DER TERRORIST
Gesichter des Krieges von heute
In einem klimatisierten Container irgendwo in der Wüste Nevadas, auf irgendeiner Luftwaffenbasis, sitzt ein junger Mann in der Dunkelheit und starrt auf einen Bildschirm. Er steuert eine Vielzahl von hochkomplexen Ortungssystemen und Kameras, die sich an Bord einer Drohne befinden, die irgendwo über dem Irak, dem Jemen, Afghanistan, Pakistan oder Somalia kreist. Seine Kameras lenken eine der Hellfire-Raketen, die die Drohne trägt, in ihr meist ahnungsloses Ziel. Seine Kameras erlauben ihm auch, alles in Echtzeit mitzuverfolgen, nur ist er mehr als zehntausend Kilometer entfernt. Die Missionen, die er – virtuell – fliegt, sind Teil einer geheimen Operation. Die Regierung seines Landes tötet gezielt Menschen in aller Welt. Oft die Richtigen, manchmal aber auch die Falschen. Nach Dienstschluss fährt er nach Hause, in ein ganz normales Leben. Irgendwann hält er es nicht mehr aus. Er ist Brandon Bryant – und auch er ist ein Gesicht des Krieges von heute.
Wir sind am Ende der Geschichte angelangt. So zumindest wollten es einige politische Analysten sehen, als das Ende des Gegensatzes zwischen westlichen, kapitalistischen Demokratien und dem realen Sozialismus im Machtbereich der Sowjetunion nach über vierzig Jahren Kaltem Krieg gekommen war. Von verschiedenen Seiten hat das so betitelte Buch seinem Autor Kritik, ja Hohn, eingebracht, doch meist, weil eine eher oberflächliche Lesart seiner Argumentation gewählt wurde. Eine bescheidene Deutung von Francis Fukuyama These vom Endsieg der Demokratie ist aber durchaus bedenkenswert: Demokratische Formen sind mittlerweile der verbindliche Standard aller politischen Systeme geworden, selbst von solchen, die mit der westlichen, demokratischen Tradition wenig bis gar nichts gemeinsam haben: Islamisten erheben den Anspruch, dass ihr Gottesstaat die wahre Demokratie sei, Autokraten in aller Welt bemänteln sich mit demokratischer Legitimation oder behaupten sogar die „besseren“ Demokraten zu sein, weil sie dem sorgfältig durch Propaganda zuvor hergestellten Willen des Pöbels das Wort reden, die Rechte – gerade in Europa – schreit ständig nach mehr direkter Demokratie, um mit der Zustimmung der verunsicherten Massen Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Menschenrechte einschränken zu können, und noch der letzte Wutbürger auf der Straße ist davon überzeugt, dass die Welt besser würde, wenn nur auch seine Stimme endlich gehört würde und wirft den gewählten Repräsentanten des Staats vor, undemokratisch zu handeln, wenn sie auftragsgemäß ihre Funktionen erfüllen, ohne ihn jedes Mal um unmittelbare Zustimmung zu bitten, wenn sie einen Bahnhof umbauen oder eine Umfahrung anlegen wollen. Die demokratische Empfindsamkeit ist manchenorts sogar so ausgeprägt, dass unterlegene Kandidaten in demokratischen Wahlen es als höchst undemokratisch empfinden, unter der Herrschaft der Mehrheit leben zu müssen. Demokratie steht nicht länger für die – immer nur als zeitweilig begriffene – Herrschaft des Willens der Mehrheit, sondern zunehmend für die Weigerung jeder Minderheit, diese zu ertragen. „Demokratie“, wie auch immer sie verstanden werden soll, darf heute in keinem legitimen politischen Programm mehr fehlen.
Der zweite Teil der Argumentation Fukuyamas, der heftige Kritik auf sich zog, bezog sich auf die spätestens seit Kant in der politischen Philosophie gängigen Theorie des demokratischen Friedens, die postuliert, dass demokratisch verfasste Staaten eine geringere Neigung haben, Kriege zu führen, weil ihre Regierungen dem Volk gegenüber die Kriegskosten in Menschenleben und Gütern verantworten müssen.
Dazu kommt, dass durch die fortschreitende Pazifizierung des Lebens in modernen, westlichen Demokratien die Bereitschaft, solche Kosten zu tragen, ja nur medial Zeugen von Kriegsereignissen sein zu müssen, rapide gesunken zu sein scheint. Auf Basis dieser These und der erwarteten und auch eingetretenen Verbreitung demokratischer Normen postulierten hoffnungsfrohe Denker also in den frühen 1990ern eine friedliche Zukunft.
Heute, ein Vierteljahrhundert später, würden ihnen die meisten oberflächlichen Beobachter widersprechen, noch mehr vielleicht sogar diejenigen, die sich für gut über die politische Weltlage informiert halten.
Die 24-Stunden-Angst-Maschinerie der Medien liefert uns doch andauernd Bilder vom Krieg: Zu dieser Stunde kämpfen und sterben Menschen in Aleppo und Mossul.
Im schlimmsten Fall entschließen sich Hunderttausende von ihnen, der Kriegshölle in Richtung Europa zu entfliehen. Unter diesen, fürchten manche, sind dann möglicherweise auch wieder ein paar Attentäter, die auf diese Weise ihren Heiligen Krieg in die Friedenszone tragen wollen, wenn sie nicht längst schon dort sitzen. Einen Klick weiter fliegen US-Drohnen im Dauerkrieg gegen eben diesen Terror Angriffe in Afghanistan, wo multinationale Gotteskrieger und lokale Kriegsherren mit wechselnden Interventionsstreitkräften von außerhalb seit über dreißig Jahren um ein ausgeblutetes Land kämpfen. Allerorten hocken eingesessene Terrorgruppen, von Nigeria über Palästina und Kurdistan bis zu den Philippinen, und machen gelegentlich mit einem Anschlag auf sich aufmerksam. Afrika, so scheint es, wenn man sich denn die Mühe macht, sich für den verlorenen Kontinent zu interessieren, ist ein einziger Sumpf aus Rebellen, Kriegsherren, Söldnerbanden und ethnischer Gewalt, aus dem uns die toten Augen von Kindersoldaten anklagend anstarren. In Lateinamerika legt die Guerilla der FARC nach mehr als einem halben Jahrhundert des Kampfes zwar offenbar die Waffen nieder, dafür tobt im Norden Mexikos effektiv Krieg zwischen untereinander verfeindeten Drogenkartellen und der Regierung, die sich der Loyalität von Teilen ihres Apparats scheinbar auch nicht sicher sein kann. Russland marschiert in der Krim und der Ostukraine ein – oder auch nicht, je nachdem ob man sich „Putinversteher“ nennen lassen will oder nicht. Die NATO verlegt als Antwort konventionelle Streitkräfte nach Osteuropa und ins Baltikum und weltweit wird aufgerüstet: China hat seine jährlichen Militärausgaben seit dem Jahr 2000 fast verdreifacht und Deutschland, Frankreich und Großbritannien, die drei wichtigsten europäischen NATO-Staaten, geben gemeinsam 2015 ca. 145 Milliarden Dollar für Rüstung aus; Russland nebenbei bemerkt 66,4, was sich gegenüber den fast 600 Milliarden der USA in beiden Fällen fast bescheiden ausnimmt. Und, wir hatten das doch alle fast schon vergessen, die USA, Russland, China und eine Handvoll anderer Staaten sitzen noch immer auf dem apokalyptischen Arsenal des Kalten Kriegs. Es ist vielleicht ganz gut, dass uns ein hoffnungsvoller – mittlerweile gewählter – Bewerber um das amerikanische Präsidentenamt jüngst daran erinnert hat, indem er sich wunderte, warum es nicht eingesetzt wird.
Trümmer einer Illusion von Sicherheit: Kaum ein Ereignis erschütterte das Selbstbewusstsein der USA und des Westens so sehr, wie der World Trade Center-Anschlag vom 11. September 2001. Mehr können Terroranschläge auch nicht bewirken, und das nur, wenn man es zulässt.
Aber halt! Was in dieser Aufzählung fehlt, und das seit 60 Jahren, sind offene Kriege zwischen Staaten. Ginge man nach der traditionellen, völkerrechtlichen Definition vor, befänden wir uns im kantschen ewigen Frieden. In dieser Hinsicht hat Fukuyama recht behalten: Ein großer offener Krieg zwischen Staaten, namentlich solchen, die nennenswerte Wirtschafts- und Militärmächte sind, schon gar nicht zwischen Staaten, die entwickelte Demokratien sind, hat tatsächlich nicht stattgefunden, nicht während des Kalten Kriegs und sicherlich nicht seitdem. Krieg führten autoritäre Diktaturen, junge instabile Demokratien im Rahmen des Nationbuilding und revolutionäre Regime, die ihre Ideologie exportieren wollen. Die meisten bewaffneten Auseinandersetzungen seit dem Zweiten Weltkrieg waren Bürgerkriege, Aufstände oder Guerillakriege bzw. Terrorkampagnen ethnischer Separatisten oder politischer Revolutionäre.
Demokratische Industriestaaten gehen tatsächlich nicht mehr aufeinander los. Kriegerische Gewalt ereignet sich an den Rändern der globalisierten Welt und innerhalb von hohlen Gebilden, die zwar der völkerrechtlichen Definition nach Staaten sind, ihre staatlichen Funktionen aber nicht erfüllen, deren erste und oberste die Wahrung des Gewaltmonopols nach innen und außen ist. Am Ende der Geschichte werden wir so noch einmal deutlich daran erinnert, dass Sinn und Ursprung des Staats in der Kontrolle über individuelle vor allem aber kollektive Gewalt zu suchen sind. Staatlichkeit, vor allem die Qualität von Staatlichkeit, scheint mit der Frage, ob man das Glück hat, in Frieden zu leben, sehr viel zu tun zu haben.
Verstaatlichung
Dass traditionelle Kriege zwischen souveränen Völkerrechtssubjekten bzw. anerkannten Insurgenten nur mehr einen kleinen Teil der gewaltsamen Konflikte der Gegenwart darstellen, hatte sich schon im Laufe der 1990er herumgesprochen, vor allem vor dem Hintergrund der grausamen Kriege, die die Auflösung Jugoslawiens begleiteten. Dementsprechend wurde die Definition von Krieg seitdem laufend erweitert und mittlerweile zählen entsprechende Analysen „bewaffnete Konflikte zwischen staatlichen oder nicht-staatlichen Gruppen“. Doch auch – oder gerade – unter diesem Gesichtspunkt, stellt sich die Gegenwart als unerwartet friedliche Zeit heraus, vor allem in der längeren Rückschau:
Seit Anfang des 19. Jahrhunderts nimmt die Zahl der aktiven Kriege pro Jahr kontinuierlich ab, seit Ende des Zweiten Weltkriegs die der Kriegstoten pro Jahr und seit den 1950ern sinkt auch die Wahrscheinlichkeit zwischenstaatlicher Konflikte.
Noch dramatischer ist der Rückgang an nichtstaatlicher Gewalt. Die Staatsverdichtung in Europa und die Ausdehnung der Imperien des 19. Jahrhunderts trug maßgeblich dazu bei, dass lokale Gewalthaber unterhalb des staatlichen Levels und endemische Formen der alltäglichen Gewalt wie Blutrache, Banditentum, Fehde, Raubzüge und Sklavenhandel ausgemerzt wurden. Dehnt man, wie dies jüngere Untersuchungen gemacht haben, den Betrachtungszeitraum maximal aus, wird das Bild noch deutlicher: Mit der Konsolidierung der Modernen Staaten – und der Ausdehnung ihrer Macht über den gesamten Erdkreis im Laufe des 19. Jahrhunderts – ging überall eine drastische Reduktion der Gewalt zwischen Gruppen und Individuen einher. Mit der gleichzeitigen Konzentration der militärischen Gewalt in der Hand von wenigen staatlichen Akteuren nahm automatisch die Häufigkeit ab, da schlicht weniger Mitspieler auf dem Feld waren. Der Trend lässt sich – mit konjunkturellen Schwankungen – bis an die Anfänge der Sesshaftigkeit zurückverfolgen. In der Welt autonomer Dörfer, wie wir sie im ersten Kapitel bei den Yanomami und Papuas kennengelernt haben, lebten die Menschen in einem endemischen Kriegszustand. In den Häuptlingtümern des heroischen Zeitalters herrschte zwar im Einflussbereich des jeweiligen Häuptlings Ruhe – wenn nicht gerade Individuen oder Sippen in eine Blutfehde verwickelt waren oder dem allzeit beliebten Viehdiebstahl und Frauenraub frönten –, doch war der hauptsächliche Zweck dieser sicheren Heimatbasis, den Helden und ihren Kriegergefolgschaften als Ausgangspunkt für Raubzüge zu dienen. Mit der – oft gewaltsamen – Konsolidierung der Häuptlingtümer zu antiken Staaten konzentrierte sich die Macht zwar in der Hand von Königen oder Aristokratien, doch waren diese, aufgrund der inneren Dynamik ihrer politischen Systeme, zwangsläufig imperialistisch, weil sie entweder ständig Beute und neue Ländereien brauchten, um die Eliten ruhig zu halten, oder weil sie in einen ständigen Kleinkrieg mit den Barbaren jenseits ihrer Grenzen verwickelt waren. Stabile Friedensphasen gab es nur dann, wenn Imperien alle nennenswerten Konkurrenten ausschalten konnten oder sich auf Zeit ein Gleichgewicht zwischen einer Handvoll vergleichbarer Reiche entwickelte. Diese endeten aber sofort, wenn die innere Stabilität des Imperiums durch wirtschaftliche, demographische oder andere Faktoren erschüttert wurde, oder wenn auch nur ein Stein aus dem internationalen System herausbrach. Regelmäßig verfielen Imperien in längere Phasen innerer Spaltung, wenn Mitglieder der Elite es lohnender fanden, ihr eigenes Süppchen zu kochen, als mit der Zentrale zu kooperieren. Zwischen vollständigem Zerfall und maximaler Zentralisierung bewegten sich vormoderne Gesellschaften auf einem Spektrum, das sich oft irgendwo in einem Abschnitt einpendelte, den man als „feudalen Mittelfeld“ beschreiben könnte, mit einem nominellen Zentrum, dem aber immer eine Handvoll teilautonomer Mitbewerber gegenüberstanden, die ebenfalls militärische Machtmittel einsetzen konnten. Erst mit dem Modernen Staat kam ein neues Modell ins Spiel.
Die Konjunktur innerer und äußerer Gewalt kann man grob so beschreiben: Extrem hoch am Beginn, mit einer leichten Abnahme innerer Gewalt, dafür weiter reichender äußerer Gewalt in den Häuptlingtümern, gefolgt von innerer Pazifizierung und äußerer, imperialistischer Kriegsführung unter den antiken Staaten. Von da an schwanken die Gemeinwesen der Antike und des Mittelalters zwischen innerer Befriedung und geringer äußerer Gewalt in den Stärkephasen der antiken Reiche – wie etwa der Pax Romana oder der langen Friedenszeit unter den Tang in China – und Desintegration – wie etwa während der Völkerwanderung. Früher oder später pendelten sie sich wieder in der Mitte des Spektrums im „feudalen Mittelfeld“ ein, das durch häufige Kriege nach außen und regelmäßige, sanktionierte Gewalt der legitimen Machthaber untereinander im Inneren geprägt war. Erfolgreich zentralisierte Reiche konnten die innere Gewalt oft stark zurückdrängen, doch stand die Legitimität der Gewaltausübung durch die subsidiären Eliten nie in Frage, sodass es nur eine Schwächephase der Krone bedurfte, um sie wieder eskalieren zu lassen. In Summe zeigt sich ein deutlicher Abwärtstrend in der Gewalt zwischen autonomen Einheiten seit der Sesshaftwerdung, der mit einer radikalen Abnahme der Zahl der legitim gewaltberechtigten Einheiten einhergeht. Heute gibt es ca. 200 von der UNO anerkannte Staaten. 1648, beim Abschluss des Westfälischen Friedens, der das moderne Staatensystem begründete, bestand allein das Heilige Römische Reich aus über dreihundert souveränen Einheiten.
Pazifizierung
Auch im Inneren sind unsere Gesellschaften friedlicher geworden: Die Wahrscheinlichkeit, in England einem Mord zum Opfer zu fallen, war zu Shakespeares Zeiten fünf Mal so hoch wie heute, und das gefährlichste Pflaster in der Geschichte Großbritanniens war Oxford im Jahr 1340 mit 110 Morden je 100.000 Einwohnern, was in etwa der Mordrate von Caracas und San Pedro Sula entspricht, den beiden gefährlichsten Städten der Gegenwart! Auch mittelalterliche Akademiker – wie alle Männer in vormodernen Gesellschaften – neigten offenbar dazu, ihre Differenzen mit der Waffe auszutragen, was auch leicht ging, trug doch in vormodernen Gesellschaften jeder Mann selbstverständlich immer eine Waffe, wenn er sich in die Öffentlichkeit begab. Eine Maßnahme, die die Gewalt im Inneren demnach stark reduzierte, war das Verschwinden des Degens als modisches Accessoire und Statussymbol im Laufe des 18. Jahrhunderts. Der größte Rückgang von Gewaltdelikten ereignete sich parallel mit der Industrialisierung am Beginn des 19. Jahrhunderts, als in den meisten Staaten effektive Polizeiapparate geschaffen wurde, was die Notwendigkeit für die eigene Sicherheit zu sorgen rasch obsolet machte.
Überhaupt ist unsere gegenwärtige Gesellschaft so intolerant gegenüber individueller Gewalt bzw. der Gewalt von kleinen Gruppen wie noch keine in der Geschichte. Das beginnt mit der gesetzlichen Unterbindung häuslicher Gewalt, geht über Einschränkungen des Waffenbesitzes und endet in der mangelnden Neigung junger Männer – traditionell das Element der Gesellschaft, das die höchste Gewaltbereitschaft aufweist – physische Gewalt auszuüben oder zu erleiden, was sich unter anderem an der stetig großen Nachfrage nach Alternativen zum Dienst an der Waffe zeigt. Dem steht in keiner Weise entgegen, dass Gewalt, und immer extremere Gewalt ein omnipräsentes Thema in den Medien ist, die gerade von dieser Zielgruppe konsumiert werden.
Gewalt wird in eskapistischen Medien deswegen immer präsenter, weil sie in der Alltagswelt immer weniger gelebt wird.
So wie immer die aufregenden Dinge, die der Alltag nicht gewährt – große Gefühle, enthemmte Sexualität, Exotik, Abenteuer, Bewährung gegen natürliche Gefahren und menschliche Feinde – Themen dieses Genres waren, ohne dass die Konsumenten sich wirklich wünschten, sie im realen Leben zu erfahren. Als die Menschen anfingen, in einer industrialisierten, urbanen Umwelt zu leben, lasen sie sich in die ungezähmte Natur der Abenteuerromane, ohne natürlich wirklich an die Frontier oder in die malariaverseuchten Dschungel aufbrechen zu wollen. Nun, in der gewaltfreien Welt der globalisierten Moderne, loggen sie sich in den ewigen Kampf von „World of Warcraft“ oder „Counterstrike“ ein, ohne jemals selbst die Hand gegen einen Mitmenschen erheben zu wollen. Gewaltexzesse, wie sie durch die extrem seltenen Taten von Einzeltätern dann die Gemüter erregen, sind gerade ein Indikator dafür, dass individuelle physische Gewalt so unerhört geworden ist, dass nur mehr geistig abnorme Individuen zur ihr Zuflucht nehmen.
Wie weit haben wir uns innerhalb von nur wenigen Generationen von einer Öffentlichkeit entfernt, in der Schlägereien zu einem zünftigen Kirchtag gehörten, Jungs, die in einer Rangelei auf dem Schulhof nicht „ihren Mann stehen“ konnten, zuhause noch ein Tracht Prügel bekamen, um sie abzuhärten, Kinder auf offener Straße, selbst von Fremden, wegen einer frechen Bemerkung geohrfeigt wurden und das hausväterliche Züchtigungsrecht – gegenüber der Ehefrau – im Gesetz festgeschrieben war? Die Idee, eine Meinungsverschiedenheit „vor der Türe“ auszutragen, die eigene Ehre oder die einer Frau mit den Fäusten oder gar in einem Duell mit der Waffe zu verteidigen oder sich mit den Nachbarn spontan zusammenzurotten und einen Störenfried mit Gewalt zu beseitigen, erscheinen uns unzivilisiert, wenn auch noch irgendwie aufregend romantisch, weswegen die Helden unserer modernen Mythen auch oft diese archaischen Praktiken an unserer Stelle ausleben dürfen. Wir haben noch Phantomschmerzen an den Stellen, an denen uns die individuelle Gewaltbereitschaft amputiert wurde.
Dieser „Prozess der Zivilisation“ wurde schon von Norbert Elias beschrieben, der betonte, dass gerade die westliche Moderne in einem außergewöhnlich hohen Maß Mechanismen entwickelt hat, die die individuelle Selbst- und vor allem Affektkontrolle fördern, was sehr wesentlich...