TEIL I:
DIE NEUE UNÜBERSICHTLICHKEIT
Europas böses Erwachen: Die Wiederkehr von Geografie und Geschichte als Triebkräfte der Politik
“In a sense, the past is still with us.”
ROBERT COOPER
„Ja, es umgibt uns eine neue Welt.“
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
„Es mag Jahre dauern, bis politische Missgriffe offenkundig werden und ihre letzten Konsequenzen tragen, dann aber legt die Geschichte Rechnung vor für jeden Fehler, und sie nimmt es dabei sehr genau.“
OTTO VON BISMARCK
Im Vorfeld des Jubiläumsgipfels zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge12 richtete EU-Präsident Donald Tusk Ende Januar 2017 ein Schreiben an die 27 Staats- und Regierungschefs, in dem er warnte, dass die Europäische Union aktuell „vor den gefährlichsten Herausforderungen seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge“ stehe. Konkret nannte er drei Bedrohungen, die es zuvor nicht gegeben habe, zumindest nicht in diesem Ausmaß:
„Die erste Bedrohung ist externer Art und steht im Zusammenhang mit der neuen geopolitischen Lage auf der Welt und in der Nachbarschaft Europas (von China über Russland, den Nahen Osten und Afrika bis zur neuen Präsidentschaft in den USA) […].
Die zweite Bedrohung ist interner Art und steht im Zusammenhang mit der Zunahme der europafeindlichen, nationalistischen, zunehmend fremdenfeindlichen Stimmung in der EU selbst […] Die Dritte Bedrohung ist die Geisteshaltung der pro-europäischen Eliten [und] das schwindende Vertrauen in die politische Integration […].“13
Ungewöhnlich war dabei, dass Tusk neben der aggressiven Politik Russlands und Chinas sowie der Bedrohung durch radikale Islamisten auch die neue amerikanische Regierung unter Donald Trump zu den größten außenpolitischen Risiken zählte und damit Europas bisher wichtigsten Verbündeten, die USA, als Unsicherheitsfaktor definierte. Die Weltordnung, die sich seit Ende des Kalten Krieges etabliert hatte, scheint Geschichte zu sein.
Dabei hatte es so gut begonnen, im Jahr 1989, dem Annus Mirabilis, als der Eiserne Vorhang und die Berliner Mauer fielen und sich jene bipolare Welt auflöste, die seit den späten 1940er-Jahren Europa in zwei Hälften geteilt und das Denken beider Seiten anhand der schematischen Kategorien „Gut“ und „Böse“ geprägt hatte. Der Westen – so die (zumindest dieserorts) weitverbreitete Meinung – konnte die Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Modell marxistisch-leninistisch-stalinistischer Prägung sowohl aufgrund wirtschaftlicher und militärischer, vor allem aber auch moralischer Überlegenheit für sich entscheiden. Entsprechend groß war daher auch die Euphorie, und so manchem schien mit dem Sieg von Demokratie und freier Marktwirtschaft sogar das „Ende der Geschichte“14 gekommen. Übersehen wurde vielfach, dass die osteuropäischen Völker es als ihren Sieg betrachteten, waren es doch sie gewesen, die in Leipzig und anderswo auf die Straße gegangen waren und die kommunistischen Regime gestürzt hatten. Die Inanspruchnahme des Sieges durch den Westen hat deshalb durchaus Verärgerung ausgelöst. Einig war man sich jedoch in der Hoffnung, dass mit der Implosion der Sowjetunion die Kriegsgefahr – zumindest in Europa – gebannt sei, und selbst der nur kurze Zeit später, im Sommer 1991 ausbrechende Zerfallskrieg Jugoslawiens konnte diese Erwartung nicht zerstören.
Rund 25 Jahre später ist diese Euphorie Ernüchterung und herber Enttäuschung gewichen. Wovor die Europäer, aber auch die Amerikaner, so lange ihre Augen verschlossen hatten, traf sie spätestens 2013 mit dem Aufflammen der Ukraine-Krise und der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim-Halbinsel durch Russland im Februar 2014 mit umso größerer Wucht: die Erkenntnis nämlich, dass unter Rückgriff auf historische Begründungen die Geopolitik und mit ihr auch der Krieg als Mittel zum Zweck nach Europa zurückgekehrt sind. Zudem mussten sie erkennen, dass die Annahme, die Entwicklung nach 1989 müsste zwangsläufig zur globalen Durchsetzung von Liberalismus, Demokratie und Marktwirtschaft führen, nicht nur naiv, sondern auch überheblich war. Inzwischen gibt es selbst im Westen Bewegungen, die diese politischen und wirtschaftlichen Ordnungsmodelle und die ihnen zugrundeliegenden Werte ablehnen.
Doch warum ließen sich die Hoffnungen von 1989 nicht realisieren? Was war schiefgelaufen in der Zeit zwischen 11/9, dem Datum des Mauerfalls, dann 9/11, dem Terrorangriff in New York und Washington, und schließlich 9/15, dem Tag der Lehmann-Pleite und dem Beginn der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts? Warum steht Europa etwas mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges vor einer Situation, die in letzter Konsequenz auch das Scheitern der Europäischen Union bedeuten könnte? Es lohnt sich der Blick zurück in die Geschichte
1979 – vom Annus Gravis …
Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, die politische Realität zu entziffern:15 Man kann seine Aufmerksamkeit der kurzen Zeitlinie der Tagespolitik bzw. den je aktuellen politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen widmen. Oder man beobachtet die mittlere Zeitlinie, die zumindest in Jahren, oftmals auch Jahrzehnten gemessen wird, um die darin erkennbaren geopolitischen Verschiebungen und wirtschaftlichen Konjunkturen zu entdecken. Und schließlich ist es möglich, die lange Zeitlinie soziokultureller Entwicklungen zu analysieren, die longue durée, wie der französische Historiker Fernand Braudel sie nannte.16 Dabei geht es um die über lange Zeiträume geschaffenen Identitäten und Bindungen, die die grundlegenden Bedingungen für die anderen Handlungsebenen bilden, die daher auch immer wieder politisch wirksam werden und oftmals darüber mitentscheiden, wer sich in Auseinandersetzungen mit wem auf welcher Seite wiederfindet. Eine Analyse der Gegenwart kann also niemals ohne den historischen Rückblick auskommen, der auch die soziokulturellen Hintergründe umfassen muss. Auf eben diese langen Entwicklungsstränge werden wir im Folgenden immer wieder zurückkommen.
Tatsächlich haben die Entwicklungen, die unsere Welt, im Besonderen aber Europa heute prägen, nicht erst 1989, sondern schon Jahre zuvor eingesetzt17. Von besonderer Bedeutung war dabei die Einigung auf die Schlussakte von Helsinki, die im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) ausgearbeitet worden war und im Juni 1975 von den USA, der Sowjetunion, sowie sämtlichen Mitgliedern der NATO und des Warschauer Paktes unterzeichnet wurde. In diesem Dokument spiegelte sich neben der alten auch eine neue Form der Geopolitik wider: Einerseits verpflichtete die Schlussakte die Unterzeichner zur „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“ und zur Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen, andererseits aber gab es auch die Klauseln über die „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit“ und das Ziel, „freiere Bewegung und Kontakte auf individueller und kollektiver (…) Grundlage (…) zu erleichtern“18, was letztlich als „Recht auf Ausreise“ interpretiert werden konnte. Dieses Tauschgeschäft, das dem Ostblock die Anerkennung der Nachkriegsordnung im Gegenzug für die Beachtung der Menschenrechte brachte, wurde anfangs als großer Sieg für die Sowjetunion betrachtet, da hiermit ihre territorialen Zugewinne nach 1945 bestätigt wurden. Doch tatsächlich war es die Fortsetzung des Kalten Krieges „mit anderen, subtileren Mitteln“.19 Indem er „allgemein die Ansteckung mit der Freiheit verbreitete“, gelang es dem Westen, im Ostblock jenes „Trojanische Pferd“ einzuschleusen, welches die Staaten des Warschauer Paktes langsam von innen her aushöhlte. Es kam in der Folge zur Gründung mehrerer „Helsinki-Gruppen“ und Bürgerrechtsbewegungen in diversen osteuropäischen Staaten, zum Beispiel der Charta 77 in der ČSSR und der Solidarność in Polen. Im Ergebnis musste die sowjetische Führung eineinhalb Jahrzehnte später erkennen, „dass das Instrument, mit dem sie die territorialen Regelungen hatte garantieren wollen, das gesamte Sowjetsystem aus den Angeln hob.“20
Daneben gab es eine Reihe weiterer Ereignisse, die allesamt im Jahr 1979 stattfanden und damit genau ein Jahrzehnt vor den Umbrüchen von 1989, und die hinsichtlich ihrer Bedeutung nicht sofort in voller Tragweite erkennbar waren, da sie ihre Wirkung erst über einen längeren Zeitraum, dann aber umso gravierender entfalteten:21
•Im Januar 1979 verließ der iranische Schah Reza Pahlewi nach Unruhen und Protesten sein Land und ging – nach 37 Jahren auf dem Pfauenthron – ins Exil. Nur zwei Wochen später, am 1. Februar, kehrte Ruhollah Musawi Khomeini, als Ajatollah politischer und religiöser Anführer der Opposition, in den Iran zurück, um seine bisher aus dem Pariser Exil geführte „Islamische Revolution“ zu vollenden.
Diese war eine späte Antwort auf den Putsch, durch welchen 1953 der damalige iranische Staatspräsident Mohammad Mussadegh wegen der Verstaatlichung der iranischen Erdölindustrie durch eine britisch-amerikanische Aktion („Operation Ajax“) gestürzt worden war – und damit auch die einzige demokratische Regierung, die es im Mittleren Osten gab. Als Ergebnis dieses Putsches besitzen die USA seit damals „als Hüter der Demokratie keine Glaubwürdigkeit im Iran – und (auch) weil sie seitdem nie Interesse an der Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft im Iran gezeigt haben.“22
Zwei Monate nach der Islamischen Revolution rief Khomeini die „Islamische Republik Iran“ aus und verlangte die Auslieferung des Ex-Schahs durch die Vereinigten Staaten. Die US-Regierung kam dieser Forderung nicht nach, und so stürmten am 4. November 1979 geschätzte 500 Iraner die US-Botschaft in Teheran und nahmen rund hundert US-Amerikaner als Geiseln. Dies begründete nicht nur die bis heute anhaltende Feindschaft zwischen den USA und dem Iran, sondern brachte erstmals auch den „islamischen Fundamentalismus“ ins Bewusstsein einer breiten Weltöffentlichkeit.
•Auch im östlichen Nachbarland des Iran, in Afghanistan, war es in den 1970er-Jahren zu einer religiös begründeten politischen Gegenbewegung gegen die Machthaber gekommen. Hier waren es Sunniten, die als Mudschahedin23 gegen die säkulare, kommunistisch orientierte Regierung unter Präsident Tariki kämpften. Um die kommunistische Regierung der „Demokratischen Republik Afghanistan“ zu unterstützen, sah sich die sowjetische Regierung in den Weihnachtsfeiertagen 1979 veranlasst, dort einzumarschieren.
Doch die sowjetische Intervention in Afghanistan blieb nicht nur erfolglos, vielmehr beschleunigte der schmachvolle Rückzug der Sowjets im Jahr 1989 auch den Untergang der Sowjetunion selbst. Darüber hinaus aber wurde in dieser Zeit und durch diesen Konflikt, in dem sich die säkularen Kräfte Afghanistans und die Sowjets auf der einen Seite und die Mudschahedin mit US-amerikanischer Unterstützung auf der anderen Seite gegenüberstanden, auch die Grundlage für den Aufstieg radikaler sunnitischer Gruppen, allen voran Al-Quaidas gelegt.
•Das seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts sich entwickelnde Streben nach religiöser Erneuerung war jedoch nicht allein auf ...