Der Unwohlfahrtsstaat
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Der Unwohlfahrtsstaat

Hat unser System noch Zukunft?

  1. 176 Seiten
  2. German
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Der Unwohlfahrtsstaat

Hat unser System noch Zukunft?

Über dieses Buch

Der österreichische Wohlfahrtsstaat kostet immer mehr, aber seine Leistungen nehmen seit Jahren kontinuierlich ab. In den kommenden 20 Jahren steht unser System vor einer nahezu unlösbaren Herausforderung: Der Staat steht unter starkem Druck, seine Ausgaben zu senken, gleichzeitig erreichen mit der Babyboom-Generation Hunderttausende Menschen mehr als im Schnitt vergangener Jahrzehnte das Pensionsalter - kombiniert mit wachsender Lebenserwartung. Gleichzeitig sinkt durch geburtenschwache Jahrgänge die Zahl der Erwerbsfähigen, und selbst für diese sind die Aussichten auf Jobs durch die rasante Veränderung der Arbeitswelt und angesichts schwachen Wirtschaftswachstums eher düster. Die digitale Revolution macht viel mehr Arbeitsplätze überflüssig, als sie neue schafft. Massen­haft prekäre Arbeitsverhältnisse statt Fulltime-Jobs reduzieren die Beitragsleistungen für den Sozialstaat und damit gleichzeitig die Pensionen der jetzt Aktiven. Altersarmut wird, vor allem für Frauen, zur realen Bedrohung.Die vorwiegend auf den nächsten Wahltermin fixierte Politik verdrängt die Probleme der kommenden zwei dramatischen Jahrzehnte für Millionen direkt betroffene oder bedrohte Bürger. Durch "Schönreden statt Probleme lösen" droht uns ein Un-Wohlfahrtsstaat.Dabei kann aber noch viel getan werden für den Erhalt eines einigermaßen leistungsfähigen Wohlfahrtsstaates: Wenn man nur will.

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Information

1LIEB, ABER IMMER TEURER

Frösche merken es nicht, wenn das Wasser langsam erhitzt wird, in dem sie schwimmen. Die Österreicher wollen es in ihrer großen Mehrheit nicht wahrhaben, dass es mit ihrem Wohlfahrtsstaat bergab geht, der ihnen vergleichsweise zu den meisten anderen Menschen auf der Erde ein sicheres Leben im kleinen Wohlstand garantiert.
Auf einer zehnstufigen Skala zwischen „überhaupt nicht zufrieden“ und „vollkommen zufrieden“ stufen in einer Erhebung der Statistik Austria aus dem Jahr 2014 („Wie geht’s Österreich“) unsere Landsleute ihre Lebenszufriedenheit mit rekordverdächtigen 7,8 im Schnitt ein. Der Wohlfahrtsstaat österreichischer Prägung hat an dieser kuscheligen Selbsteinschätzung zweifellos einen ganz großen Anteil. Unser über Jahrzehnte steigender Wohlstand bis zu einem Platz unter den reichsten Ländern der Erde wäre ohne das breit ausgebaute und gefächerte Sozialsystem nie erreichbar gewesen.
Über sieben Jahrzehnte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde ein staatliches Netz geknüpft, das über den engeren Begriff eines Sozialstaates inzwischen weit hinausreicht. Die Sozialversicherungen sichern die Beitragszahler und ihre Familien mit Pensionen und Leistungen bei Krankheit, nach Unfällen oder in der Arbeitslosigkeit ab. Die sozialen Leistungen des Staates gehen darüber hinaus. Er regelt per Gesetz die Verhältnisse in der Arbeitswelt, fördert Familien, finanziert das Gesundheitswesen, bekämpft über Transferleistungen die Armut und bezahlt das Bildungssystem. In der langen Ära des Kanzlers Bruno Kreisky kamen in den 70er-Jahren zu diesen klassischen Leistungen starke Elemente aus dem Modell des skandinavischen Wohlfahrtsstaates wie Geburtenbeihilfe oder die Gratis-Schulbücher und die Schulfreifahrten. Bis in die 90er-Jahre, etwa mit der Einführung des Pflegegeldes, wurde der Wohlfahrtsstaat mit seinen Leistungen immer breiter.
Es stimmt daher schon, was der SPÖ-Vorsitzende Werner Faymann zum 70-jährigen Jubiläum seiner Partei im April 2015 stolz verkündete: „Österreich bietet Sozialleistungen, wie dies nur ganz wenige Staaten auf der Welt können.“ Nicht ausgesprochen wurde die andere Seite der Medaille: „Die Österreicher zahlen so hohe Steuern und Abgaben, wie dies nur in wenigen Staaten auf der Welt üblich ist.“
VATER STAAT VERTEILT 88 MILLIARDEN IM JAHR
Der Wohlfahrtsstaat ist uns nachhaltig lieb, aber er wird halt immer teurer. Die Ausgaben für Soziales stiegen seit dem Jahr 2000 im Jahresschnitt mit 3,8 Prozent doppelt so rasch wie die gesamte Wirtschaftsleistung. Die Sozialquote, also der Anteil der Ausgaben für Soziales am gesamten Bruttoinlandsprodukt (BIP), stieg auf 30 Prozent.
Die gesamten Transferzahlungen für Soziales und Gesundheit sind seit 2000 von rund 35 Prozent der Staatsausgaben auf mehr als 45 Prozent im Jahr 2015 gestiegen. Fast 34 Milliarden Euro hat der Staat an Steuern und Abgaben kassiert, um sie dann wieder zu verteilen.
Noch beeindruckender sind die Vergleichszahlen für den Gesamtstaat, also neben dem Bund jene der Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen. Rund 160 Milliarden hat das Unternehmen Österreich im Jahr 2013 ausgegeben. Durch die öffentlichen Hände geht damit mehr als die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes. Mit fast 55 Prozent fließt der größte Teil dieser öffentlichen Ausgaben als Transferzahlungen an private Haushalte. Teils als Geldleistung, zum anderen Teil als soziale Sachleistungen von Gesundheitsversorgung über Kindergärten bis zu Gratis-Schulbüchern. Insgesamt sind das staatliche Sozialleistungen in Höhe von fast 88 Milliarden Euro, ergibt pro Kopf der 8,5 Millionen Österreicher 10.350 Euro pro Jahr.
Die gute Nachricht ist, dass damit ein hohes Maß an sozialem Ausgleich und eine sehr erfolgreiche Bekämpfung von Armut erreicht werden. Ohne Transfers wären 44 Prozent der Österreicher unter der Schwelle der Einkommensarmut, die zum Beispiel für eine Einzelperson bei knapp 1.100, für einen Paarhaushalt bei 1.600 oder für eine Alleinerzieherin mit zwei Kindern bei 1.700 Euro liegt. Nach der großen Bescherung der staatlichen Umverteilung sind vergleichsweise moderate 12 Prozent unter dieser Schwelle.
Die schlechte Nachricht ist, dass fast 40 Prozent der Einnahmen aller Haushalte (im unteren Drittel sogar über 80 Prozent) aus solchen staatlichen Transfers kommen, im Schnitt der OECD-Staaten macht diese Rate dagegen nur 22 Prozent aus. Damit ist Österreich absoluter Spitzenreiter in der Abhängigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger von „Vater Staat“.
Inwieweit dieses Übermaß an staatlicher Fürsorge vernünftig und zielgerecht ausgegeben wird, lässt sich mangels einer detaillierten Übersicht über alle Leistungen von Bund, Ländern und Gemeinden nicht präzise prüfen. Vom Rechnungshof immer wieder aufgezeigte Zwei- und Mehrgleisigkeiten bei diversen Förderungen deuten jedenfalls auf einen ziemlich hohen Anteil unsinniger und unsinnig teurer Fehlleitungen der Transferleistungen hin.
So beschrieben beispielsweise die Rechnungskontrollore nach Untersuchung der Familienleistungen von Bund und den Ländern Kärnten, Oberösterreich und Salzburg im Jahr 2011 die herrschenden Zu- oder besser wohl Missstände: „Insgesamt 117 eigenständige Familienleistungen befanden sich im Leistungsspektrum der vier Gebietskörperschaften. Im Bund waren sieben Ressorts für den Vollzug der Familienleistungen zuständig, in den Ländern jeweils mehrere Abteilungen der Ämter der Landesregierung. Eine gesamthafte Abstimmung zwischen den Gebietskörperschaften erfolgte nicht. Auch eine genaue Übersicht, welche Leistungen in welcher Höhe eine Familie insgesamt bezog, gab es nicht. Die Folge waren strukturelle Parallelitäten und Überlappungen von Leistungen: Allein im Bund knüpften zehn verschiedene Leistungen an den Lebenssachverhalt ‚Schwangerschaft/Geburt‘, in Kärnten weitere vier, in Salzburg weitere zwei.“
Auch ohne präzise Untersuchungsergebnisse kann man unterstellen, dass die gesamtstaatliche Großzügigkeit in breiten Schichten der Bevölkerung nicht wirklich zu Eigeninitiative und Eigenverantwortung anregt.
Und die ganze schlechte Nachricht betrifft jene rund zwei Millionen Steuerzahler, die mehr in den Transfertopf hineinzahlen, als sie an Leistungen daraus kassieren. Jeder dieser Nettozahler finanziert damit gleich drei Nettoempfänger mit. Was für die Parteien und viele ihrer politischen Entscheidungen besonders interessant ist: Weniger als ein Drittel der Wahlberechtigten sind Nettozahler. Wen wundert es, wenn sich die großen Parteien in ihrer Sozialpolitik mehr an den Interessen der Mehrheit der Transferempfänger orientieren?
BIS ZUM 25. JULI ARBEITEN WIR FÜR DEN STAAT
Weil wir schon bei den von Politikern so gern zitierten internationalen Rankings sind. Der Brüsseler Thinktank „New Direction“ errechnet jährlich für alle Staaten einen sogenannten „Steuerzahlertag“. Also jenen Tag im Jahr, bis zu dem ein durchschnittlicher Verdiener sein gesamtes Einkommen inklusive Lohnnebenkosten für Lohnsteuer, Abgaben und Mehrwertsteuer abliefert.
In Österreich machte das 2014 rund 56 Prozent Belastung des jährlichen Gesamteinkommens aus. Das ergibt einen Steuerzahlertag 25. Juli, ab dem das Einkommen endlich den geplagten Steuerzahlern gehört. Die Franzosen sind noch ein paar Tage später dran, die Belgier zahlen gar noch zwei Wochen länger. Unter den 28 EU-Staaten ergibt das für Österreich demnach einen traurigen 3. Platz. Vergleichbare Staaten wie Deutschland haben 14 Tage, notorische Hochsteuerländer wie Schweden, die Niederlande oder Finnland haben mehr als einen Monat früher ihre Steuerzahlertage.
Internationaler Spitzenreiter mit 88 Milliarden Euro im Transfertopf, das sollte wohl reichen für einen feinen Wohlfahrtsstaat, möchte man meinen. Theoretisch ja. Aber ebenso theoretisch könnte der Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern auch noch mehr abknöpfen. Die rekordverdächtige Abgabenquote von knapp 44 Prozent des BIP liegt zwar sehr deutlich über den Durchschnittswerten der EU-Partner (40 %), aber immer noch sehr deutlich hinter den Franzosen (47,8 %), Belgiern (47,4 %) oder Dänen (46,9 %). Selbst diese hohe Abgabenquote würde aber nicht ausreichen, die Kostensteigerungen im Wohlfahrtsstaat Österreich zukünftig nachhaltig abzudecken.
In den guten wirtschaftlichen Jahren der frühen 70er ließen sich die sozialen Segnungen ja noch relativ leicht finanzieren. Als mit den globalen Ölkrisen 1973 und dann 1979/80 die lange boomende Nachkriegswirtschaft in die Rezession verfiel, brachen in logischer Folge die Staatseinahmen ein, während die Ausgaben für die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und für die staatliche Wirtschaftsbelebung stark stiegen.
DER TEUERSTE WAHLSLO GAN DER GESCHICHTE
Der sozialistische Bundeskanzler Bruno Kreisky, persönlich geprägt vom Massenelend und dem daraus erwachsenen Untergang europäischer Demokratien in den 30er-Jahren, kreierte in einer Mischung aus politischer Überzeugung und schlauer Wahltaktik den berühmten Slogan „Ein paar Milliarden mehr Schulden bereiten mir weniger schlaflose Nächte, als mir ein paar Hunderttausend Arbeitslose bereiten würden“ und gewann damit 1975 und 1979 bei den Nationalratswahlen die absolute Mehrheit.
Einer der erfolgreichsten, aber auch einer der folgenschwersten und teuersten Wahlslogans der Geschichte. Kreisky und sein Finanzminister Hannes Androsch machten tatsächlich Milliarden zusätzliche Schulden und folgten damit dem ersten Teil des Rezepts des britischen Ökonomen John Maynard Keynes, wonach der Staat in Krisenzeiten auch mittels hoher Verschuldung und Investitionen für die ausbleibende Nachfrage sorgen müsse. Den zweiten Teil der keynesianischen Kur, dass nämlich im folgenden Wirtschaftsaufschwung der Staat seine Investitionen zur Konjunkturbelebung und vor allem seine Schulden wieder zurückfahren muss, wollte Kreisky im Gegensatz zu seinem ökonomisch ungleich versierteren Finanzminister Androsch nicht wahrhaben. Diese Meinungsverschiedenheit und zusätzlich die völlig konträre Einstellung der beiden Regierungs- und Partei-Spitzenmänner zur Hartwährungspolitik, bei der Androsch nachhaltig recht behalten sollte, waren die sachpolitischen Wurzeln für die später hasserfüllte persönliche Auseinandersetzung des einst höchst erfolgreichen Duos und den finalen Sturz des früheren „Kronprinzen“ Androsch aus Regierung und Politik. Damals wurden auch die Weichen für das spätere rasante Wachstum der Staatsverschuldung gestellt.
VOM LIED DER ARBEIT ZUM SCHLAGER DER FRÜHPENSION
Kaum weniger nachhaltigen Schaden richtete eine zweite politische Reaktion der Kreisky-Regierung auf die Wirtschaftskrisen dieser Jahre an. Um einen wirtschaftlich unvermeidbaren starken Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern, startete man in der damals noch bedeutenden Verstaatlichten Industrie und dann auch in den privaten Großunternehmen Programme zur Frühpensionierung Zehntausender Arbeiter und Angestellter. Was als vorübergehende Maßnahme geplant war, wurde sehr bald zu einem gängigen und allseits beliebten Mittel der Beschäftigungspolitik. Die Politik ersparte sich imageschädigend hohe Arbeitslosenraten, die Unternehmen wurden ältere und teurere Arbeitnehmer los, und die mit respektablen Pensionen versorgten Aussteiger aus dem Arbeitsleben empfanden das als reine Vergünstigung, um die sie von immer mehr aktiv fronenden Kolleginnen und Kollegen beneidet wurden.
Lag das durchschnittliche Pensionsantrittsalter 1970 noch bei 62 Jahren und bei Alterspensionen gar bei 64 Jahren, wurde die Frühpension rasch zum allseits angestrebten Ziel. „Die Arbeit hoch!“ lautet der Refrain der sozialdemokratischen Parteihymne „Lied der Arbeit“, die man mit abnehmender Textsicherheit der Genossinnen und Genossen noch am 1. Mai auf dem Wiener Rathausplatz oder auf roten Parteitagen hören kann. Aus dem ehrwürdigen Lied der Arbeit ist für die meisten längst der heimliche Schlager der Frühpension geworden. Der möglichst frühe Wechsel aus dem Arbeitsleben in die Frühpension wurde jedenfalls ab den 80er-Jahren zum Lebensmodell für die große Mehrheit der Arbeitnehmer. Begünstigt durch eine damals noch großzügige Pensionsberechnung, gefördert von sozialpartnerschaftlichem Zusammenspiel von Unternehmensführung und Betriebsräten, geduldet oder auch selbst praktiziert vom Staat und seinen Unternehmen als einfachstes Mittel gegen die Arbeitslosigkeit und für die Beschäftigung des üppigen Nachwuchses der Babyboom-Jahrgänge. Gleichzeitig wurde der Wert der Arbeit gesellschaftlich schleichend verringert. Über viele Jahre sang der populärste Radiokanal Ö3 das Hohelied der Freizeitgesellschaft. Der erste Arbeitstag am Montag wurde permanent negativ kommentiert, ab Mittwoch zählten die Moderatoren die Tage und Stunden bis zum endlich arbeitsfreien Wochenende herunter.
War vor 50 Jahren die Arbeitslosigkeit noch eher eine Schande, wurde der gelegentliche Absprung in das engmaschige Sozialnetz und die möglichst lange Ruhephase darin später für viel zu viele Arbeitsfähige zur schlaumeierischen Geschicklichkeitsübung. Das letzte Arbeitsjahr vor dem Abtauchen in die Frühpension verbringen noch heute Tausende in der freiwilligen Arbeitslosigkeit. Man hat ja schließlich viele Jahre seine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt. Eine notwendige Sachdebatte über den verbreiteten Missbrauch von Sozialleistungen scheiterte regelmäßig an den tiefen Gräben, in die Kritiker und Verteidiger des Sozialsystems auch verbal hüpften. „Sozialschmarotzer“ generalisierten die einen, was die anderen als das verantwortungslose Schüren von Sozialneid und den Versuch, den Sozialstaat prinzipiell zu vernadern, abblockten. In Wahrheit sind die Probleme bekannt. Und da wäre es längst an der Zeit, die zarten Ansätze zur Bekämpfung von Missbräuchen zu verstärken, schon aus Fairness denen gegenüber, die das System finanzieren und es nicht ausnutzen.
WOHLFAHRTSSTAAT AUF PUMP
Unbestreitbares Faktum und zunehmendes Problem wurde über die Jahre, dass das großzügige System Wohlfahrtsstaat rasant immer mehr Geld kostete. Und dass der seit Jahrzehnten defizitäre Staat die steigenden Sozialausgaben nur über neue Schulden finanzieren konnte. Von Mitte der 80er-Jahre bis 2000 wuchsen nicht zuletzt durch die Kosten des Wohlfahrtsstaates die Schulden des Bundes von 30 Prozent des BIP auf mehr als das Doppelte mit 66 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung. In konkreten Zahlen bedeutete das eine Steigerung von 50 auf 135 Milliarden Euro. Für diese steigenden Schulden musste der Staat in diesen Jahren auch noch ein Mehrfaches an Zinsen zahlen als in der jetzigen Niedrigzins-Phase.
Dass man die steigenden Kosten für den Wohlfahrtsstaat einbremsen muss, war schon in den 90er-Jahren jedem vernünftigen Politiker klar. Wie man das aber umsetzt, wurde in der damals wirklich noch großen SPÖ-ÖVPKoalition zur zentralen, auch wahlentscheidenden Frage. Der frischgebackene ÖVP-Vizekanzler Wolfgang Schüssel drängte 1995 auf deutliche Einschränkungen, auch über eine Pensionsreform, und ließ im Streit darüber die Koalition platzen. Kanzler Franz Vranitzky reagierte in einem für ihn eher untypischen Anfall von Populismus per Brief an alle Pensionistenhaushalte, in dem er die ÖVP beschuldigte, sie wolle bestehende Pensionen kürzen und das Pensionsantrittsalter überfallsartig erhöhen. Das sicherte dem Briefschreiber zwar seine Mehrheit bei den Nationalratswahlen und enttäuschte alle Hoffnungen seines widerspenstigen Koalitionspartners Schüssel. Aber die objektiv bestehenden Probleme blieben ungelöst. Das Mantra von den sicheren Pensionen gehört spätestens seit damals zum politischen Repertoire der Sozialdemokratie.
Erst als Schüssel von Gnaden des zu Recht umstrittenen Rechtspopulisten Jörg Haider Kanzler einer ÖVP-FPÖ-Koalition wurde, konnte er eine von Opposition und Gewerkschaften wild bekämpfte Pensionsreform umsetzen.
DAS MANTRA VON DER SICHEREN PENSION
Hier will ich exemplarisch beschreiben, wie im teuersten und größten Bereich des Wohlfahrtsstaates die Leistungen über die Jahre schleichend abgebaut wurden und weiter beschränkt werden. Denken Sie dabei immer an die Frösche im Topf. Und vergessen Sie alle politischen Beschwörungen von den sicheren Pensionen.
Meine Generation zahlte über Jahrzehnte in die Pensionskasse ein und konnte noch vor 20 Jahren mit einer Pension in Höhe von 80 Prozent des Letztgehaltes bis zur Höchstbeitragsgrundlage für die Sozialabgaben rechnen. Nach dieser Regelung hätte ich, über viele Jahre Höchstbeitrags-Zahler, bei meinem Pensionsantritt 2013 also 80 Prozent der Höchstbeitragsgrundlage von rund 4.500 Euro als Pension bekommen sollen. Das wären 3.400 Euro brutto, und netto 2.300 im Monat oder 33.800 im Jahr. Mein völlig korrekter Pensionsbescheid sprach mir allerdings „nur“ ich weiß, das ist für viele immer noch relativ viel 2.800 Euro brutto zu. Ergibt pro Monat netto 1.985, pro Jahr knapp 28.900 Euro. Ein gutes Dutzend Änderungen im Pensionsrecht hat trotz ständig steigender Sozialabgaben meine Pension um fast 5.000 Euro pro Jahr reduziert. Hochgerechnet auf eine durchschnittliche Lebenserwartung macht das in Summe netto an die 100.000 Euro Verlust für mein Lebenseinkommen aus.
Nur keine Schadenfreude: In unterschiedlicher Höhe je nach aktivem Einkommen und geleisteten Sozialabgaben trifft das selbstverständlich fast jeden, der in den letzten Jahren in Pension gegangen ist oder bald gehen wird. Statt die teuren Frühpensionen durch eine gewiss nicht sehr populäre deutliche Erhöhung des Pensionsantrittsalters zu erhöhen, drehten die Sozialpolitiker lieber an vielen kleineren und weniger spektakulären Schrauben mit schleichend einsetzender Wirkung. Aus der üblichen Berechnungsbasis des letzten Aktiv-Gehalts wurden schrittweise die besten 15 Jahre und zu meinem Pensionsantritt die besten 27. Dieser Durchrechnungszeitraum steigt in den kommenden Jahren auf 40. Statt 2 Prozent pro Jahr Anrechnung für die Pension wurden per Reform 1,75 Prozent, ergibt nach 40 Jahren also nur noch 70 Prozent.
PENSIONISTEN VERLIEREN JEDES JAHR KAUFKRAFT
Ebenso schleichend wurden die jährlichen Pensionserhöhungen reduziert. Zur Erhaltung des Lebensstandards im Ruhestand, so die traditionelle Zielvorgabe, wurden früher die Pensionen nach dem Durchschnitt der Lohnund Gehaltssteigerungen der aktiven Erwerbstätigen angepasst. In Deutschland ist das übrigens auch heute noch üblich. Inzwischen dürfen die Pensionisten nur noch eine Erhöhung im Ausmaß der Inflationsrate erwarten. Und als kleine Bosheit zum Einstieg ins Pensionistenleben fällt die erste jährliche Erhöhung zum Jahresbeginn überhaupt aus. In meinem Fall bedeutete das wegen meines Pensionsantritts per 1. Juli gleich einmal 18 Monate ohne Inflationsabgeltung, besondere Pechvögel können auf 23 Monate kommen.
Dieser Verlust an realer Kaufkraft zum Start ist aber nur der Einstieg in einen sanften Sinkflug des Lebensstandards in den weiteren Pensionsjahren. Die Erhöhung der Bruttopension nach dem allgemeinen Preisindex statt nach dem einige Zehntelprozent höheren Pensionistenindex wird mindestens um 5 Prozent Sozialabgaben gekürzt. Ab 1.070 Euro monatlicher Pension ist auch noch Lohnsteuer fällig. Ganz konkret: Ein durchschnittlicher ASVG-Pensionist bekam auf seine Pension von 1.200 Euro mit 1.1.2015 eine Erhöhung von 1,7 Prozent. Damit wäre der Kaufkraftverlust seiner Pension durch die Inflation abgegolten. Netto stieg seine Jahres-Pension nach Steuern und Sozialabgaben aber nicht um 1,7, sondern nur um 1,2 Prozent...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. PROLOG
  5. 1 LIEB, ABER IMMER TEURER
  6. 2 ARBEITSLOS IN DER FALLE
  7. 3 DIE DIGITALE REVOLUTION FRISST JOBS
  8. 4 DIE BABYBOOMER KOMMEN INS PENSIONSALTER
  9. 5 PROBLEME, DIE MAN VERDRÄNGT, KANN MAN NICHT LÖSEN
  10. 6 „NICHT GENÜGEND“ FÜR DIE SCHULEN
  11. 7 AN SCHRÄUBCHEN DREHEN REICHT NICHT
  12. 8 DAS GESUNDHEITSSYSTEM STECKT IN DER KRISE
  13. 9 DER WOHLFAHRTSSTAAT BRAUCHT EINE VISION
  14. 10 WELCHE GESELLSCHAFT WOLLEN WIR?
  15. Impressum