DIE VIERZIG TAGE
DES MUSA DAGH
ERSTES BUCH
Das Nahende
Wie lange noch, o Herr, Du Heiliger und Wahrhaftiger, richtest Du nicht und rächest unser Blut an den Bewohnern der Erde?
(Offenbarung Johannis 6, 10)
~1~
Teskeré
»Wie komme ich hierher?«
Gabriel Bagradian spricht diese einsamen Worte wirklich vor sich hin, ohne es zu wissen. Sie bringen auch nicht eine Frage zum Ausdruck, sondern etwas Unbestimmtes, ein feierliches Erstaunen, das ihn ganz und gar erfüllt. Es mag in der durchglänzten Frühe des Märzsonntags seinen Grund haben, in dem syrischen Frühling, der von den Hängen des Musa Dagh herab die Herden roter Riesenanemonen bis in die ungeordnete Ebene von Antiochia vorwärtstreibt. Überall quillt das holde Blut aus den Weidenflächen und erstickt das zurückhaltende Weiß der großen Narzissen, deren Zeit ebenfalls gekommen ist. Ein unsichtbar goldenes Dröhnen scheint den Berg einzuhüllen. Sind es die ausgeschwärmten Immenvölker aus den Bienenstöcken von Kebussije oder wird in dieser durchsichtigsten und durchhörbarsten Stunde die Brandung des Mittelmeers vernehmlich, die den nackten Rücken des Musa Dagh weit dahinten benagt? Der holprige Weg läuft zwischen verfallenen Mauern aufwärts. Wo sie unvermittelt als unordentliche Steinhaufen enden, verengt er sich zu einem Hirtenpfad. Der Vorberg ist erstiegen. Gabriel Bagradian wendet sich um. Seine große Gestalt in dem Touristenanzug aus flockigem Homespun streckt sich lauschend. Er rückt den Fez ein wenig aus der feuchten Stirn. Seine Augen stehen auseinander. Sie sind etwas heller, aber um nichts kleiner als Armenieraugen im allgemeinen.
Nun sieht Gabriel, woher er kommt: Das Haus leuchtet mit seinen grellen Mauern und dem flachen Dach zwischen den Eukalyptusbäumen des Parks. Auch die Stallungen und das Wirtschaftsgebäude blinken in der sonntäglichen Morgensonne. Obgleich zwischen Bagradian und dem Anwesen schon mehr als eine halbe Wegstunde Entfernung liegt, scheint es immer noch so nahe, als sei es seinem Herrn auf dem Fuße gefolgt. Doch auch die Kirche von Yoghonoluk weiter unten im Tal grüßt ihn deutlich mit ihrer großen Kuppel und dem spitzhütigen Seitentürmchen. Diese massig ernste Kirche und die Villa Bagradian gehören zusammen. Gabriels Großvater, der sagenhafte Stifter und Wohltäter, hat beide vor fünfzig Jahren erbaut. Unter den armenischen Bauern und Handwerkern ist es wohl Sitte, nach den Wanderfahrten des Erwerbs aus der Fremde, ja selbst aus Amerika in die Heimatnester zurückzukehren; die reichgewordenen Großbürger aber halten es anders. Sie setzen ihre Prunkvillen an die Küste von Cannes, in die Gärten von Heliopolis oder zumindest auf die Hänge des Libanon in der Umgebung von Beirût. Von dergleichen Emporkömmlingen unterschied sich der alte Awetis Bagradian beträchtlich. Er, der Begründer jenes bekannten Stambuler Welthauses, das in Paris, London und New York Niederlassungen besaß, residierte, soweit es seine Zeit und seine Geschäfte zuließen, Jahr für Jahr in der Villa oberhalb der Ortschaft Yoghonoluk am Musa Dagh. Doch nicht nur Yoghonoluk, auch die übrigen sechs armenischen Dörfer des Bezirkes von Suedja hatten den reichen Segen seiner königlichen Gegenwart genossen. Wenn man von den Kirchen und Schulbauten, von der Berufung amerikanischer Missionslehrer absieht, so genügt es, auf das Geschenk hinzuweisen, das der Bevölkerung trotz aller Ereignisse bis auf den heutigen Tag im Gedächtnis geblieben ist: jene Schiffsladung von Singer-Nähmaschinen, die Awetis Bagradian nach einem besonders glücklichen Geschäftsjahr an fünfzig bedürftige Familien der Dörfer verteilen ließ.
Gabriel – er wendet den lauschenden Blick noch immer von der Villa nicht ab – hat den Großvater gekannt. Er wurde ja unten in dem Hause geboren und hat so manchen langen Kindheitsmonat dort verbracht. Bis zu seinem zwölften Jahr. Und doch, dieses frühere Leben, das einst das seinige war, berührt ihn unwirklich bis zur Schmerzhaftigkeit. Es gleicht einem vorgeburtlichen Dasein, dessen Erinnerungen mit unwillkommenen Schauern die Seele ritzen. Hat er den Großvater tatsächlich gekannt oder ihn nur in einem Knabenbuch gelesen oder abgebildet gesehen? Ein kleiner Mann mit weißem Spitzbart in einem langen, gelb-schwarz gestreiften Seidenrock. Der goldene Kneifer hängt an einer Kette auf die Brust herab. Mit roten Schuhen geht er durch das Gras des Gartens. Alle Menschen verbeugen sich tief. Zierliche Greisenfinger berühren die Wange des Kindes. War es so, oder ist es nur eine leere Träumerei? Mit dem Großvater ergeht es Gabriel Bagradian ähnlich wie mit dem Musa Dagh. Als er vor einigen Wochen den Kindheitsberg zum erstenmal wiedersah, die dunkelnde Kammlinie gegen den Abendhimmel, da durchflutete ihn eine unbeschreibliche Empfindung, schreckhaft und angenehm zugleich. Ihre Tiefe ließ sich nicht ergrübeln. Er gab es sofort auf. War es der erste Atemzug einer Ahnung? Waren es die dreiundzwanzig Jahre?
Dreiundzwanzig Jahre Europa, Paris! Dreiundzwanzig Jahre der völligen Assimilation! Sie gelten doppelt und dreifach. Sie löschen alles aus. Nach dem Tode des Alten flieht die Familie, vom Lokalpatriotismus des Oberhauptes erlöst, diesen orientalischen Winkel. Der Hauptsitz der Firma bleibt nach wie vor in Stambul. Doch Gabriels Eltern leben mit ihren beiden Söhnen jetzt in Paris. Der Bruder, auch er heißt Awetis, um fünfzehn Jahre älter als Gabriel, verschwindet aber rasch. Als Mitchef des Importhauses kehrt er in die Türkei zurück. Nicht zu Unrecht trägt er den Vornamen des Großvaters. Ihn zieht es nicht nach Europa. Er ist ein einsamkeitssüchtiger Sonderling. Die Villa in Yoghonoluk kommt nach mehrjähriger Verlassenheit durch ihn wieder zu Ehren. Seine einzige Liebhaberei ist die Jagd, und von Yoghonoluk aus unternimmt er seine Weidfahrten ins Taurusgebirge und in den Hauran. Gabriel, der von dem Bruder kaum etwas weiß, geht in Paris aufs Gymnasium und studiert an der Sorbonne. Niemand zwingt ihm den kaufmännischen Beruf auf, zu dem er, eine wunderliche Ausnahme seines Stammes, nicht im geringsten taugt. Er darf als Gelehrter und Schöngeist leben, als Archäologe, Kunsthistoriker, Philosoph, und empfängt im übrigen eine Jahresrente, die ihn zum freien, ja wohlhabenden Mann macht. Sehr jung noch heiratet er Juliette. Diese Ehe bringt eine tiefere Wandlung. Die Französin zieht ihn auf ihre Seite. Nun ist Gabriel Franzose mehr denn je. Armenier ist er nur mehr im akademischen Sinn gewissermaßen. Dennoch vergißt er sich nicht ganz und veröffentlicht einen oder den anderen seiner wissenschaftlichen Aufsätze in armenischen Zeitschriften. Auch bekommt sein Sohn Stephan mit zehn Jahren einen armenischen Studenten zum Hofmeister, damit ihn dieser in der Sprache seiner Väter ausbilde. Juliette hält das anfangs für höchst überflüssig, ja sogar schädlich. Da ihr aber das Wesen des jungen Samuel Awakian angenehm ist, gibt sie nach einigen Rückzugskämpfen ihren Widerstand auf. Die Zwistigkeiten der Gatten wurzeln immer in ein und demselben Gegensatz. Wie sehr sich aber Gabriel auch bemüht, im Fremden aufzugehen, er wird dennoch von Zeit zu Zeit in die Politik seines Volkes hineingezogen. Da er einen guten Namen trägt, suchen ihn etliche der armenischen Führer auf, wenn sie in Paris sind. Man bietet ihm sogar ein Mandat der Daschnakzagan-Partei an. Wenn er auch diese Zumutung mit Schreck von sich weist, so nimmt er doch an dem bekannten Kongreß teil, der im Jahre 1907 die Jungtürken mit der armenischen Nationalpartei vereinigt. Ein neues Reich soll geschaffen werden, in dem die Rassen friedlich und ohne Entehrung nebeneinander leben. Für ein solches Ziel begeistert sich auch der Entfremdete. Die Türken machen in diesen Tagen den Armeniern die schönsten Komplimente und Liebeserklärungen. Gabriel Bagradian nimmt nach seiner Art den Treueschwur ernster als andere. Dies ist der Grund, weshalb er sich bei Ausbruch des Balkankrieges freiwillig zu den Waffen meldet. Er wird an der Reserveoffiziersschule zu Stambul im Eilverfahren ausgebildet und kommt noch zurecht, um als Offizier einer Haubitzbatterie die Schlacht bei Bulaïr mitzukämpfen. Diese einzige große Trennung von den Seinigen währt länger als ein halbes Jahr. Er leidet tief unter ihr. Vielleicht fürchtet er, Juliette könnte ihm entgleiten. Irgend etwas in ihrer Beziehung zu ihm fühlt er gefährdet, obgleich er keinen wirklichen Anlaß zu diesem Gefühl hat. Nach Paris zurückgekehrt, schwört er allen Dingen ab, die nicht allein dem inneren Leben gelten. Er ist ein Denker, ein abstrakter Mensch, ein Mensch an sich. Was gehn ihn die Türken an, was die Armenier? Er denkt daran, die französische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Damit würde er vor allem Juliette glücklich machen. Zuletzt hält ihn immer wieder ein Mißgefühl davon ab. Er ist freiwillig in den Krieg gegangen. Wenn er auch in seinem Vaterland nicht lebt, so kann er es doch nicht widerrufen. Es ist sein Väter-Land. Die Väter haben Ungeheures dort erlitten und es dennoch nicht aufgegeben. Gabriel hat nichts erlitten. Er weiß von Mord und Metzelei nur durch Erzählungen und Bücher. Ist es nicht gleichgültig, wohin ein abstrakter Mensch zuständig ist, denkt er, und bleibt ottomanischer Untertan. Zwei glückliche Jahre in einer hübschen Wohnung der Avenue Kleber. Es sieht so aus, als seien alle Probleme gelöst und die endgültige Lebensform gefunden. Gabriel ist fünfunddreißig alt, Juliette vierunddreißig, Stephan dreizehn. Man hat ein sorgloses Dasein, keinen besonderen Ehrgeiz, geistige Arbeit und einen angenehmen Freundeskreis. Was letzteren anbetrifft, ist Juliette tonangebend. Dies zeigt sich hauptsächlich darin, daß der Verkehr mit Gabriels alten armenischen Bekannten – seine Eltern sind lang verstorben – immer mehr einschrumpft. Juliette setzt gleichsam ihr Blut unnachgiebig durch. Nur die Augen ihres Sohnes kann sie freilich nicht ändern. Gabriel aber scheint von alledem nichts zu merken. Ein Eilbrief Awetis Bagradians bringt den Umschwung des Schicksals. Der ältere Bruder fordert Gabriel auf, nach Stambul zu kommen. Er sei ein schwerkranker Mann und nicht mehr fähig, das Unternehmen zu leiten. Darum habe er seit Wochen schon alle Vorbereitungen getroffen, um die Firma in eine Aktiengesellschaft zu verwandeln. Gabriel möge erscheinen, um seine Interessen wahrzunehmen. Juliette, die auf ihren Weltsinn nicht wenig pocht, erklärt sogleich, sie wolle Gabriel begleiten und während der Verhandlungen unterstützen. Es gehe ja um sehr große Dinge. Er aber sei von harmloser Natur und den armenischen Kniffen der anderen keineswegs gewachsen. Juni 1914. Unheimliche Welt. Gabriel entschließt sich, nicht nur Juliette, sondern auch Stephan und Awakian mit auf die Reise zu nehmen. Das Schuljahr ist ja so gut wie zu Ende. Die Angelegenheit kann sich lange hinausziehen und der Lauf der Welt läßt sich nicht berechnen. In der zweiten Juliwoche kommt die Familie in Konstantinopel an. Awetis Bagradian jedoch hat sie nicht erwarten können. Er ist mit einem italienischen Schiff nach Beirût abgereist. Sein Lungenleiden hat sich in den letzten Tagen mit grausamer Schnelligkeit verschlechtert und er konnte die Luft von Stambul nicht länger ertragen. (Merkwürdig, der Bruder des Europäers Gabriel geht nicht in die Schweiz, sondern nach Syrien, um zu sterben.) Anstatt mit Awetis verhandelt Gabriel nun mit Direktoren, Rechtsanwälten und Notaren. Er muß aber erkennen, daß der unbekannte Bruder für ihn auf die zarteste und umsichtigste Art vorgesorgt hat. Da kommt es ihm das erstemal ganz stark zu Bewußtsein, daß es dieser kranke ältliche Awetis ist, der für ihn arbeitet, dem er sein Wohlergehen verdankt. Welch ein Widersinn, daß Brüder einander so fremd bleiben müssen. Gabriel erschrickt vor dem Hochmut, den er in sich gegen den »Geschäftsmann«, gegen den »Orientalen« nicht immer unterdrückt hat. Jetzt erfaßt ihn der Wunsch, ein Unrecht gutzumachen, ehe es zu spät ist, ja eine leichte Sehnsucht. Die Hitze in Stambul ist wirklich nicht auszuhalten. Nach dem Westen zurückzukehren scheint jetzt nicht ratsam. Lassen wir den Sturm vorübergehen. Hingegen ist schon der Gedanke an eine kleine Seefahrt eine Erquickung. Einer der neuesten Dampfer des Khedival Mail läuft auf dem Wege nach Alexandria Beirût an. Auf den westlichen Hängen des Libanon sind moderne Villen zu mieten, die den unbescheidensten Ansprüchen genügen. Die Kenner wissen, daß keine Landschaft der Erde schöner ist als diese. Gabriel aber hat es gar nicht nötig, mit solchen Überredungskünsten aufzuwarten, denn Juliette ist sogleich einverstanden. In ihr lebt schon seit langer Zeit eine dumpfe Ungeduld. Die Aussicht auf etwas Neues lockt sie an. Während sie auf hoher See sind, prasseln die Kriegserklärungen der Staaten aufeinander. Als sie den Landungsquai von Beirût betreten, haben in Belgien, auf dem Balkan und in Galizien schon die ersten Kämpfe begonnen. An eine Heimkehr nach Frankreich ist nicht mehr zu denken. Sie sitzen fest. Die Zeitungen berichten, daß die Hohe Pforte in den Bund der Mittelmächte treten werde. Paris ist Feindesland geworden. Der tiefere Zweck der Reise entpuppt sich als verfehlt. Awetis Bagradian ist dem jüngeren Bruder zum zweitenmal entronnen. Er hat Beirût vor ein paar Tagen verlassen und die beschwerliche Reise über Aleppo und Antiochia nach Yoghonoluk gewagt. Auch der Libanon genügt ihm nicht für den Tod. Der Musa Dagh muß es sein. Der Brief aber, in dem der Bruder diesen seinen Tod selbst ankündigt, trifft erst im Herbst ein. Die Bagradians haben sich inzwischen in einem hübschen Hause angesiedelt, das nur ein wenig oberhalb der Stadt liegt. Juliette findet das Leben in Beirût erträglich. Es gibt eine Menge Franzosen hier. Auch die verschiedenen Konsuln kommen zu ihr. Sie versteht es wie überall, Leute aufzutreiben. Gabriel ist glücklich darüber, daß sie die Verbannung nicht zu schwer empfindet. Man kann dagegen nichts machen. Sicherer als europäische Städte ist Beirût wenigstens. Gabriel aber muß immerzu an das Haus in Yoghonoluk denken. In seinem Briefe legt es ihm Awetis dringend ans Herz. Fünf Tage nach dem Brief kommt Doktor Altounis Telegramm mit der Todesnachricht. Jetzt denkt Gabriel nicht nur, sondern spricht immerwährend von dem Haus der Kindheit. Als aber Juliette plötzlich den Willen kundgibt, dieses Haus, von dem er seit ewigen Zeiten immer erzählte und das er nun geerbt hat, so schnell wie möglich zu beziehen, schrickt er zurück. Seinen Einwänden begegnet sie mit Eigensinn. Ländliche Einsamkeit? Nichts sei ihr willkommener. Weltverlassenheit, mangelnder Komfort? Sie werde sich alles Nötige selbst schaffen. Gerade diese Aufgabe reize sie besonders. Ihre Eltern hätten ein Landhaus besessen, in dem sie aufgewachsen sei. Wenn sie ein eigenes Haus einrichten, wenn sie darin nach ihrem Ermessen schalten und wirtschaften dürfe, gehe einer ihrer liebsten Träume in Erfüllung, wo und unter welchem Himmelsstrich, das sei gleichgültig. Trotz dieser freudigen Bereitwilligkeit wehrt sich Gabriel noch über die Regenzeit hinaus. Wäre es nicht weit klüger, wenn er alles daransetzte, um seine Familie in die Schweiz zu bringen? Juliette aber bleibt bei ihrem Begehren. Es klingt fast wie eine Herausforderung. Er kann ein sonderbares Unbehagen nicht unterdrücken, das mit sehnsüchtigen Gefühlen vermengt ist. Es ist bereits Dezember geworden, als sich die kleine Familie zu der Expedition in die Heimat des Vaters rüstet. Bis nach Aleppo geht die Bahnreise trotz der Truppenverschiebungen leidlich. In Aleppo mietet man zwei unbeschreibliche Autos. Im Schlamm der Bezirksstraße gelangen sie wie durch ein Wunder Gottes doch bis Antiochia. Dort wartet schon der Verwalter Kristaphor an der Orontesbrücke mit dem Jagdwagen des Hauses und zwei Ochsenkarren für das Gepäck. Keine zwei Stunden mehr bis Yoghonoluk. Sie vergehn recht heiter. Das Ganze war gar nicht so schlimm, meinte Juliette…
Wie komme ich hierher? All die äußere Verquickung der Dinge beantwortet die Frage nur höchst unvollständig. Das feierliche Erstaunen seiner Seele aber weicht nicht. Eine leichte Unruhe schwingt mit. Die uralten Dinge, in dreiundzwanzig Pariser Jahren überwunden, sie müssen wieder eingebürgert werden. Jetzt erst wendet Gabriel den leeren Blick von seinem Haus. Juliette und Stephan schlafen gewiß noch. Auch die Kirchenglocken von Yoghonoluk haben den Sonntag noch nicht eingeläutet. Seine Augen verfolgen das Tal der armenischen Dörfer ein Stück nach Norden. Das Dorf der Seidenraupen, Azir, kann er von seinem Standpunkt aus noch erblicken, Kebussije, die letzte Ortschaft in dieser Richtung, nicht mehr. Azir schläft in einem dunkelgrünen Bett von Maulbeerbäumen. Auf dem kleinen Hügel dort, der sich an den Musa Dagh lehnt, erhebt sich eine Klosterruine. Der heilige Apostel Thomas in Person hat die Einsiedelei begründet. Die Steine des Trümmerfeldes tragen bemerkenswerte Inschriften. Manche darunter stammen aus der Seleuzidenzeit und bedeuten für einen Archäologen seltene Funde. Einst reichte Antiochia, die Königin der damaligen Welt, bis zum Meere. Allenthalben liegen hier die Altertümer auf der nackten Erde zur Schau oder springen dem Schatzgräber beim ersten Spatenstich entgegen. Gabriel hat in diesen Wochen schon eine Menge kostbarer Trophäen in seinem Hause geborgen. Diese Jagd bildet seine Hauptbeschäftigung hier. Dennoch hielt ihn eine Scheu bisher zurück, den Hügel der Thomasruine zu ersteigen. (Große Schlangen, kupferfarben und gekrönt, bewachen sie. Jenen Männern, welche die heiligen Steine zum Hausbau heimschleppten, wuchs die Last auf dem Rücken fest, und die Frevler mußten sie ins Grab mitnehmen.) Wer hat ihm diese Geschichte erzählt? Einst im Zimmer seiner Mutter, das nun Juliettens Zimmer ist, saßen alte Weiber mit sonderbar bemalten Gesichtern. Oder ist auch dies nur eine Einbildung? Ist es möglich: war die Mutter in Yoghonoluk und die Mutter in Paris ein und dieselbe Frau?
Gabriel hat längst den dunklen Laubwald betreten. In den Berghang ist eine steile breite Rinne eingeschnitten, die bis zur Höhe führt. Man nennt sie die Steineichenschlucht. Während Bagradian den Hirtenweg emporsteigt, der sich mühselig durch das dichte Unterholz drängt, weiß er plötzlich: Das Provisorium ist zu Ende. Die Entscheidung muß kommen.
Provisorium? Gabriel Bagradian ist ottomanischer Offizier in der Reserve eines Artillerieregimentes. Die türkischen Armeen stehen an vier Fronten im Kampf auf Leben und Tod. Im Kaukasus gegen die Russen. In der mesopotamischen Wüste gegen Engländer und Inder. Australische Divisionen sind auf der Halbinsel Gallipoli gelandet, um gemeinsam mit den verbündeten Flotten das Tor zum Bosporus einzurennen. Die vierte Armee in Syrien und Palästina bereitet einen neuen Stoß gegen den Suezkanal vor. Übermenschliche Anstrengung ist nötig, um an all diesen Fronten standzuhalten. Enver Pascha, der vergötterte Feldherr, hat bei seinem tollkühnen Feldzug im kaukasischen Winter zwei volle Armeekorps eingebüßt. Überall fehlt es an Offizieren. Das Kriegsmaterial ist unzulänglich. Für Bagradian sind die hoffnungsvollen Tage von 1908 und 1912 vorüber. Ittihad, das jungtürkische »Komitee für Einheit und Fortschritt«, hat sich des armen...