Cinnamomum zeylanicum
- Die fünfte Nacht -
Der darauffolgende Tag war für Sophie sehr schön. Nachmittags war ihre beste Freundin Lea zu Besuch. Das Wetter war schlecht und es regnete ununterbrochen. So vertrieben sich die Kinder in Sophies Zimmer die Zeit mit mancherlei Spielen. Lea hatte ihre neusten Hörspiel-CDs mitgebracht. Die beiden Mädchen ließen sich von den Geschichten in märchenhafte Welten versetzen und spielten nach dem Anhören Szenen daraus nach. Das Spagyrik-Fläschchen hatte Sophie in der Schublade versteckt. Sie wusste, wie neugierig Lea war und wollte nicht, dass sie entsprechende Fragen stellt. Nachdem Lea am Abend gegangen war, wurde Sophie rasch müde und wollte früher als gewöhnlich zu Bett gehen. Das verwunderte ihre Mutter und sie fragte, ob ihr auch nichts fehle oder ob sie vielleicht gar krank sei. Doch Sophie legte sich fast vergnügt ins Bett und ließ das Besprühen mit dem Spray mit einem Lächeln auf den Lippen über sich ergehen.
Sie konnte es kaum erwarten, bis Mama aus dem Zimmer gegangen war. Als es endlich soweit war, drehte sich Sophie rasch zur Seite und blickte gebannt auf das fahle Licht, das durch den Vorhang drang und sich wie ein grauer Fleck auf den Fußboden des Kinderzimmers gelegt hatte. Lange Zeit geschah nichts. Nur das leise Gluckern in der Regenrinne über dem Fenster verriet, dass der Regen nicht aufgehört hatte. Plötzlich aber ging auf dem Schreibtisch ein schwaches bläuliches Licht an. Es war das Display von Sophies CD-Player, mit dem die beiden Freundinnen am Nachmittag die Hörspiele angehört hatten. Er begann leise zu surren, so wie wenn eine CD zu laufen anfängt. Und das war in der Tat auch so: Auf einmal war Musik zu hören, nicht sehr laut, aber doch deutlich vernehmbar. Doch was waren das nur für Klänge?
Sophie konnte das rhythmische Schlagen kleiner Glöckchen hören, in das sich langsam eine ihr sehr vertraute Melodie mischte. Es war „Jingle Bells“, das bekannte Weihnachtslied. Das war doch ihre geliebte Weihnachts-CD, kam es ihr sofort in den Sinn. Aber die hatte sie schon lange nicht mehr gehört, jetzt, da es schon Mai war. Wirklich, es war Sophies Weihnachts-CD, und der Kinderchor fing fröhlich an zu singen: „Dashing throug the snow …“ Sophie wusste, dass sie nun wieder Besuch bekommen würde. Und so war es auch.
Es begann damit, dass es an der Decke über dem Schreibtisch eigenartig zu knacken anfing. Der Putz löste sich in kleinen Bröckchen und es staubte nicht wenig. Dann kamen plötzlich zwei dicke, schwarze Stiefel durch die Decke, und noch ehe Sophie genau erkennen konnte, was sich vor ihren Augen abspielte, plumpste auch schon ein dicker, alter Mann vor ihr auf den Boden. Dabei fiel er auf seine Knie und musste sich mit beiden Händen abstützen, um nicht der Länge nach bäuchlings vor Sophies Bett zu fallen. „Boaa“, ächzet der Alte, nachdem er sich etwas gefangen hatte, „durch den Kamin geht’s aber wesentlich einfacher!“ Mühsam richtete er sich auf und klopfte sich den Staub von seinem roten Mantel, der ihm weit über die Knie bis zu den Stiefeln reichte. „Der Weihnachtsmann!“, schoss es Sophie sogleich durch den Kopf. Ja, es bestand kein Zweifel: Das Mädchen bekam Besuch vom Weihnachtsmann – mitten im Frühling.
„Na, meine Kleine, da staunst du, was?“, lachte der Alte mit dem langen Bart, während er sich den Stuhl von Sophies Schreibtisch nahm, ihn zum Bett schob und sich mit einem wohligen Seufzer darauf niederließ. Den Sack aus grober Jute, den er bei sich trug, legte er vor sich auf den Schoß. Sophie war sehr überrascht und blickte verwundert auf den Gast, der nun vor ihr saß und seine Hände mühsam aus den dicken Handschuhen zog.
„Mit mir hast du wohl nicht gerechnet“, sagte der Mann mit tiefer Stimme und grinste dabei breit. Das Mädchen war noch immer derart verblüfft, dass es gar nicht antworten konnte. „Nun ja, du kennst doch das Spiel von uns spagyrischen Essenzen mittlerweile, nicht wahr?“, versuchte er Sophie die Verwunderung zu nehmen. Doch diese konnte erst nach einem Moment der Stille nicken und ein flüsterndes „Ja“ sagen. „Okay, Cinnamomum - Cinnamomum zeylanicum!“ Der Mann streckte ihr seine fleischige Hand entgegen. Zögernd griff Sophie nach ihr und sagte leise: „Ich heiße Sophie“. „Prima“, entgegnete der Alte, während er die Hand des Mädchens schüttelte, „dann ist der Anfang ja gemacht!“ Und wieder setzte er ein wohlwollendes Grinsen auf.
Dann machte sich der Mann an dem Jutesack zu schaffen, der auf seinen Oberschenkeln lag. „Als Weihnachtsmann muss man doch ein Geschenk dabei haben, nicht wahr, Sophie?“, lachte er und kramte aus dem Sack ein in farbenfrohes Papier gewickeltes Päckchen. „Hier, für dich meine Kleine“, sagte der Alte mit dem eigenartigen Namen und reichte es Sophie. „Pack es schnell aus“, fügte er noch hinzu und stellte dabei seinen Jutesack wieder auf den Boden. Erstaunt blickte das Kind auf das Geschenk, das der Mann ihr auf den Schoß gelegt hatte. Zögernd und behutsam zog es das Papier ab und holte eine rote Schachtel hervor. „Komm, schau rein!“, wies er Sophie an und blickte dabei gespannt auf die kleinen Finger, wie sie den Deckel der Schachtel langsam anhoben und zur Seite schoben. Vorsichtig streckte Sophie ihren Kopf und schaute neugierig hinein. Dort lag, in feines Seidenpapier gebettet und von würzig duftenden Zimtsternen umgeben, eine gläserne Kugel, in der ein kleines Licht flackerte. „Auf, hol sie raus! Sie gehört dir, mein Kind!“ Cinnamomum lehnte sich in den Stuhl zurück und lächelte wie ein gütiger Großvater. „Diese wunderschöne Kugel bist du, mein kleiner Engel.“ Sofort schaute Sophie hoch und blickte verwundert zu dem Alten hinüber, der sich behaglich im Stuhl räkelte. „Ja, ja“, sagte er, „du hast richtig gehört. Du bist eine schöne leuchtende Kugel. Ist das nicht wunderbar?“
Sophie hatte die Kugel vorsichtig in ihre Hände genommen und betrachtete sie von allen Seiten. Sie war zweifarbig. Die eine Hälfte zeigte ein helles Gelb, die andere ein tiefes Rot. In der Mitte gingen die Farben ineinander über und bildeten einen schmalen Streifen aus unterschiedlichen Orangetönen. Die Kugel wurde von innen erleuchtet, aber die Lichtquelle war nicht zu erkennen, da das Glas milchig und trübe war. „Und das soll ich sein?“ Sophie blickte überrascht und ein bisschen ungläubig zu Cinnamomum hinüber. „Ja, klar doch“, entgegnete ihr Gast sogleich. „Du bist so eine Kugel. Jeder Mensch ist eine Kugel. Eine gläserne Kugel mit einem leuchtenden Stern mitten drin.“ Der alte Mann in seinem dicken Mantel faltete die Hände vor dem Bauch und schien die Verwunderung des Mädchens zu genießen. Sophies Finger glitten bedachtsam über das Glas. Sie verstand nicht, was Cinnamomum meinte und blickte diesen mit fragenden Augen an.
„Gefällt sie dir?“, unterbrach der Alte die Stille. Sophie nickte wortlos und legte die Kugel wieder zurück in die Schachtel. „Also gut, dann lass dir die Sache mal erklären.“ Der Mann im roten Mantel rutschte auf seinem Stuhl etwas näher an das Bett heran. Dann begann er zu erzählen: „Bevor die Menschen auf die Erde kommen, sind sie kleine Sterne am Firmament. Aber nicht an dem Sternenhimmel, den du in einer klaren Nacht siehst. Hinter diesem gibt es einen noch viel größeren und schöneren Sternenhimmel. Von da her kommen die Seelen der Menschen. Wenn ein Mensch gezeugt wird, lenkt ein bestimmter Stern einen seiner Strahlen zu jener Frau, die einmal seine Mutter werden soll und verbindet sich mit ihr. Wenn das Kind im Bauch wächst, wächst auch der Strahl und der Stern am Himmel wird kleiner. Irgendwann dann ist der Stern durch den Strahl hindurchgewandert und leuchtet nun als neue Seele im Herzen des werdenden Kindes. Dann wird das Kind geboren und hat einen eigenen Körper. Es wächst heran und zeigt eigene Gefühle und hat eigene Gedanken. Körper, Gefühle und Gedanken bilden dann die Glaskugel, in der der Stern der Seele leuchtet. Denn in dieser Welt können die Seelensterne nur in einer solchen Kugel leben. Wenn die Kugel zerbricht, springen sie schwups wieder zurück an das ferne Firmament. Ja, Sophie, so war das schon immer und so wird es immer sein. Die Menschen meinen immer, sie müssten das geheimnisvolle Funkeln ihrer Sterne verstehen oder das Firmament, von dem sie gekommen sind und wie sich das alles verhält mit diesen Dingen. Aber glaube mir, viel wichtiger ist es für die Menschen, ihre Kugeln zu verstehen und sie so zu pflegen, dass ihr Stern ungehindert durch die Kugel hindurch leuchten kann. Wem es gelingt, seinen Seelenstern durch sich hindurch in die Welt hinein leuchten zu lassen, der führt ein gutes Leben.“
Sophie hörte den Worten des Mannes gebannt zu. Auch wenn sie nicht alles verstand, spürte sie doch, dass er ihr etwas sehr Weises und Wichtiges mitteilen wollte. Dann blickte sie erneut auf die Kugel, die in der Schachtel vor ihr lag. Ohne zu zögern fragte sie: „Und warum ist meine Kugel so trübe, dass ich den Stern fast gar nicht sehen kann?“ Cinnamomum lächelte. „Ja, Kind, das ist die entscheidende Frage. Bei den meisten Menschen liegt ein Nebel über ihren Kugeln. Schau: Die rote Hälfte der Kugel ist der Körper des Menschen, die gelbe Hälfte sind seine Gefühle und Gedanken. Viele Menschen tun ihrem Körper nichts Gutes, haben schlechte Gedanken und manchmal auch dunkle Gefühle. All das trübt den Glanz der Kugel. Kannst du dir nun vorstellen, warum dein Stern in der Kugel nicht so schön strahlt wie es eigentlich sein könnte?“ Sophie senkte den Blick. Dann nickte sie und schob ihre Hände unter die Oberschenkel. „Und wie macht man es, dass dieser Nebel weggeht?“, fragte sie leise. Der Mann lächelte erneut.
„Nun, das ist die große Aufgabe des Menschen, die ihn sein ganzes Leben lang begleitet. Es wird ihm wohl nie für immer gelingen, denn es ist wie in der kalten Jahreszeit: Am Morgen ist alles dicht von Nebeln umhüllt, später kämpft sich die Sonne strahlend durch sie hindurch und erwärmt Glieder und Herz – und am nächsten Tag kann es wieder klamm und feucht sein. Wichtig ist zu wissen: Hinter den Nebeln strahlt immer die Sonne, auch wenn man sie nicht sehen kann.“ Cinnamomum blickte hinüber zum Spagyrik-Fläschchen auf Sophies Nachttisch. „Wenn du oder deine Mama immer an Energievampire denkt oder an böse Mächte und Kräfte in der Welt, die es zu bekämpfen gilt, dann verstärkt ihr nur den Nebel über euren Kugeln. Das ist nicht gut. Wir spagyrischen Essenzen wollen euch helfen, den Nebel wegzuwischen und sind nicht dazu da, die Kugeln zu einem Igel zu machen, der der Welt ständig seine Stacheln zeigt.“ Der alte Mann blickte freundlich in das Gesicht des aufmerksam lauschenden Kindes. „Woher ich all das weiß? Nun, ja“, sagte er lächelnd, „wir Essenzen sind ja auch Kugeln wie ihr.“
„Das ist unser eigentliches Geheimnis, Sophie“, fuhr er leise und mit tiefer Stimme fort. „Wir haben einen Körper, haben Gedanken und Gefühle, und wir haben einen Stern in uns. Unseren Körper nennen wir Sal, unsere Gedanken und Gefühle heißen Mercurius und der Stern hört auf den Namen Sulfur. So ist es Tradition. Was uns von euch unterscheidet ist, dass uns...