1. Teil
Sozialisierung und
Desozialisierung
Der verlorene Sohn und
das verlorene Selbst
Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält, oder eine ganze Reihe von Geschichten.
Max Frisch
Kunst, Vertrieb und Sehnsucht markieren nicht nur Stationen meines Lebens, vielmehr sind sie die Triebfedern meines Werdeganges und durchziehen meine Existenz wie verschiedene Meeresströme, die aufeinanderprallen, einander durchdringen und sich immer wieder wie tosende Brandungen aufbäumen. Eine Aneinanderreihung von zuweilen bizarren Kunst-, Vertriebs- und Sehnsuchtsgeschichten, die nicht eines gewissen Unterhaltungswertes entbehren.
Doch gab es auch ganz besondere Orte, wo sich Sehnsucht und Erfüllung umarmten und zu einem ruhevollen Moment eines unbegrenzt unendlichen Seins gerannen. Ich komme auf einen solchen für mich heilenden Ort der Erlösung später noch ausführlich zurück. Nur so viel sei schon verraten: Es handelt sich um den Fensterplatz eines Montessori-Kindergartens im Jahre 1954 in Düsseldorf-Flingern. Fenster und Fensterplätze haben es mir immer wieder angetan, so auch die Atelierfenster der Kunstakademie in Düsseldorf, an der ich von 1970 bis 1978 studierte. In meiner Rückschau gewinnen diese geografischen Fixpunkte und architektonischen Environments meiner Kindheit, meiner Adoleszenz, der rebellischen Revolte und des vertrieblichen und ästhetischen Vagabundierens immer mehr Kontur.
Vor all diese Lokalisationen schiebt sich immer wieder mit brachialer Präsenz mein Vater. Mein Erzeuger, der mit 14 einer Schlosserlehre entfloh, bei der Handelsmarine während des Krieges unterkam, der U-Boot-Rekrutierung entging, sich vor der Währungsreform als Schieber erprobte und schließlich, angelernt durch die Familie seiner ersten Frau, meiner leiblichen Mutter, sich als genialer Hausierer zu vollenden begann. Zeit seines Lebens vermochte er sich dieser Bestimmung nicht mehr zu entziehen, wenn auch kurze Abstecher in einen bürgerlichen Broterwerb seine Illusion nährten, der Straße zu entkommen. Doch war es gerade die Straße, auf der sich für ihn letztendlich seine Vorstellung von einem freien, ungebundenen, einem sinnlichen, leidenschaftlichen und spontanen Leben zu erfüllen vermochte. Somit waren all seine geschäftlich-bürgerlichen Niederlagen in Wirklichkeit nichts anderes als die Siege eines radikal anarchistischen Freiheits- und Selbstverwirklichungsdranges, das auf die unterschiedlichsten Menschen, vor allem aber auf erfolgreiche Akademiker, denen er auf seinen Vertriebsreisen begegnete, eine hohe Anziehungskraft ausübte. Mein Vater suchte nicht den Umgang mit solcherart gehobener bürgerlicher Klientel, nein, sie suchte den Umgang mit ihm. Der amüsante Geschichtenerzähler, der sich auf exquisites Essen und Trinken und gute Garderobe verstand, vermochte auch als guter Zuhörer und väterlicher Seelentröster die Menschen in seinen Bann zu ziehen. Er verstand sich darauf, die Feste nicht nur zu feiern wie sie fielen, sondern diese selber zu kreieren – an jedem x-beliebigen Wochentag. Er pflegte bis in die Puppen zu feiern und dabei trotzdem pünktlich mit Ladenbeginn bei seinem ersten Kunden auf der Matte zu stehen. Ich hatte von ihm nicht nur gelernt, mich zu kleiden, zu tafeln und zu saufen, sondern auch eine gewisse Ehrvorstellung. Wer saufen konnte, musste nach seiner Devise auch am frühen Morgen antreten können, selbst wenn er noch schicker war. Das Vagabundieren, die Freibeuterei, das Leben nach radikal eigenem Gusto zu gestalten, gepaart mit einer ungestillten Sehnsucht nach bürgerlicher Ordnung und Akzeptanz, wurde mir mit in die Wiege gelegt. Mein hausierender Vater scherte sich nicht darum, nach tragisch gescheiterten Integrationsversuchen ins bürgerliche Milieu Steuern zu entrichten. Er fühlte sich dem Staat nur als Raubritter ebenbürtig. Von meinem Vater habe ich nicht nur das Hausieren gelernt, heute sprechen wir von Direkt-Vertrieb und Kaltakquise, in den 50ern hieß das Klinkenputzen. Betteln und Hausieren verbat sich der Bürger durch Schilder an der Haustür.
Von ihm, der Bedarfsartikel für Glas- und Gebäudereinigung vertrieb, lernte ich auch, mir ein finanzielles Tages-, Wochen- und Monatsziel zu setzen und es mit eiserner Disziplin zu erreichen. In meinen Semesterferien bereiste ich gemeinsam mit meinem Vater seine Kundschaft in ganz Deutschland und lernte von ihm Kaltakquise und Verkauf, die er als Kunst zelebrierte. Er konnte stundenlang seine Reiseabenteuer und Verkaufs Storys zum Besten geben und gesellige Runden mitreißend unterhalten. Er wusste, worauf es ankam: »Hinter den Ecken liegt das Geld. Das Geschäft endet erst, wenn der letzte Kunde seinen Laden schließt. Du musst so lange auch im Hochsommer arbeiten, bis dir das Schweißwasser am Arsch kocht – ohne dich zu beklagen. Du musst die Fensterwischer-Stangen im Winter ohne Handschuhe tragen, auch wenn deine Hände daran festfrieren, um mit deiner Ware in Kontakt zu sein, sie richtig zu fühlen. Entweder gewöhnen sich die Teleskopstangen an deine Hände oder deine Hände an die Stangen.«
Ja, ich greife vor, all die Bruchstücke meiner Geschichten drängen ins Scheinwerferlicht. Und ich habe mich immer so geschämt, dass er hausierte. Umso mehr habe ich mich abgehärtet und abgebrüht bis zur totalen Anästhetisierung, als ich mit 19 begann, das Hausieren von ihm zu lernen. Das war in Lübeck in meinen ersten Semesterferien.
Ich habe mich dann ab 1988, im Alter von 37 Jahren, in meinen Performances angeschickt, die Arbeit auf der Straße als künstlerische Arbeit ästhetisch zu transformieren. Ich habe mich ohne jegliche Scham öffentlich entblößt und mich auf der Straße abgearbeitet an meinen Themen. Ich, der ich als Kind vor Scham im Boden versinken wollte, wenn sich unsere Nachbarn darüber brüskierten, wie mein Vater sein Geld verdiente, das immer sehr viel mehr war, als sie selber in der Tasche hatten. Mein Vater betrieb sein Leben als die Kunst, »aus Scheiße Geld zu machen«, wie er es bezeichnete, und sich einen Scheiß darum zu kümmern, welche Vermögen er aufwendete, um seinen Sinnesfreuden auf das Spendabelste zu frönen. Das betraf sowohl die Ausstaffierung seiner Weiber – er hatte mindestens immer zwei bis drei davon parallel – mit einer aufwendigen Grundausstattung, als auch sein Vergnügen, sich mit seinen Gästen nur den besten Genüssen leidenschaftlich hinzugeben. Als Kind habe ich unter diesem exzessiven Lebenswandel gelitten, am eigenen Leibe kennengelernt habe ich diesen erst, als ich aus Südamerika zurückkam und mit ihm gemeinsam auf Verkaufstour ging, um finanziell wieder frisch zu werden.
Wirklich verstehen kann ich diesen Lebensstil meines Vaters erst aus heutiger Sicht. Ich habe lange Zeit vergeblich versucht, meinen Vater in seiner anarchistischen Zügellosigkeit zu domestizieren, und bin stattdessen ihm auf den Leim gegangen, und das nicht nur, wenn sich auf meinem Lebenskurs meine vielfältigen Facetten verwirrten und verklebten. »Mach doch kein Theater und stell Dich nicht so an«, so hallte es lange Jahre in meinen Ohren nach. Ich hatte es immer schon mit den Ohren, zunächst aufgrund einer vermeintlichen Schwerhörigkeit, dann auch durch widrige und windige Lebensumstände. In den Zeiten, als es sich noch feucht in der Hose und später hinter den Ohren anfühlte, machten die Geschichten meiner Erzeuger und Versorger viel Wind, später sorgte ich mit meinen eigenen Geschichten nicht nur für Rückenwind. »Wer nicht hören will, muss fühlen«, hieß es, und ich bekam viel Lautes zu hören und Hartes zu fühlen bis mir Hören und Fühlen vergingen und ich mich anschickte, es allen zu zeigen, wie wir noch sehen werden.
Doch ich will von vorne beginnen. Nur, um diese meine Geschichte zu erzählen, benötige ich etwas Abstand zu dem Menschen, der hier zum Protagonisten meiner Ausführungen wird. Daher werde ich einen Schritt beiseitetreten und mein Leben aus der Sicht eines unbeteiligten Beobachters schildern und den Menschen, um den es geht, also mich, Robert, RR oder den Protagonisten nennen.
Die Anfänge unseres Protagonisten reichen in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, sechs Jahre nach dem großen Krieg, der die Welt veränderte. 1951 erblickte RR das Licht der Welt in einer Stadt, die an einem großen und an einem kleinen Fluss gelegen, von kundigen Zeitgenossen gerne als eine elegante tituliert und von missliebigen Nachbar-Städtern genüsslich als »Schicki-Micki«-Hort denunziert wurde. Die Stadt selbst sah sich gern als »Schreibtisch des Ruhrgebiets« und warf sich als »Klein-Paris« in die Brust. Dabei schämte sie sich keineswegs eines Namens, der herrührte aus der Verbindung des kleineren Flusses »Düssel« mit der bescheidenen Bezeichnung für eine ländliche Siedlung.
Das närrische Spiel zwischen Schein und Sein, Betitelung und Tatsächlichkeit, verkörpert durch einen Stadtnamen, taucht den Werdegang von Robert in ein spezifisches Bühnenlicht und vermag die Lebenschoreografie mit dramatischen Schlagschatten zu versorgen. Düsseldorf und sein Umfeld wartete mit seinen Kulissen für unseren Protagonisten auf, der Jahrzehnte später, um das Jahr 1988, auf seinem Visitenkarte genannten Künstlerausweis mit »RR – Kunst & Kommunikation« seinen Auftritt anzeigte.
Doch wir wollen nicht vorauseilen und uns an die Chronologie der Ereignisse halten. Roberts Vater war in eben dieser Stadt nach dem Krieg, in der sich gute Schieber-Geschäfte tätigen ließen, hängen geblieben und hatte ein junges Fräulein namens Maria kennengelernt und geschwängert. Die hübsche Maria versuchte sich in einer seriösen Buchhändlerlehre und schickte sich zunächst an, sich von ihrer Mischpoke abzusetzen. Die Familie von Maria verstand sich famos aufs Hausieren. Sich etwas einfallen zu lassen und viel Geld damit zu verdienen, lag Marias Familie im Blut. Ihr Großvater Otto hatte als erfolgreicher Schreiner im Messebau schon ein Vermögen gemacht und zwei Häuser gekauft. Sein Sohn Walter produzierte im Keller eines der Häuser, das ihm Vater Otto vermacht hatte, Silberputztücher, Gummitücher aus Naturkautschuk, und Kautschukbürsten.
Mutter, Schwester, Onkel, Tanten und diverse Anverwandte veräußerten von Tür zu Tür die vom Familienoberhaupt Walter selbst erfundenen Putzgegenstände. Wochenlang machte sich der gesamte Clan auf die Handelsreise, jeweils solange, bis das gesamte Warenkontingent der aktuellen Heimproduktion verkauft war. Umsätze und Verdienstspannen waren sensationell in den Jahren 1949-52 und dienten teilweise zum Wiederaufbau ihres ausgebombten Stadthauses. Sein Erzeuger und seine Erzeugerin investierten im guten Glauben, dafür später eine Sicherheit zu haben, um die sie aber betrogen wurden, wie wir noch sehen werden. Der Clan war nicht nur automobil gut aufgestellt, sondern auch exzessiv in Sachen Trinkfestigkeit, vergnüglicher Festivität und entspanntem Müßiggang. Den erfolgreichen vierwöchigen Verkaufstouren folgten achtwöchige Gelage und Ausflüge nach Rimini, Saint-Tropez oder Cannes, die erst mit der Ebbe in der Kasse die muntere Schar wieder an heimische Gestade spülte, wo frisch produziertes Kontingent zu erneuten Veräußerungstouren drängte. Und so nahm dieses Leben seinen arbeitsamen und hemmungslosen Lauf, lediglich gestört von der Geburt eines Säuglings.
Doch Maria erlag der Versuchung schnell, viel Geld zu machen, und auch ihr Bräutigam Hubert, der Vater unseres Protagonisten RR, konnte nicht widerstehen, seine geschäftlichen Erfahrungen aus der »Schieberzeit« und sein kommerzielles Talent für den schnellen Handel von Tür zur Tür zu nutzen. Maria und Hubert machten sich gemeinsam auf und berauschten sich an mehr und mehr Geld und kurzweiligen Vergnügen bis eine Schwangerschaft eben diesem Treiben und seinen hochtrabenden Zielen langsam ein Ende zu bereiten schien. Kinder passten im Jahre 1950 nicht in ein solches Business-Konzept, das der kleine Robert am 29. März des Jahres 1951 um 15:15 Uhr durchkreuzte. Er wurde gemäß Übereinkunft seiner Erzeuger protestantisch getauft, in Abweichung zu seiner Familie mütterlicherseits, welche durchweg dem Katholizismus angehörte, was sich auch in einer eher genussorientierten und lustvollen Lebensweise niederschlug, jenseits von protestantisch-asketischen Lebensprinzipien. Eine rheinisch-katholische Lebensbewältigung nahm die Dinge entsprechend den rheinischen Lebensmaximen leicht, anstatt an den Widersprüchen und Paradoxa der Existenz zu zerbrechen. Genau diese Mischung sollte unserem Protagonisten in seinem weiteren Leben die Kraft geben, die Widrigkeiten des Daseins und das Hereinbrechen von schicksalhaften Verstrickungen zu bewältigen, durch diese zu wachsen und sich weiterzuentwickeln.
Für den kleinen Strampler war kein Platz in einem merkantilen Lebensentwurf: »Erwerb und Behalt erstritten in einem materiell ausgerichteten knallharten Überlebenskampf«, wie sich sein Erzeuger zeit seines Lebens gebetsmühlenartig auszudrücken pflegte. Nährende Bindungen, kontinuierliche Zuwendung und eine stabile häusliche Geborgenheit, um in der Welt geschützt Fuß zu fassen und Urvertrauen bilden zu können, gehörten einer anderen Welt an. Robert wurde in seinen ersten fünfzehn Lebensmonaten in der Familie seiner Mutter herumgereicht wie ein Wanderpokal, dessen man sich an Sonntagen zu erfreuen vermochte, der im Alltag aber eher eine Last war. Er wurde möglichst so abgelegt, dass seine lautstarken Lebensbekundungen nicht vernehmbar waren und vermeintlich akustische Beeinträchtigungen für die wechselnden Betreuer durch die räumliche Distanz gedämpft wurden. Unterbrechung, Abwendung und Isolation kennzeichneten diese erste Bindungsphase. In diesen Umständen mag wohl auch die ganz tiefsitzende Angst unseres Protagonisten begründet sein, die wie ein Hintergrundrauschen sein Leben begleitete. Von Anfang an auf sich selbst zurückgeworfen, stärkte dies einerseits sein Autonomiebestreben und seinen Bewältigungswillen, erschütterte aber andererseits sein Urvertrauen in sich selbst und seine Mitmenschen zutiefst. Er entwickelte frühzeitig Strategien, um die Wechselbäder des Schicksals zu überstehen. Seine Lebensumstände erforderten eine hohe Anpassungsfähigkeit und Flexibilität, sie trainierten sein intuitives Gespür für Gefahr und sein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen für Menschen und Situationen. Allerdings förderte eine derartige Konditionierung seine Tendenz zu Autoritätshörigkeit, die jedoch innerlich immer wieder konfligierte mit seinen starken Autonomiebestrebungen, seinem ausgeprägten Willen zu Unabhängigkeit und zu einem spielerisch orientierten Freiheitsbestreben, das durch den vierjährigen Besuch eines Montessori-Kindergartens gefördert und gestärkt wurde. Wir werden später noch von dieser Phase erfahren, die für unseren Protagonisten lebensbestimmend werden sollte.
Roberts Erzeuger sahen sich genötigt, jemanden für eine dauerhafte Betreuung ihres Balges zu finden, und gaben eine Zeitungsannonce auf, um eine Pflegemutter für Robert zu suchen. Liselotte ging erfolgreich aus diesem Recruiting-Prozess hervor. Sie erfüllte die Auswahlkriterien und Anforderungen im Hinblick auf eine für Hubert und Maria komfortable Dauerlösung. Gleichermaßen handelte es sich für die Vertragspartner um einen monetär-psychologischen Doppel-Deal. Roberts Erzeuger räumten ihr Erfolgshindernis elegant-beruhigend aus dem Weg und wähnten sich guten Gewissens im Hinblick auf die weitere Verwahrung und Sicherstellung der Erziehung ihres Sprosses. Sie hatten schließlich das Geld, fürstlich für diesen Service zu bezahlen.
Bevor wir uns weiter auf die kommenden Tragikomödien einlassen, schauen wir uns die Akteure etwas näher an: Liselotte war zum Zeitpunkt des »Pflegemutter-Deals« verheiratet mit Erich, einem kinderlieben und solide wirkenden Ingenieur. Sie konnte keine Kinder bekommen, da sie im Krieg den Löschstrahl einer Feuerwehr vor den Bauch bekommen hatte und dadurch ihre Gebärmutter nachhaltig geschädigt worden war. Sie war eine Art Amalgam aus bürgerlichem Habitus, fürsorglicher Mütterlichkeit und einer erhaben selbstbezogenen und berechnenden Luderhaftigkeit.
Das war der Zündsatz, der Hubert später entflammen ließ und bis in die Obsession und den Wahnsinn der Hörigkeit trieb. Er ging dieser gestörten und verstörten Frau in die Falle und klebte zeitlebens auf dem Leim ihrer Fantasien, Projekte, Ausreden, Verheißungen, Lügen und ihrer Paranoia und last not least ihrer erotischsexuellen Magie, die sie auf Männer und gerade auch auf RRs Vater über Jahrzehnte auszuüben vermochte. Er war in seinem Inneren wund und zutiefst zerrissen. In einer Art Amok-Dynamik pendelte er zwischen Verlustangst, Eifersucht, einem Gefühl von Minderwertigkeit, unsäglicher sozialer Frustration, einem unersättlichen Freiheitsdrang, unstillbarer Abenteuerlust, Fernweh, Sehnsucht nach Sicherheit und einer gewalttätigen Wut, die über seine Mitmenschen in Anfällen von Tobsucht hereinbrechen und wie eine gefährliche Dynamitmischung blitzartig explodieren konnte.
Kinderlosigkeit war das geronnene Kriegstrauma von Roberts angehender Stiefmutter, und sie war besessen von ihrem Selbstverwirklichungsprojekt, das sie nun nach ihrem Gutdünken gestalten konnte. Zudem muss wohl auch die Perspektive großzügiger Bezahlung ein Faktor gewesen sein. Denn Liselotte hatte es immer schon mit dem Geld, wie wir noch sehen werden. Liselotte war eine gute Besetzung für das kommende Schicksalstheater mit seinen spektakulär bizarren Inszenierungen. Liselotte lebte zusammen mit Erich und ihrer Mutter Friedel, die unser Protagonist Tante nennen sollte. Er machte daraus »Tata«, ein Spitzname, der sich bei allen durchsetzen sollte, sogar auf ihrer Dienststelle, dem städtischen Gesundheitsamt, wo sie als Stenotypistin für die beamteten Medizinalräte tätig war.
Tata sollte für Roberts spätere Entwicklung noch eine wichtige Mentorin werden. Ursprünglich hatte sie an einer Kunstakademie Malerei studieren wollen, was ihr von ihren Eltern versagt worden war. So betätigte sie sich als Freizeitmalerin und nutzte Kunstpostkarten berühmter Maler wie Rembrandt, Van Gogh etc. als Malvorlagen für ihre kleinen Ölbilder. Tatas Mann wollte Medizin studieren und arbeitete in der Uniklinik in Düsseldorf, wo er die Gutachten der Professoren abtippte. Wie Liselotte zu berichten wusste, war ihr Vater zunächst überzeugt vom Nationalsozialismus und wurde Mitglied der SA. Mit der einsetzenden Judenhetze und Verfolgung ging er jedoch nicht konform und war wohl Androhungen von Repressalien gegen seine Familie ausgesetzt. Er hing sich in seinem Büro im Uni-Klinikum auf, als seine Tochter Liselotte 12 Jahre alt war. Sie war fortan sich selber überlassen, da Tata nach einer Trauerphase ihr Dasein als »lustige Witwe« bestritt und, wie Liselotte berichtete, keine Kostverächterin des anderen Geschlechts war. In diesen Sozialisierungsumständen gründen wahrscheinlich die Wurzeln für Liselottes spätere selbstbezogene Verhaltensmuster und paranoiden Fantasien. Ein Studium wurde ihr verwehrt und ihr Wunsch, Kinderärztin zu werden, somit gleichermaßen wie ihrem Vater verstellt, der so gerne auch Arzt hatte werden wollen. Gewaltige Ohnmachtserfahrungen im Krieg, Einsamkeit und Panik in Luftschutzkellern prägten Liselottes Kindheit. Sie wurde mit ihrer Mutter in der Wohnung in der Nähe der Unikliniken in Düsseldorf ausgebombt, sodass Mutter und Tochter vor dem Nichts standen und nur noch um ihr nacktes Leben kämpften. Dort hatten sie, so erzählte es Liselotte, einen Halbjuden im Keller versteckt.
Kurz nach dem Krieg machte Liselotte, die sich zu einer attraktiven jungen Frau gemausert hatte, bei einem der renommiertesten Juweliere der Stadt eine Lehre, zunächst als Goldschmiedin, dann als Verkäuferin. Das war wohl darauf zurückzuführen, dass Liselotte bestens ankam bei den betuchten männlichen Kunden, die ihr den Hof machten, zum Essen einluden und sie ausführten. Für ...