der Zeitschrift gehörte Heinz Appel, der Gründungsvater der Hannoverschen Musikgemeinde. Vermutlich lasen sie auch andere Musikinteressierte im Umkreis der Gemeinde.
Generaldirektor Heinz Appel in einer Broschüre der Musikgemeinde aus dem Jahr 1935
Der bekannte und vielseitig ehrenamtlich tätige Fabrikant Heinz Appel, dessen Firma „Appel-Feinkost AG“ auf ihrem Feld zu den bedeutendsten deutschen Unternehmungen der Zeit zählte, war unter anderem in dem 1901 gegründeten „Heimatbund Niedersachsen“ aktiv. Außerdem gründete er 1924 mit anderen Honoratioren den „Kulturring Hannover“ sowie nach dem Aufbau der „Hannoverschen Musikgemeinde“ 1929 im Folgejahr die heute noch mitgliederstarke „Wilhelm-Busch-Gesellschaft“. Auch die „Musik-Gemeinde“ besteht weiterhin als „Kammermusik-Gemeinde“. Der Kulturring nebst seiner Vereinspublikation schaffte es dagegen nicht mehr über die Schwelle des Jahrtausends.
In eben dieser Vereinszeitschrift erschien der oben zitierte Aufruf im Juli 1929:
Daraus geht folgendes hervor: Auf Initiative von Heinz Appel lud der Vorstand des Kulturrings 1929 »eine Reihe musikverständiger und musikliebender Persönlichkeiten« in den Luisenhof ein. »Generaldirektor Appel legte zunächst dar, daß das hannoversche Musikleben, der Konzertbetrieb, in Gefahr sei, völlig zu versanden. Dies zeige sich, da der Besuch ernster Musikaufführungen immer mehr abflaue. [...] Wenn man jetzt gute Kammermusik hören wolle, müsse man nach auswärts gehen. Der einzige Weg, auf dem eine Verbesserung dieser Verhältnisse erreicht werden könne, sei die Gründung einer Musikgemeinde, an der sich alle Musikfreunde ohne Unterschied von Rang und Stand beteiligten. Die Mitglieder dieser Musikgemeinde müßten sich verpflichten, eine bestimmte Anzahl guter Konzerte zu besuchen, so daß die unbedingt nötige Besucherzahl auf jeden Fall gesichert sei. Dringend erforderlich sei dabei auch die Förderung des Gedankens durch eine starke Mitarbeit der Presse.«1 Es folgte der oben stehende Aufruf mit Unterschriften von Musikern sowie Personen des wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens. (Näheres dazu im Anhang)
Was konservativ geprägte Zeitgenossen der Zwanziger Jahre vielfach wahrgenommen haben, erscheint heute zweifelhaft. Konnte man mit Recht von „Verflachung“ sprechen, die zudem „täglich schlimmer“ werde? Anscheinend waren sowohl die Übertragungswege von Musik durch Radio oder Grammophon als auch die Auswahl der Werke nicht genehm. Nun muss man zugeben, dass die damaligen Geräte nur entfernt wiedergeben konnten, was eigentlich bei der Aufnahme im Saal oder Studio zu hören war. Außerdem tauchte das Problem ständiger Verfügbarkeit von Musik durch Tonträger auf. Das ist auch heute im Vergleich zur lebendigen Darbietung im Konzert diskussionswürdig. Gleichwohl unterhielten die Sendeanstalten eigene Orchester, die neben der sogenannten „Leichten Muse“ auch die großen Meisterwerke der Klassik spielten. Zum Radioprogramm gehörten zudem sehr viele Wortbeiträge, die vielfach von hervorragenden Schriftstellern gestaltet wurden. Damit konnte eine „Verflachung“ nicht unbedingt begründet werden. In der „ZEIT“ war 1989 dazu folgendes zu lesen: „Das Jahr 1930 war eine Sternstunde des Radios: Heinrich Mann und Else Lasker-Schüler lesen aus ihren Werken; Alfred Kerr veranstaltet eine "Dichterschule" mit den Herren Alfred Wolfenstein, Max Herrmann-Neiße, Walter Mehring und anderen; Carl Zuckmayer, Ernst Weiß und Franz C. Weiskopf geben "improvisierte Erzählungen" (live natürlich!) zum besten; Walter Benjamin hält eine "Jugendstunde"; Gottfried Benn und Johannes R. Becher diskutieren über "Dichtung an sich". Und nimmt man die Jahre 1929 und 1931 dazu, so hat man tatsächlich den Zeitraum, in dem alles bis auf den heutigen Tag Bewunderte und Nachgeahmte seinen Anfang nahm.“ In dieser Aufzählung sind allerdings viele Namen zu finden, die bei konservativen oder nationalistisch gesinnten Personen nicht positiv konnotiert waren.
Der Rundfunk brachte ein anderes Problem für Konzerthörer mit, dass uns heute fremd erscheint: Rudolf Arnheim beschrieb 1933 den Schock, den es bedeutete, eine Symphonie zu hören, ohne das Orchester zu sehen: "Dies neue Erlebnis beginnt damit, daß die Musik aus dem leeren Nichts heraus anhebt. Niemand sitzt mit gezücktem Instrument vor dem Hörer. Kein Mißverhältnis besteht zwischen fünfzig pausierenden Männern, von den Geigern vorn bis zur Kesselpauke hinten, und der einen bescheidenen Flöte, die vielleicht zu Beginn des Stückes allein das Wort hat."2
Jazz-Musik war Klassik-Liebhabern und von dieser Musik geprägten Menschen oft unbekannt, daher unangenehm und wurde abgelehnt. Solcher Widerstand gegen eine freiere Kunstform zog sich bis in die Kreise der Musiklehrer. Nach den preußischen Richtlinien der Zeit hatte derartige Musik keinen Platz im Unterricht. Das wurde jedoch in fachlichen Diskussionen dieser Richtlinien durchaus bedauert.3
In der Zeitschrift für Musikwissenschaft wurde Jazz 1929 im Zusammenhang mit den Komponisten Kurt Weill und Arthur Honegger erwähnt. Sie enthielt zudem einen Verweis auf „Ein Jazzintermezzo in der Quinta“. Leider haben Nationalsozialisten die damit zusammenhängende Diskussion über Musikstile völlig ins Abseits gelenkt, indem Jazz als „Negermusik“ rassistisch diffamiert und dann zu der sogenannten „Entarteten Musik“ hinzugezogen wurde. Leitbegriff des Aufrufs war dagegen „Ernste Musik“. Die dahinter verborgene und in Deutschland verbreitete Auffassung wird im nächsten Teil – Programm und Publikum - aufgegriffen.
Warum die im Aufruf konstatierte „Verflachung des geistigen Lebens“ als Kriegsfolge angesehen wurde, bleibt offen. Historisch unbestritten ist die Belastung der ganzen Epoche der Weimarer Republik durch Kriegsfolgen der verschiedensten Art. Zeugnisse aus dieser Zeit belegen, dass es im musikalischen Bereich wie auf allen Kulturfeldern Neuerungen gab, die durchaus strittig beurteilt wurden. So nahm die Zahl der „Lichtspieltheater“ deutlich zu. Vielfach wurde dort eine Orgel zur Begleitung der noch stummen Filme eingesetzt. Hin und wieder kam auch ein bekannter Organist - wie etwa Gerhard Gregor - nach Hannover4. Sein Programm am 28.6.1930 im hannoverschen Planetarium umfasste Werke von J. Strauß, N. H. Brown5, P. I. Tschaikowsky, E. Hollaender und J. Petersburski6. Das waren eigentlich keine Schreckgestalten für bürgerliche Hörer.
Das Opernprogramm der Städtischen Bühnen Hannover aus der Saison 1928 – 1929 unter Generalmusikdirektor Rudolf Krasselt kann ebenso als Beleg für die dort gepflegte, vorrangig konservative Ausrichtung dienen. Allerdings gab es im Februar 1929 einen handfesten Theaterskandal bei der Erstaufführung von Kurt Weills Oper „Der Protagonist“ in Verbindung mit seinem Einakter „Der Zar lässt sich photographieren“. Dieser wurde im April nochmals gezeigt. „Der Protagonist“ entfiel.
Als einziger Komponist neben Kurt Weill stand Franz Schreker7 abseits der üblichen Repertoirestücke. Aus dem sonstigen Programm kann dennoch das negative Urteil im „Aufruf zur Gründung einer Musikgemeinde“ nicht a...