Drittes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Wie deutlich Aimee den Fritz und Adolf noch sah, als sie das erste Mal zu ihnen kamen – als sie bei »Vater« Cecchi »angenommen« werden sollten.
Es war am Morgen, und Aimee und Luise lagen noch im Bett.
Und die Jungen hatten in der Ecke gestanden, mit geneigten Köpfen – sie trugen Leinenhosen, mitten im Winter, und Fritz hatte einen Strohhut. Und sie wurden ausgezogen, und Vater Cecchi befühlte sie und drückte ihre Beine und beklopfte ihren Brustkasten, bis sie weinten, während die alte Frau, die sie hingebracht hatte, nur ganz still, zusammengeschrumpelt, mit mummelndem Munde dastand – nur die schwarzen Blumen auf ihrem Hut zitterten ein wenig.
Sie fragte nichts. Sie sah nur die Jungen an und folgte ihnen mit den Augen – wie sie nackt unter Cecchis Händen exerzieren mußten –
Auch Aimee und Luise sahen vom Bett aus zu.
Vater Cecchi fuhr fort zu befühlen und zu beklopfen; das Leben der Jungen saß gleichsam in ihren angstvollen Augen.
Dann wurden sie »angenommen«.
Die alte Frau sprach kein Wort. Sie rührte die Jungen nicht an und sagte ihnen nicht Lebewohl. Es war, als wenn sie die ganze Zeit, während ihre Hutblumen zitterten, nur etwas suchte – irgend etwas, das sie nicht fand. Und so ging sie auch zur Türe hinaus, langsam, unentschlossen, und machte sie hinter sich zu.
Fritz schrie einmal auf, ein langer Kinderschrei, als würde er gestochen. –
Aber dann gingen sie beide, er und Adolf, in ihre Ecke zurück und setzten sich, das Kinn auf ihre Knie niedergebeugt und die geballten Hände fest gegen den Boden gestemmt, alle beide stumm nieder.
Vater Cecchi jagte sie in die Küche hinaus, Kartoffeln zu schälen. Aimee und Luise wurden ihnen nachgeschickt. Alle vier saßen sie stumm um die Schüssel herum.
Luise fragte:
»Woher kommt ihr?«
Aber die Jungen antworteten nicht. Sie kniffen nur die Lippen zusammen und blickten zu Boden.
Es verging einige Zeit, bis Aimee flüsterte:
»War das eure Mutter?«
Aber sie antworteten noch immer nicht – sondern saßen nur mit schluchzender Brust, als wenn sie innerlich weinten. Und man hörte nur den Laut der Kartoffeln, die in das Wasser hineinplumpsten, nachdem sie geschält waren.
»Ist sie tot?« flüsterte dann Luise.
Aber die Jungen antworteten noch nicht, und die beiden Mädchen sahen nur still von dem einen zum andern, während Aimee plötzlich ganz leise zu weinen begann und dann auch Luise – alle beide saßen sie und weinten.
Am nächsten Tage begannen die Jungen zu »arbeiten«.
Sie lernten den »chinesischen Tanz« und den »Bauerntanz«. Nach Verlauf von drei Wochen traten sie alle vier auf.
Wenn sie tanzen sollten, standen sie paarweise in den Kulissen, Aimee mit Fritz, Luise mit Adolf, mit starren Augen, und benetzten ihre Lippen mit der Zunge vor Angst, indem sie auf die Orchestermusik lauschten.
»Zieh die Jacke herunter«, sagte Aimee, die selbst vor Fieber kaum ruhig stehen konnte, und zog Fritzens Jacke herab, die schief saß.
»Commencez!« rief Cecchi aus der ersten Kulisse. Der Vorhang war aufgegangen, sie sollten hinaus.
Sie sahen nicht die Lampenreihe, und sie sahen nicht die Leute.
Mit erschrecktem Lächeln machten sie ihre einexerzierten Schritte, indem sie den Takt zählten und die Lippen bewegten, die Augen hielten sie starr auf Cecchi gerichtet, der in der ersten Kulisse mit den Füßen den Takt trampelte.
»Nach links!« flüsterte Aimee Fritz zu, der es niemals zu behalten vermochte; sie schwitzte vor Angst für sie beide und mußte für sie beide Gedächtnis haben.
Sie glichen alle zusammen Wachsfiguren, die sich auf einem Leierkasten herumdrehen.
Das Publikum klatschte und rief sie vor. Apfelsinen fielen auf die Bühne herab. Sie hoben sie auf und lächelten zum Dank dafür, obgleich sie sie Cecchi abliefern mußten, der sie nachts zu seinem Kognak mit Wasser aß, wenn er mit dem Agenten Watson Karten spielte.
Vater Cecchi spielte nämlich die ganzen Nächte durch mit dem Agenten daheim in ihrem Logis.
Die Kinder erwachten, wenn sie sich zankten, und sahen mit aufgerissenen Augen von ihren Betten aus zu, bis sie todmüde wieder in Schlaf fielen.
So verging die Zeit.
Die Cecchi-Truppe kam zu einem Zirkus, und alle vier machten das ganze Handwerk durch.
Sie begannen ihre Proben um halb neun. Zähneklappernd kleideten sie sich um und begannen in dem halbdunklen Zirkus zu arbeiten. Luise und Aimee gingen auf der Leine, indem sie mit zwei Fahnen balancierten, während Vater Cecchi, der rittlings auf der Barriere saß, kommandierte.
Dann wurde das Pferd vorgeführt, und Fritz sollte den Jockeysprung ausführen.
Vater Cecchi kommandierte, mit einer langen Peitsche bewaffnet. Fritz sprang und sprang. Es gelang ihm nicht. Er fiel auf die Barriere herab. Er stützte sich auf das Pferd. Die Peitsche sauste herab und traf sein Bein, so daß er lange Striemen erhielt.
Vater Cecchi fuhr fort zu kommandieren. Mit dem Weinen kämpfend, sprang der Junge und sprang.
Er kam wieder nicht hinauf und fiel.
Die alten Wunden an seinem Körper brachen auf und bluteten, so daß das alte Trikot Blutflecke bekam.
Vater Cecchi rief nur immer wieder: Encore – encore!
Atemlos, schluchzend zwischen den tiefen Atemzügen, sprang Fritz mit schmerzverzogenem Gesicht.
Die Peitsche traf ihn, und verzweifelt sagte er:
»Ich kann nicht!« Aber er mußte von neuem hinauf.
Das Pferd bekam doppelte Schläge und flog schnell mit dem schluchzenden Knaben dahin, dessen Glieder vor Schmerz zitterten: »Ich kann nicht!« rief er qualvoll.
Die Artisten sahen stumm vom Parkett und den Logen aus zu.
»Encore!« rief Cecchi. Fritz sprang wieder ab.
Bleich, mit weißen Lippen, in der Ecke einer Loge verborgen, sah Aimee voll Angst und Erbitterung zu.
Aber Vater Cecchi hörte nicht auf. Eine Stunde dauerte es, fünf Viertelstunden. Fritzens Körper war nur eine einzige Wunde. Er fiel wieder und wieder, stampfte vor Schmerz mit den Füßen in den Sand und fiel abermals.
Nein, nun gelang es nicht mehr. Und er wurde mit einem Fluch fortgeschickt.
Aimee lief aus der Loge heraus; stöhnend vor Schmerz, verbarg sich Fritz wie ein Tier hinter einem Haufen Tonnenreifen. Atemlos, mit geballten Händen, stieß er in wilder Wut abgerissene Flüche aus, eine Menge Gassenworte, Schimpfworte des Stalles.
Aimee saß ganz still. Nur ihre weißen Lippen bebten.
Lange saßen sie so hinter dem Haufen Reifen verborgen. Fritzens Kopf sank hinten gegen die Wand, und er schlief in schmerzvoller Ermattung ein, während Aimee mit ihrem weißen Gesicht unbeweglich sitzen blieb, als wachte sie über seinen Schlaf.
Jahre vergingen. Sie waren bereits erwachsen.
Vater Cecchi war tot. Er wurde von dem Huf eines Pferdes totgeschlagen.
Aber sie blieben beisammen. Es ging mit ihnen auf und nieder. Sie waren bei großen Gesellschaften, und sie kamen auch zu ganz kleinen.
Wie deutlich Aimee noch das weißgekalkte und kahle Provinzpantheon sah, in dem sie in jenem Winter arbeiteten. Wie eiskalt es dort war. Sie trugen vor der Vorstellung drei Kohlenbecken hinein, und der ganze Zirkus füllte sich mit dem Rauch, so daß man kaum zu atmen vermochte.
Draußen im Stall standen die Artisten, blaugefroren, und hielten ihre nackten Arme über ein Kohlenbecken hin, und die Clowns sprangen in ihren Schirtingschuhen auf dem bloßen Boden herum, nur um die Füße warm zu erhalten.
Die Cecchitruppe arbeitete in allen Fächern. Sie tanzten, Fritz war Aimees Partner. Aimee war Parforcereiterin, Fritz schnallte als Stallmeister ihren Sattelgurt fester.
Die Truppe plagte sich; sie füllte fast das halbe Programm aus.
Aber es ging nicht. Jede Woche verschwand ein Pferd aus den Ständen, das verkauft wurde, um für die andern Futter zu schaffen. – Die Artisten, die Geld hatten, reisten fort, die zu bleiben gezwungen waren, hungerten – bis endlich alles zu Ende war und sie schließen mußten.
Pferde, Kostüme, alles wurde ihnen fortgenommen. Das Gericht war gekommen und hatte reinen Tisch gemacht.
Es war an dem Abend des Tages, da dies geschehen war.
Die wenigen Artisten, die noch übrig waren, saßen stumm und betrübt in dem dunklen Raum. Sie konnten nicht fort. Sie wußten auch nicht, wohin sie gehen sollten.
Im Stall auf einem Futterkasten saß der Direktor vor den leeren Ständen – und weinte, indem er fortwährend immer wieder dieselben Flüche in allen Sprachen murmelte.
Sonst war es ganz still, ganz tot.
Nur die Hunde – die hatte das Gericht vergessen – lagen traurig mit wachsamen Au...