VI Orte, Räume und Coups in ausgewählten Märchentexten Wilhelm Hauffs
„Der Zwerg Nase“ schildert wie „Die Geschichte vom kleinen Muck“ Erfahrungen eines Außenseiters in der Familie, in der Öffentlichkeit und im direkten Umfeld eines absolutistischen Herrschers. „Die Errettung Fatmes“ trägt Züge einer verworrenen Abenteuergeschichte und „Der Affe als Mensch“ karikiert kleinstädtischen Provinzialismus. Allen vier Texten gemeinsam ist ihre erzählerische Vielfalt und ihre unübersehbare Kritik an Willkür, Vorurteilen, Verdinglichung des Menschen und Machtmissbrauch.
Auf der Grundlage des Hauffschen Orts-Konzeptes, das exemplarisch in „Der Zwerg Nase“ untersucht wird, soll mit den weiteren Textanalysen zu „Die Errettung Fatmes“, „Die Geschichte vom kleinen Muck“ und „Der Affe als Mensch“ die Bedeutung des Reisens, des Reiseweges und der Listen herausgestellt werden.
VI.1 Der Scheik von Allessandria und seine Sklaven: „Der Zwerg Nase“
„Der Zwerg Nase“, eines der bekanntesten Märchen Hauffs, verknüpft diverse Märchenelemente wie Feen und Zaubereien mit subtiler Gesellschafts- und Herrschaftskritik. Die Erzählung enthält Elemente des Volks- und Zaubermärchens321: So werden mit Jakob und Mimi zweimal Menschen in Tiere verwandelt und wieder zurückverwandelt. Die Verwandlung als Straf- und Schutzmotiv findet sich sowohl in den Grimmschen Märchen als auch im Märchenzyklus „1001 Nacht“.322 Weiterhin tauchen mit der Fee Kräuterweis, zwei Zauberern und den Zaubergegenständen Suppe und Kraut „Niesmitlust“ (S. 137) übernatürliche Kräfte auf. In der dreifachen Abweisung Jakobs durch seine Mutter323 erscheint die Symbolzahl 3. Gleichwohl spielen die genannten Märchenelemente eine nur nebengeordnete Rolle; die Fee wird nach der Verwandlung Jakobs nicht mehr erwähnt, die Zauberer greifen in das laufende Geschehen in keiner Weise ein. An „die Stelle der Bosheit und Güte der Zauberfiguren treten [verstärkt] Bosheit und Güte irdischer Menschen.“324 Um das Verhalten der irdischen Menschen an spezifisch irdischen Orten zu untersuchen, leitet „Der Zwerg Nase“ die Analysen dieser Studie ein, denn an diesem Text lässt sich beispielhaft das erzählerisch gestaltete Spektrum strategisch gesicherter Orte und der in ihnen wirksamen Mechanismen aufzeigen. In diesem Schritt wird untersucht, mit welchen Machtkonstellationen und Strategien Jakob an den einzelnen konfrontiert wird. Der Inhalt der Erzählung lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Jakob, schöner Sohn einer Marktfrau und eines Schusters, wächst in ärmlichen Verhältnissen auf und hilft seiner Mutter regelmäßig am Marktstand. Als eine hässliche, verwachsene alte Frau das Gemüse der Mutter penetrant untersucht und es abschließend als mittelmäßige Ware bezeichnet, beschimpft der zwölfjährige Jakob die impertinente Kundin. Da diese dennoch etwas kauft, weist die Mutter ihren Sohn an, der alten Frau den Einkaufskorb nach Hause zu tragen. Dort angekommen, kocht die Alte, die sich bald als böse Fee Kräuterweis entpuppt, dem Jungen eine seltsame Suppe, nach deren Verzehr er in einen verzauberten Trancezustand fällt, in dem er unbewusst die nächsten sieben Jahre als Traum erlebt. In diesen sieben Jahren muss er für die Frau arbeiten, lernt aber, meisterhaft zu kochen. Nach den sieben Jahren verlässt er das Haus der Fee zunächst in dem Glauben, alles nur geträumt zu haben. Alsbald aber muss er die erschütternde Wahrheit erkennen: Die Fee hat ihn in einen hässlichen Zwerg mit langer Nase und krummem Buckel verwandelt. Die Menschen treiben ihren Spott mit ihm und selbst seine Eltern verkennen und verjagen ihn. Völlig mittellos und sozial desintegriert, bewirbt er sich als Koch beim Herzog, der ihn nach einer Probe auch anstellt. Einige Jahre geht es Jakob als profiliertem Hofkoch gut, bis er eines Tages die Pastete nicht zubereiten kann, die ein fürstlicher Gast gewünscht hat. Daraufhin droht ihm der launische Herzog die Todesstrafe an. Mit Hilfe einer ebenfalls verzauberten Gans findet Jakob das für die Zubereitung der Pastete entscheidende Kraut, das zudem seinen Zauberbann bricht und ihm seine Gestalt zurückgibt, sodass er unerkannt das Schloss des Herzogs verlassen und zu seinen Eltern zurückkehren kann.
1. Ort: die Familie
Noch vor Jakobs Aufenthalt im Haus der Fee präsentiert der Text die Familie als einen Ort, an dem Armut und Abhängigkeit herrschen. Von einer kleinbürgerlich-biedermeierlichen Idylle325 fehlt am Anfang des Textes jede Spur. Die Familie kann nur durch harte Arbeit, die auch von der Mutter und dem zwölfjährigen Sohn geleistet werden muss, überleben. Während der Vater als Schuster eher kargen Lohn verdient, verkaufen Mutter und Sohn Gemüse auf dem Markt. Durch diese ökonomische Erwerbsstruktur ist die Familie hochgradig abhängig von den Wünschen des Marktes und von dem Eindruck der Waren auf mögliche Kunden. Genau dieses Abhängigkeitsverhältnis treibt Jakob auch dazu, die alte Fee als „ein unverschämtes, altes Weib“ (S. 115) zu attackieren:
[E]rst fährst du mit deinen garstigen braunen Fingern in die schönen Kräuter hinein und drückst sie zusammen, dann hältst du sie an deine lange Nase, dass sie niemand mehr kaufen mag, wer zugesehen, und jetzt schimpfst du noch unsere Ware schlechtes Zeug, und doch kauft selbst der Koch des Herzogs alles bei uns! (S. 115)
Arbeit und Erwerbszwang vor dem Hintergrund ‚verdorbenen Handels’326 kennzeichnen den Ort, an dem Jakob seine Kindheit verbringt. Die unfreiwillige Verwandlung durch die Fee offenbart weitere Härten des Ortes der Familie. Noch bevor Jakob seine körperliche Deformation entdeckt, begibt er sich ahnungslos zu seiner Mutter auf den Markt, die ihn nach der langen Zeit und wegen seiner verhexten Gestalt nicht wiedererkennt, ihn als „häßliche Mißgeburt“ (S. 121), als „häßlichen Zwerg“ (S. 122) beschimpft und ihn zu guter Letzt auch noch der Aggression befreundeter Marktfrauen aussetzt, weil er, wie Jahre zuvor die Fee, „gewiß alle Käufer“ (S. 122) vertreiben würde. Auch sein Vater, an den er sich völlig hilflos und irritiert wendet, weist ihn ab und macht sich über ihn lustig:
Aber das muß ich Euch sagen: hätte ich diese schreckliche Nase, ein Futteral ließ ich mir darüber machen von rosenfarbigem Glanzleder. Schaut, da habe ich ein schönes Stückchen zur Hand; freilich würde man eine Elle wenigstens dazu brauchen. Aber wie gut wäret Ihr verwahrt, kleiner Herr! [...] Ihr habt nicht gerade eine Gestalt empfangen, die Euch eitel machen könnte, und Ihr habt nicht Ursache, alle Stunden in den Spiegel zu gucken. Gewöhnt es Euch ab, es ist besonders bei Euch eine lächerliche Gewohnheit. (S. 124)
Der Vater erkennt in dem Zwerg nicht seinen seit sieben Jahren verschollenen Sohn, sondern nur einen möglichen Kunden, dem er zudem noch existenzielle Persönlichkeitsrechte abspricht. Bezeichnenderweise strengt sich nur Jakob an, Kontakt zu seiner Familie herzustellen. Zuerst spricht er seine Mutter auf dem Markt an, dann den Vater in dessen Werkstatt und schließlich wieder die Mutter auf dem Markt, die ihn mit nach Hause nimmt, um ihn nochmals dem Vater vorzustellen. Es ist also Jakob, der sich zwischen den Elternteilen bewegt und der einen neuen Raum in dem ihm so vertrauten Ort der Familie zu finden hofft. All seine Kontaktbemühungen mit den Eltern scheitern jedoch und gipfeln schließlich in seinem brutalen, von Schlägen begleiteten Rauswurf durch den Vater:
Dabei nahm er [der Vater] ein Bündel Riemen, die er eben zugeschnitten hatte, sprang auf den Kleinen zu und schlug ihn auf den hohen Rücken und auf die langen Arme, daß der Kleine vor Schmerz aufschrie und weinend davonlief. (S. 127)
Erst nach der glücklichen Rückverwandlung in einen gut gewachsenen jungen Mann wird Jakob von seiner Familie wieder aufgenommen. Die vermeintlich unbeschwerte Rückkehr Jakobs zu seinen Eltern als „Affirmation bürgerlicher Familienideologie“327 zu lesen, nach der sich der Protagonist nicht von den angestammten Verhältnissen emanzipiere, sondern sie stabilisiere und reproduziere, greift in mehrfacher Hinsicht zu kurz:
- Diese These läuft Gefahr, den Konflikt zwischen Eltern und Sohn für die gesamte Erzählung zu stark zu betonen.
- Die angeblich propagierte Familienidyllik lässt sich im Text an keiner Stelle belegen. Im Gegenteil: Jakobs Familienleben ist durch niedrigen Erwerb und tägliche Arbeit gekennzeichnet. Erst am Ende gelangt er durch die Geschenke des Zauberers Wetterbrock, dem er seine als Gans verwandelte Tochter zurückbringt, zu Wohlstand und Glück, das nicht von familiärer Geborgenheit herrührt.
- Ungeachtet des elterlichen Verstoßes, der die Familie als vorläufige Endstation der kindlichen Hoffnungen Jakobs vorführt, lesen sich Jakobs Erfahrungen mit seiner Familie als zynische Kontrastgeschichte zur biblischen Perikope vom verlorenen Sohn.328 In dieser nimmt der Vater den sozio-ökonomisch gescheiterten und isolierten Sohn schließlich ohne Vorbehalte auf. In Hauffs Erzählung hingegen funktioniert die Familie nicht auf der Basis uneingeschränkter elterlicher Liebe und Fürsorge, sondern nach der menschenunwürdigen Tausch- und Warenlogik des Marktes. Im Textschluss heißt es, dass „seine Eltern in dem schönen jungen Mann mit Vergnügen ihren verlorenen Sohn erkannten“ (S. 140). Erst mit seiner zurückgewonnenen körperlichen Unversehrtheit kann er seinen ‚Tausch- und Warenwert‘ derart erhöhen, dass ihn die Familie gerne wieder integriert.
2. Ort: Das Haus der bösen Fee Kräuterweis
Der zweite Ort, an dem Jakob der Macht der jeweils Herrschenden unerbittlich ausgesetzt ist, liegt im Haus der bösen Fee Kräuterweis. Dieses Haus stellt sich als strategisch organisierter, streng hierarchisierter Macht-Ort dar. Die Fee verfügt über magische Kräfte, derer sie sich bedient, um ihren Haushalt von einer willfährigen Dienerschaft in Tiergestalt führen zu lassen, in die auch Jakob eingeordnet wird:
Das Innere des Hauses war prachtvoll ausgeschmückt, von Marmor war die Decke und die Wände, die Gerätschaften vom schönsten Ebenholz, mit Gold und geschliffenen Steinen eingelegt, der Boden aber war von Glas […]. Die Alte aber zog ein silbernes Pfeifchen aus der Tasche und pfiff eine Weise darauf, die gellend durch das Haus tönte. Da kamen sogleich einige Meerschweinchen die Treppe herab; […]. (S. 116f.)
Die Macht der Fee stützt sich nicht nur auf überweltliche Zauberkräfte, sondern auch auf materielle Werte und luxuriösen Besitz. Ihre Diener, vermutlich verzauberte Menschen, da sie „aufrecht auf zwei Beinen“ (S. 117) gehen und „menschliche Kleider angelegt“ (S. 117) haben, sind ihrem Herrschaftsanspruch schutzlos ausgeliefert. Schreiend und strafend fordert sie deren Arbeitsleistung ein, beschimpft sie als „schlechtes Gesindel“ (S. 117) und schlägt „mit dem Stock nach ihnen, daß sie jammernd in die Höhe“ (S. 117) und danach schnellstmöglich die Treppe hinauf springen. Auch in der Küche arbeitet ein Sklavenheer umtriebiger Tiere:
Da kamen zuerst viele Meerschweinchen in menschlichen Kleidern; sie hatten Küchenschürzen umgebunden und im Gürtel Rührlöffel und Tranchiermesser; nach diesen kam eine Menge Eichhörnchen herein gehüpft; sie hatten weite türkische Beinkleider an, gingen aufrecht, und auf dem Kopf trugen sie grüne Mützchen von Samt. Diese schienen die Küchenjungen zu sein, denn sie kletterten mit großer Geschwindigkeit an den Wänden hinauf und brachten Pfannen und Schüsseln, Eier und Butter, Kräuter und Mehl herab und trugen es auf den Herd […]. (S. 118)
Zu der harten Führung des Personals tritt in der oben zitierten, detailverliebten Schilderung des Haushalts der Fee die hohe Geschwindigkeit, in der die Arbeiten verrichtet werden müssen. Der Stellenwert von Zeit und Geschwindigkeit im Zusammenhang mit Arbeit erinnert daran, dass das mit der Industrialisierung aufkommende zweckrationale ökonomische Kalkül das gesellschaftliche Leben im 19. Jahrhundert zunehmend beeinflusste.329 Demnach definierte sich menschliche Leistung mehr und mehr über eine spezifische Produktivität in einem bestimmten zeitlichen Rahmen.
Weiterhin fallen die zahlreichen menschlichen Accessoires wie Kleidungsstücke und die Körperhaltung auf, die die Haushaltstiere als Allegorien für Ausbeutung von Arbeitskraft und Sklaverei erscheinen lassen. Die Haushaltsszenen signalisieren das ungerechte Verhältnis zwischen Macht und Gehorsam im Haus der Fee. Damit deutet dieser Ort bereits auf das Schloss des Herzogs voraus, an dem spezifische Machtstrategien die Kausalität von willkürlicher wie absoluter Macht einerseits und ohnmächtigem Gehorsam andererseits sicherstellen.
In den folgenden Jahren muss sich Jakob von Dienst zu Dienst mühsam hocharbeiten, bis er schließlich in der Küche eingesetzt wird. Die Dienste der ersten drei Jahre wirken zwar auf den ersten Blick skurril, grotesk, nahezu witzig, offenbaren aber doch sehr autokratische, bisweilen sadistisch anmutende Herrschaftsverhältnisse. Im zweiten Jahr muss er beispielsweise
mit noch einigen Eichhörnchen Sonnenstäubchen fangen und, wenn sie genug hatten, solche durch das Feinste Haarsieb sieben. Die Frau hielt nämlich die Sonnenstäubchen für das Allerfeinste, und weil sie nicht gut beißen konnte, denn sie hatte keinen Zahn mehr, so ließ sie sich ihr Brot aus Sonnenstäubchen zubereiten. (S. 119)
Im folgenden Jahr ist er für die Trinkwasserversorgung verantwortlich:
Man denke nicht, daß sie sich hiezu [sic!] etwa eine Zisterne hätte graben lassen oder ein Faß in den Hof stellte, um das Regenwasser darin aufzufangen; da ging es viel feiner zu; die Eichhörnchen und Jakob mit ihnen mußten mit Haselnußschalen den Tau aus den Rosen schöpfen, und das war das Trinkwasser der Alten. Da sie nun bedeutend viel trank, so hatten die Wasserträger schwere Arbeit. (S. 119)
Penible, übertrieben aufwändige Arbeitsaufträge stellen die Arroganz der Macht an diesem Ort deutlich heraus. Gewöhnliche Standardleistung ist nicht gefragt, sondern unnötig anstrengende, schikanöse Kleinarbeit. Erst nach drei Jahren bekommt Jakob seinen Platz in der Küche, in der er schließlich zum Meister seines Faches avanciert. Verstärkt wird die Macht des Ortes durch den rauschähnlichen Zustand, in dem sich Jakob nach dem Verzehr der Suppe befindet, sodass er sich nicht wehren kann und seine Sklavendienste auch als Traum verbrämt.
Von diesem übernatürlichen Macht-Ort, der gleichwohl durch sehr weltliche Herrschaftsstrategien geprägt ist, wechselt der Text zu höchst natürlichen Orten: der Familie und der Öffentlichkeit.
3. Ort: Die Öffentlichkeit
Nachdem Jakob von der Fee entlassen wurde, gelangt er zuerst auf die Straße. In dieser Sphäre der Öffentlichkeit wird er zum ersten Mal, wenn auch unbewusst, mit dem Schicksal des ausgestoßenen Außenseiters konfrontiert, ohne dass er es bewusst zur Kenntnis nimmt, da er seine äußerliche Verwandlung noch nicht erfasst hat. Seine „lange Nase“330, der „Kopf in den Schultern“ und die „braunen häßlichen Hände[n]“ (S. 121) setzen ihn als hässlichen Zwerg dem Spott der Öffentlichkeit aus, die ihre Schaulust und Neugierde mit ihm befriedigt. Jakob kennt sein neues Äußeres noch nicht, nimmt folglich noch nicht wahr, dass sich die Gehässigkeiten der Bevölkerung gegen ihn richten. Das deutet bereits auf die besondere Härte seiner Verwandlung hin, denn früher erfreute er sich blende...