Auf den zweiten Blick
eBook - ePub

Auf den zweiten Blick

Ein unbequemes Lesebuch

  1. 212 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Auf den zweiten Blick

Ein unbequemes Lesebuch

Über dieses Buch

"Auf den zweiten Blick" ist ein unbequemes Lesebuch, das zum Hinterfragen vermeintlicher Gewissheiten auffordert. Denn nichts ist so, wie es auf den ersten Blick aussieht. Hinter menschlichen Gemeinheiten steckt stets eine Absicht, die leider zu oft im Verborgenen bleibt.Nur wer solche Absichten erkennen kann, ist fähig, den Aggressoren dieser Welt etwas entgegenzusetzen. Sich zu trauen, einen zweiten Blick zu wagen, die erkannte Wahrheit hinter der Lüge zu benennen und sie anderen mitzuteilen, ist somit eine lohnende Lebensstrategie.

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Information

Jahr
2016
ISBN drucken
9783738650662
eBook-ISBN:
9783739279343
Auflage
3
Thema
Poésie

Scherbengericht

Adam kennt jenen Begriff nicht, den seinerzeit Kritiker dieses Baustils aus der Kaiserzeit prägten. Aber er spürt die Wirkung des Gebäudes, das er soeben betritt – genau jene Wirkung, die diese Kritiker zu beschreiben beabsichtigten. Totschlagarchitektur haben sie das damals genannt. Dieser Bau erzeugt, in Vorbereitung auf das Kommende, jene Angst, die notwendigerweise in Beklagten erzeugt werden muss, um sie auf der Anklagebank wie arme, reumütige Sünder aussehen zu lassen. Wer eingeschüchtert ist, ergibt sich eher in sein Schicksal. Und das erleichtert jenen die Arbeit, die ihm im Namen des Volkes ein Schuldeingeständnis abringen wollen. Eine derartige Architektur hat die gleiche Funktion wie jene Kanonen, mit deren Kugeln in früheren Jahrhunderten die Belagerungen von Festungen eröffnet wurden. Es soll sturmreif geschossen werden, in beiden Fällen. Jeder Treffer beeindruckt und bringt das Selbstbewusstsein ins Wanken, beschädigt die Moral.
Draußen, über dem Eingangsportal mit dem monströsen Balkon, thront Justitia mit verbundenen Augen. In einer der Schalen ihrer Waage hat sich eine vorlaute Krähe eingerichtet – schon länger, wie es scheint, denn der Schalenrand ist mit gräulich-weißer Vogelscheiße bekleckert. Adams beklommener Blick irrt über die Ornamente und Putten in der großen Treppenhalle und er begibt sich schweren Schrittes in die erste Etage. Dann spürt er seine heißen Wangen, als er die vierstellige Nummer jenes Raumes entdeckt, in dem über sein künftiges Leben verhandelt werden soll. Die ungeputzten braunen Schuhe seines Rechtsanwalts, der schon beim ersten Gespräch so aussah und auch so roch, als sei er gerade von einer nächtlichen Pokerrunde gekommen, fesseln seinen Blick. Die Telefonnummer des Anwalts hatte er von einem Landsmann. „Der Rumann ist schon in Ordnung, der hängt sich richtig rein“, hatte der zu ihm gesagt. Mag ja sein, denkt Adam, aber nach seinen Vorstellungen gehören Vertrauenswürdigkeit und ein gepflegtes Äußeres zusammen, und er fragt sich, ob die anderen im Gerichtssaal den überhaupt für voll nehmen.
Rumann hat sich gerade ein scharf riechendes Pfefferminzbonbon in den von Bartfusseln umsäumten Mund geschoben. Nun begrüßt er Adam mit übertrieben festem Händedruck und zwinkert ihm zu. „Na, dann woll´n wir mal sehen, ob wir der deutschen Justiz nicht doch ans Bein pinkeln können“, sagt er nuschelnd und wendet sich zur Tür des Gerichtssaals. Soeben kam aus dem Lautsprecher die Ansage: „In der Strafsache Manski: Beteiligte bitte eintreten!“
Adams Gesicht ist rot angelaufen, und er spürt es. Er tritt ein, sieht den Gerichtsschreiber fragend an und nennt ihm seinen Namen. Der weist mit der Hand auf die Anklagebank, als habe er es mit einem Straßenköter zu tun. Rumann nimmt direkt neben ihm Platz, und Adam ist zunächst erleichtert. Doch dann sieht er diese Frau eintreten. Da ist er wieder, ihr versteinerter Blick, den er schon damals nicht ertragen konnte. Der scheint auf irgendeinen imaginären Punkt im Raum gerichtet zu sein, aber Adam ist für sie einfach nicht existent. Und dennoch hat sie damals über ihn sprechen können, einfach so über seinen Kopf hinweg, als sei er Abfall, den es zu entsorgen gilt.
„Ich eröffne die Hauptverhandlung in der Strafsache gegen Adam Manski“, sagt ein grauhaariger Mann mit strengem Mittelscheitel, auf dessen Stirn sich eine steile vertikale Falte zwischen den Augenbrauen bildet, als er den Blick auf Adam richtet. „Das sind Sie?“ Adam nickt, während seine Knöchel weiß hervortreten. Die Hände krallt er in seine Hose, und dennoch kann er damit das beginnende Zittern nicht unterdrücken. Der Richter stellt noch die Anwesenheit der Zeugen fest, belehrt sie über ihre Wahrheitspflicht und schickt sie dann nach draußen. Diese Frau bedenkt er dabei mit einem letzten Blick, den sie lächelnd erwidert. Adam fragt sich, ob sein Urteil nicht schon längst gefällt wurde. Der Richter stellt Adams Personalien fest und blickt anschließend auffordernd zu dem Tisch, der Adams Platz genau gegenüberliegt. Eine junge Staatsanwältin – bleich, blond und bunt bemalt, teure und modische Kleidung lugt unter dem Talar hervor – verliest in schnippischem Ton die Anklageschrift. Bei jedem vorgelesenen Tatvorwurf hebt sie die linke Augenbraue und blickt Adam mit offensichtlicher Missbilligung an. Trotz aller Verunsicherung ärgert ihn diese übertriebene Theatralik. Sie leiert noch einige Paragrafen herunter, die ihm inzwischen geläufig sind, weil ihm Rumann erklärt hat, dass sich dahinter die Straftatvorwürfe Beleidigung, Nötigung und Bedrohung verbergen. Mit offensichtlich gespielter Entrüstung setzt sie sich dann, wobei sie sorgfältig ihre Kleidung ordnet.
Schmierentheater, denkt Adam. Er fragt sich, wie das alles so weit hat kommen können. Wieso er hier auf der Sünderbank sitzt und nicht diese Frau, die doch ihn betrügt? Wie hat sie es nur schaffen können, ihn, das Opfer, als Übeltäter hinzustellen?
*
Das Ding fällt ihm sofort auf, als er den Raum betritt. So etwas hängen sich Leute in ihr Badezimmer? Die hier, die Nutzer dieser Luxusnasszelle, scheinen wohl so etwas zu brauchen. Die Regeln des Goldenen Schnitts sind beachtet worden, die Nähte gleichmäßig, sauber und mit Patina überzogen, die transparenten, farbigen Scherben und Steine sorgfältig aufeinander abgestimmt – es ist zweifellos ein schönes und teures Stück Kunsthandwerk, das den Gesichtern der sich darin Betrachtenden schmeicheln soll. Der Rahmen wird von mehreren hinter seinen Wölbungen angebrachten Leuchten in ein warmes, milchiges Licht getaucht.
Fast alles stimmt an diesem Tiffanyspiegel, bis auf zwei Dinge, die einem flüchtigeren Beobachter vielleicht entgehen würden: Erstens wirkt er in der Nachbarschaft der Kloschüssel, neben der in peinlichem Kontrast eine arg strapazierte Klobürste steht, ziemlich deplatziert. Und zweitens ist eine der opalfarbigen Scherben angeschlagen.
Was schert ihn das? Er hat hier zu arbeiten, und zwar zügig. Die Summe für das Ausbessern der zwölf Fliesen mit den alten Bohrlöchern ist lächerlich gering. Normalerweise erledigt er so etwas nach Stundenaufwand, aber hier haben sie auf einem Festpreis bestanden. Wenn er mehr als zwei Stunden dafür benötigt, bleibt ihm ein Hungerlohn. Aber das ist immer noch besser als gar keine Arbeit. Wenn er alle Aufträge mitnimmt, reicht es knapp, weil seine Frau halbtags noch diese Altenbetreuung hat. Die Heimfahrten nach Gdansk, das Geld für die Tochter und die restliche Familie, für all das macht er sich krumm und schluckt solche Kröten. Wenn ihn mal jemand nach seiner Arbeit fragt, antwortet er stets mit „selbstständiger Handwerker“, nicht ohne diese Worte nachdenklich im Kopf nachhallen zu lassen.
Eigentlich läuft es gerade gut. Er freut sich darüber, die alten Fliesen ohne weiteren Schaden herausstemmen und die neuen mit Expresskleber zügig einkleben zu können. Nach eineinhalb Stunden bereits kann er verfugen. Zwischendurch erscheint mehrfach eine nette, pummelige junge Frau im Bad, die dann stets auf der Suche nach dem Sohn des Hauses ist. Sie hat ihm bereits zu Beginn seine Arbeit gezeigt, sich als Kinderfrau vorgestellt und verlangt, er solle Jessica zu ihr sagen. Und sie erklärt ihm mit rollenden Augen, dass dieser „Bengel“ schon wieder ihrer Obhut entwischt ist. Einmal taucht der „Bengel“ tatsächlich auf. Es ist ein etwa fünfjähriges Kerlchen, das schon in diesem Alter bemerkenswert altklug und arrogant daherkommt. „Machen Sie das aber richtig“, tönt er, woraufhin Adam ihn mit einem scherzhaft gemeinten Fingerdrohen von der Baustelle schickt.
Soeben hat er die Arbeit beendet und den Raum gesäubert, als Jessica wieder hereinkommt. Als er ihre Frage bejaht, ob er schon fertig sei, geht sie wieder hinaus. Nach kurzer Zeit erscheint die Frau des Hauses, um die Arbeit zu begutachten. Es ist eine etwa vierzigjährige, extravagant gekleidete Dame. Sie gibt sich unnahbar, aber lässt sich immerhin herab, sich ihm als Frau von Holthusen-Nüsser vorzustellen. Ihn dabei anzusehen, scheint sie nicht für nötig zu halten. Ihr Blick wandert stattdessen von der Wand mit den ausgebesserten Fliesen, an denen es anscheinend nichts auszusetzen gibt, zu dem protzigen Tiffanyspiegel. Gerade als Adam die niedrige dreistellige Summe nennt, die er für Material und Arbeit zu bekommen hat, fällt sie ihm ins Wort: „Das ist ja gerade mal ein Bruchteil des Schadens, den sie an unserem Spiegel angerichtet haben. Wie ist ihnen das denn passiert? Sind sie immer so unvorsichtig bei der Arbeit?“ Da steht sie nun im Badezimmer, die Hände wie im Gebet gefaltet, sieht nicht ihn an, sondern diesen Spiegel, und hat eine Miene aufgesetzt, die zu einer Knastwärterin bei der Arbeit passen würde.
Adam braucht eine Weile, um überhaupt zu begreifen, welche Ungeheuerlichkeit ihm hiermit unterstellt wird. Und noch weitere Zeit braucht er, um sich so zu sammeln, dass er endlich zu einer Antwort fähig ist. Doch auch dann noch kann er nur stammeln: „Ich … ich … ich habe nichts kaputt gemacht. Der Sprung da war doch schon.“
„Unglaublich ist das, wie sie sich hier verhalten. Wenn jemand einen Fehler macht, dann hat er dazu zu stehen“, belehrt sie ihn in einem Ton, den wahrscheinlich selbst ihr kleiner Sohn unpassend finden würde. „Sie bekommen von mir überhaupt keinen Cent, jedenfalls solange nicht, bis der Schaden an diesem schönen Stück behoben wurde. Das ist teure Handwerkskunst. Da stecken einhundertdreißig Stunden qualifizierter Arbeit drin. Ich werde den Meister anrufen und um eine Reparatur bitten. Die Differenz zwischen ihrem Lohn und der Reparatursumme kann dann verrechnet werden. Wenn sie Glück haben, kommen sie mit dreihundert Euro davon.“ Dann geht sie kopfschüttelnd hinaus.
Erst jetzt begreift Adam, welche Dimensionen dieser ungeheuerliche Vorwurf hat. Sie will ihm nicht nur seinen Lohn vorenthalten. Nein, sie will ihn auch für einen Schaden heranziehen, den nicht er, sondern wer weiß wer angerichtet hat. Vielleicht ist es der blöde Bengel oder die Kinderfrau gewesen, vielleicht sogar diese Frau selbst. Zutrauen kann er ihr das allemal – so wie die hier auftritt. Adam sieht, wie schon häufiger in der letzten Zeit, Schreckensbilder vor sich. Kein Geld für die Heimfahrt, für Essen, für Wohnen, für die Tochter. Wie lange vollführt er schon diesen Drahtseilakt am Rande der Armut? Will die hier ihm den finanziellen Gnadenstoß geben? Ärgerlich verwirft er sofort wieder die Idee, zu zahlen, nur um Ruhe zu haben. Bei seinem Stolz wird er niemals etwas auf sich nehmen, das er nicht verschuldet hat. Und dazu hat er weder das Geld noch die Haftpflichtversicherung, um es darüber zu regeln. Leute in seiner Lage können sich solche Versicherungen nicht leisten.
Nachdem die feine Dame das Bad bereits verlassen hat, ist er endlich zur Gegenwehr fähig. Fatalerweise greift er nun auf seine gewohnten Mittel zurück. Die sind nicht zimperlich, sind nichts für die Ohren einer feinen Dame mit einem „von“ und einem Bindestrich im Namen. Aber andere Mittel hat er nicht. „Du blöde alte Kuh, du willst mich betrügen?“, schreit er ihr hinterher, und die so Betitelte bleibt erstarrt im Flur stehen. „Wenn ich nicht sofort mein Geld kriege, schlage ich alle Fliesen wieder kaputt, und deinen Scheißspiegel haue ich obendrein in tausend Stücke.“ Bei diesen Worten reißt er seine Werkzeugkiste auf und beginnt, hektisch darin zu wühlen. Er sucht einen Hammer oder etwas Ähnliches, um seine Drohung wahr machen zu können.
In einer unnachahmlichen Bewegung und mit einem Blick, in den sie alle Arroganz legt, zu der sie fähig ist, dreht sie sich um und erwidert in ruhigem Ton: „Sie beleidigen mich, sie nötigen mich, sie bedrohen mich. Dafür habe ich eine Zeugin.“ Dabei zeigt sie auf Jessica, die inzwischen, alarmiert durch den Lärm, herbeigelaufen ist. „Und sie werden dafür zur Verantwortung gezogen“, schiebt sie nach. „Mein Mann weiß, was zu tun ist, um Typen wie ihnen das Handwerk zu legen. Sie werden noch von uns hören, verlassen sie sich darauf.“
Adam, der die doppelte Bedeutung des Ausdrucks „Handwerk legen“ begreift, obwohl dieser nicht seiner Muttersprache entstammt, schnappt sich seinen Werkzeugkoffer und drängelt sich wutschnaubend an dieser Frau mit ihrer unglaublichen Arroganz und Dreistigkeit vorbei zur Haustür, die er stürmisch aufreißt. Bevor er sie hinter sich zuknallt, schreit er noch in Richtung Badezimmer: „Du alte Nazihure! Ihr Scheißdeutschen macht Witze über uns Polen. Wir würden euch bestehlen, sagt ihr. Wer beklaut hier jetzt wen, he?“ Nachdem die Tür hinter ihm mit lautem Krachen zugefallen ist, läuft er zu seinem Auto, wirft die Kiste in den Kofferraum und sich in den Fahrersitz. Vorbeigehende Passanten sehen einen aufgewühlten Mann hinter dem Steuer, der seinen Tränen freien Lauf lässt.
*
Der Richter erfragt ihre Personalien und horcht auf, als er den Namen hört. „Sind sie mit dem Rechtsanwalt Hubert von Holthusen verwandt?“, fragt er. „Wir sind verheiratet“, sagt sie süffisant und sieht erstmals in Richtung Anklagebank, in der Erwartung, das Erschrecken in den Augen des Angeklagten triumphierend auskosten zu können. Doch Adam hat sich noch im Griff. Ihre Blicke kreuzen sich kein einziges Mal. Während ihrer Aussage sieht er sie dann widerwillig von der Seite an. Als sie irgendwann den Kopf in seine Richtung dreht, aber rechtzeitig stoppt, um ihn nicht ansehen zu müssen, und dabei ihre Version über sein Verhalten von sich gibt, wendet er vorsorglich den Blick. Wie zwanghaft sieht er durch jenes Fenster, das sich über der Bank der Staatsanwältin befindet. Er stiert hinüber auf das gegenüberliegende Gebäudedach, wo gerade eine offenbar verletzte Taube versucht, aus der vollgeschissenen Dachrinne zu krabbeln. Dabei wird sie von einer kräftigen Krähe und einer Elster attackiert, die sich zu diesem Zweck verbündet zu haben scheinen. Er muss sich von diesem Bild losreißen, als er seinen Namen hört. Er nimmt noch jenes arrogante Hochziehen der linken Augenbraue wahr, nachdem die Frau mit herablassender Betonung angewidert seinen Namen ausgesprochen hat: „Herr Manski“, hat sie soeben gesagt, aber es klang für ihn wie „das Monster“. So ist sie gestrickt, diese Frau. Die wird stets die Frechheit aufbringen, andere für ihre Fehler verantwortlich zu machen. Mit Fußvolk darf man so umspringen, glaubt die sicherlich. Adams Gesichtszüge beginnen ein Eigenleben zu führen, als sich seine vom aufkommenden Ekel getriebenen Mundwinkel langsam nach unten ziehen und sich seine Oberlippe der gerümpften Nase nähert.
Bei ihrer Vernehmung bleibt sie bei der Version, Adam müsse den Spiegel beschädigt haben, denn noch kurz vorher habe sie sich im Badezimmer umgesehen. Alles sei in Ordnung gewesen. Die Beleidigungen und Bedrohungen schildert sie, als sei ihr seelisches Gleichgewicht dadurch unrettbar aus dem Lot geraten. Als solle alle Welt wissen, dass sie das Opfer eines rohen, gewissenlosen, gewalttätigen und sexistischen Monsters wurde. Die Anteilnahme aller Justizangehörigen ist ihr gewiss. Auch die Gerichtstouristen, die sich keine noch so peinliche Verhandlung entgehen lassen, setzen eine Mitleidsmiene auf. Nur Rumann sitzt neben seinem stumm gewordenen Mandanten und schüttelt bei jeder Szene dieser Stücks demonstrativ und missbilligend den Kopf, bis der Star der Aufführung endlich abtritt.
Nach ihrem Aufruf betritt Jessica verschüchtert den Saal, blickt unruhig zwischen ihrer Arbeitgeberin und Adam hin und her. Sie wird befragt. Zunächst vom Richter, dann von der Staatsanwältin, zuletzt von Rumann. Sie bestätigt, die Nötigung, die Beleidigungen und die Bedrohungen durch Adam gehört zu haben – es sei ja gar nicht zu überhören gewesen. Und sie bringt es schließlich fertig, nach einem rückversichernden Blick auf ihre Chefin, die ihr aufmunternd zunickt, zu erklären, der Spiegel sei vorher heil gewesen. Sie wird als Zeugin entlassen, nachdem Rumann sie zu ihrem Arbeitsverhältnis befragt hat. Dabei konnten die Anwesenden erfahren, dass sie ein halbjähriges Vorpraktikum bei Familie von Holthusen ableistet, als Vorbedingung für eine Erzieherausbildung. Deshalb ist sie dankbar, für 160 Stunden im Monat ein Taschengeld von 200 Euro zu erhalten. Adam sieht sie während der gesamten Vernehmung an. Sie hat sich verändert. Es ist ihr sichtlich unangenehm, seinen Blick zu erwidern. Damals war das anders, da hat sie seine Nähe gesucht. Ob auch die anderen merken, dass sie lügt, weil sie unter Druck steht?
Danach erklärt der Richter die Beweisaufnahme für beendet und blickt wieder auffordernd auf die Staatsanwältin. Ihr Plädoyer fällt kurz aus, denn das Ergebnis der Hauptverhandlung ist für sie eindeutig. Da sitze ein uneinsichtiger, ja verstockter Mann auf der Anklagebank, der nicht fähig sei, zu einem Fehler zu stehen – nämlich zuzugeben, den teuren Spiegel beschädigt zu haben. Anstatt den angerichteten Schaden einzuräumen und zu regulieren, wie es sich gehöre, habe er stattdessen geleugnet und sich dann obendrein dazu verstiegen, sich in skandalöser Weise seiner Verantwortung durch die Flucht nach vorn zu entziehen. Straftaten wie Nötigung, sexistischer Beleidigung und Bedrohung seien nun das Resultat. Sein Opfer sei dadurch so beeinträchtigt worden, dass es psychosoziale Betreuung nötig habe, die inzwischen über den Weißen Ring auch vermittelt worden sei. Zwar habe er die ihm vorgeworfenen Straftaten eingestanden, aber dennoch sei er uneinsichtig, weil er die Schuld für sein Fehlverhalten bei anderen suche. Der Angeklagte müsse dafür empfindlich bestraft werden. Eine Geldstrafe reiche hier nicht aus – Freiheitsentzug sei das notwendige und angemessene Mittel, ein Jahr Freiheitsstrafe sei daher tat- und schuldangemessen. Gnädigerweise beantragt sie, diese Strafe noch zur Bewährung auszusetzen, weil Adam Manski bisher unbestraft sei.
Demonstrativ schwer durchatmend erhebt sich Rumann, als ihn der Richter um sein Plädoyer bittet. Er blättert vornübergebeugt in den losen Blättern, die vor ihm auf dem Tisch liegen, wobei seine speckige Krawatte vorwitzig aus dem offenstehenden Talar hervorlugt. Seine Schläfenadern führen ein rhythmisches Eigenleben. Im Zusammenspiel mit dem unkontrollierten Zucken seines Mundes und seinem stoßweisen Atmen erleben die Beteiligten eine optisch-akustische Darbietung besonderer Art. Nach einer Zeitspanne, in der er sonst eine halbe Zigarette wegqualmt, in der er mehrfach den Mund öffnet und zum Reden ansetzt, um ihn dann doch wieder zu schließen, schafft er es dann endlich, zögerlich zu beginnen:
„Wer ist hier eigentlich Täter, wer Opfer? Von der Staatsanwaltschaft wird einfach als gegeben vorausgesetzt, dass dieser Spiegel tatsächlich von meinem Mandanten beschädigt wurde. Er bestreitet das vehement. Hier steht Aussage gegen Aussage, wenn wir einmal die Aussage des von Frau von Holthusen-Nüsser abhängigen Kindermädchens ausklammern. Und wer diese junge Frau hier erlebt hat, wie sie sich mehrfach mit Blicken vergewissert hat, ob sie bei ihrer Gefälligkeitsaussage auch alles richtig gemacht hat, muss Zweifel haben. Und solche Zweifel lassen uns den Grund erkennen, weshalb mein Mandant so ausgerastet ist. Beleidigung, Nötigung und Bedrohung werden von ihm ja eingeräumt. Da muss man doch fragen, weshalb ein solcher Mensch, der sonst sehr besonnen durchs Leben geht, der noch nie in Deutschland mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist, urplötzlich zu so einer Tat fähig ist. Was hat ihn veranlasst, so die Nerven zu verlieren?“
Rumanns zögerliches Reden ist nun einer sicheren Sprechweise gewichen, die er unregelmäßig mit dem Schließen seiner Augen kombiniert: „Wenn man da näher hinsieht, sind es vor allem zwei Auslöser, die man ausmachen kann. Zwei Auslöser, die etwas gemeinsam haben, nämlich die ungeheure Empörung, die sich durch sie Bahn bricht. Da ist einerseits die Empörung darüber, dass er um seinen Verdienst geprellt werden soll. Er hat gute, ehrliche Arbeit geleistet und erwartet den vereinbarten Lohn. Stattdessen wird ihm dieser Lohn vorenthalten – ihm, der finanziell stets kurz vorm Abgrund steht, von ihr, einer Frau, die im Geld schwimmt und es überhaupt nicht nötig hätte, ihn um seinen Lohn zu betrügen. Und da ist andererseits die Empörung darüber, dass er von ihr der Unehrlichkeit bezichtigt wird, dass er angeblich einen Schaden verursacht hat, von dem er weiß, dass er nichts damit zu tun hat. Und neben diesen empörenden Zumutungen soll er hier und heute die Erfahrung machen, dass ihm all sein Wissen über diese Unverschämtheit, die ihm entgegenschlägt, nichts nutzt. Ganz einfach deshalb, weil diese Frau, die ihn der Sachbeschädigung beschuldigt hat, am längeren Hebel sitzt. Weil man der schon deshalb glaubt, weil sie Macht und Einfluss hat. Weil ihr Ehemann dem Richter als Juristenkollege ein Begriff ist. Weil sie ihr Personal zu Gefälligkeitsaussagen drängen kann. Weil sie ihre Rechte kennt. Weil sie sich gut ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Widmung
  2. Inhaltsverzeichnis
  3. Schmidt
  4. Die unendliche Geschichte der Weihnachtsgurke
  5. Letzte Gedanken vor dem Zitronenkauf
  6. Überraschung!
  7. Vier unverschämte Limericks
  8. Hintergründe einer weltweit berüchtigten Missetat
  9. Der Bratfisch
  10. Liebe und Güte
  11. Wohin sich jemand seine rote Fahne stecken kann
  12. Von der unsichtbaren Hand des Marktes
  13. Vom Stolz, Deutscher zu sein
  14. Ratschläge für einen irritierten Jugendlichen
  15. Gegengift
  16. Heimat
  17. Voyeure
  18. Albtraum
  19. Im falschen Film
  20. Die alltägliche Hölle
  21. Wer bin ich?
  22. Von zwei Typen, die manch einer zum Teufel wünscht …
  23. Die Tagschläfer
  24. Im Keller der Erlösung
  25. Stallgeruch
  26. Der große Vorsitzende
  27. Mit sich ins Reine kommen …
  28. Wie geht es weiter?
  29. Onkel Willy
  30. Anleitung zum Bau einer menschlichen Zeitbombe
  31. Wenn die wüssten …
  32. Der gestiefelte Köter
  33. Schwarze Serie
  34. Dämliche Fragen eines unemanzipierten Mannes
  35. Scherbengericht
  36. Verwirrendes, hilfreiches Hildesheim
  37. Pflegeleicht
  38. Das Märchen vom Warzenfrank
  39. Neues vom Tierfreund: Der gemeine Arschkriecher
  40. Fünf Jahre eines Lebens
  41. Entsorgung
  42. Eine Welt ohne Schrift
  43. Ode an die Parfümerieabteilungen der Kaufhäuser
  44. Der nackte Mann aus dem Meer
  45. Warum man auch im Wald Rücksicht nehmen sollte
  46. Ornithologie bei der Bundeswehr
  47. Von großen und kleinen Tieren
  48. Willems neue Welt
  49. Die unsichtbare Linie
  50. Wetterwendisch
  51. Der Amtsstubenhengst
  52. Ein knapper Meter Schande
  53. Eine Pioniertat der Humanmedizin
  54. www.frau-holle.de
  55. Kontrollverlust
  56. Drei satirische Elfchen
  57. Wer fragt, der führt (Alte Psychologenweisheit)
  58. Den Platzhirsch zum Platzen bringen
  59. Über den Autor
  60. Romanveröffentlichung
  61. Impressum