Abenteurer des Schienenstranges
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Abenteurer des Schienenstranges

  1. 180 Seiten
  2. German
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Abenteurer des Schienenstranges

Über dieses Buch

Jack London berichtet über seine Zeit als Tramp nach der Wirtschaftskrise gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Man lernt die Gefahren und Strapazen des Lebens als Landstreicher kennen. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Reisen als Hobo per Bahn auf einer Blindplattform oder unter dem Zug. Der Autor geht aber auch auf "General" Kellys Armee und auf einen Gefängnisaufenthalt ein.

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Information

Kapitel 1 Ein Bekenntnis

Im Staate Nevada wohnte eine Frau, die ich einmal andauernd, konsequent und schamlos mehrere Stunden lang belogen habe. Ich will mich nicht bei ihr entschuldigen, keineswegs. Aber ich möchte ihr eine Erklärung geben. Unglücklicherweise kenne ich ihren Namen nicht, und noch weniger ihre jetzige Adresse. Sollten ihr jedoch diese Zeilen zufällig vor Augen kommen, so hoffe ich, daß sie mir schreiben wird.
Es war in Reno (Nevada) im Sommer 1892. Dazu war Jahrmarkt und die ganze Stadt voller Spitzbuben und Taschendiebe, gar nicht zu reden von einer ungeheuren Horde hungriger Landstreicher. Diese hungrigen Landstreicher waren es, die die Stadt so ungastlich machten. Sie belagerten die Hintertüren der Bürgerhäuser, bis sich keine mehr öffnete.
Eine schlechte Stadt für brave Leute – so nannten die Landstreicher sie damals. Ich weiß noch, daß ich manches liebe Mal herumlief, ohne einen Bissen zu bekommen. Ja, so schlimm ging es mir in dieser Stadt, daß ich eines Tages dem Schaffner einen Streich spielte und den Salonwagen eines reisenden Millionärs enterte. Als ich auf der Plattform stand, fuhr der Zug ab, und ich stürzte auf besagten Millionär los, der Schaffner hinter mir her, um mich zu packen. Es wurde totes Rennen, denn ich erreichte den Millionär in demselben Augenblick wie der Schaffner mich. Ich hatte keine Zeit, viele Umstände zu machen. »Geben Sie mir einen viertel Dollar, damit ich mir Essen kaufen kann«, platzte ich heraus. Und so wahr ich lebe: der Millionär fuhr in die Tasche und reichte mir … gerade … genau einen viertel Dollar. Ich bin überzeugt, er war so verblüfft, daß er automatisch gehorchte, und ich habe später bitter bereut, daß ich nicht einen Dollar verlangte. Ich weiß, daß ich ihn bekommen hätte. Ich sprang vom Trittbrett, während der Schaffner versuchte, mir einen Tritt ins Gesicht zu versetzen. Es gelang ihm nicht. Man ist nicht mehr viel wert, wenn man von einem fahrenden Zuge abspringen muß, von dem Tritt eines Negerstiefels – Nummer fünfzig! – bedroht; aber jedenfalls: ich erhielt meinen viertel Dollar! Wahrhaftig!
Doch um wieder von der Frau zu erzählen, die ich so schamlos belog: Es war mein letzter Abend in Reno. Ich war auf der Rennbahn gewesen und hatte dabei mein Mittagessen eingebüßt. Ich war hungrig, und zudem war gerade eine Art Wohltätigkeitskomitee gegründet worden, um die Stadt von hungrigen Individuen meiner Art zu befreien. Die Polizei hatte sich schon eines Teils meiner Kollegen bemächtigt, und ich konnte gleichsam die sonnigen Täler Kaliforniens mich über die eisigen Zinnen der Sierra rufen hören. Zweierlei hatte ich noch zu tun, ehe ich den Staub Renos von meinen Füßen schütteln konnte. Erstens: einen Platz auf dem blinden Gepäckwagen des abends abgehenden Überlandzuges nach Westen zu erwischen. Zweitens: eine Mahlzeit zu erbetteln. Selbst ein junger Mann bedenkt sich, ehe er sich darauf einläßt, mit leerem Magen die ganze Nacht hindurch außen auf einem Zuge zu verbringen, der durch Tunnels und ewigen Schnee auf himmelanstrebenden Bergen dahinsaust. Aber dieses »Eine-Mahlzeit-Erbetteln« war keine Kleinigkeit. Ich hatte ein Dutzend Häuser vergebens abgeklappert. Zuweilen machte man unangenehme Bemerkungen über schwedische Gardinen, hinter die ich gehörte, wenn es mir nach Verdienst ginge. Das schlimmste von allem war aber, daß solche Behauptungen nur allzusehr stimmten. Deshalb wollte ich gerade am Abend machen, daß ich nach dem Westen kam. Das Auge des Gesetzes suchte sehr eifrig in der Stadt nach Hungrigen und Obdachlosen, denn für sie war das Haus mit den schwedischen Gardinen bestimmt.
Anderswo wurde mir die Tür vor der Nase zugeschlagen, so daß ich mein höflich und demütig vorgebrachtes Ersuchen, mir etwas zu essen zu geben, jäh unterbrechen mußte. In einem Hause öffneten sie nicht einmal die Tür. Ich stand davor und klopfte an, und sie beguckten mich durchs Fenster. Ja, sie hoben sogar einen kräftigen kleinen Jungen hoch, damit er über die Schultern seiner Eltern den Vagabunden sehen konnte, der in ihrem Hause nichts zu essen haben sollte.
Es sah aus, als müßte ich zu den ganz Armen gehen, um mein Essen zu bekommen. Die ganz Armen sind die letzte, aber sichere Hoffnung des Vagabunden. Auf die ganz Armen kann man sich stets verlassen. Sie jagen niemals einen Hungrigen von ihrer Tür. Immer habe ich etwas zu essen bekommen, wenn ich zu den Hütten kam, wo die Löcher in den zerschlagenen Scheiben mit Lumpen verstopft sind.
O ihr Wohltätigkeitskrämer! Geht zu den Armen und lernt von ihnen, denn nur die Armen sind wirklich wohltätig. Sie geben weder vom Überfluß, noch versagen sie ihn, denn sie haben keinen Überfluß. Sie geben – und sie versagen nie – von dem, was sie selbst nötig und oft bitter nötig haben. Einem Hunde einen Knochen zuzuwerfen, ist keine Wohltätigkeit. Wohltätigkeit ist, den Knochen mit dem Hunde zu teilen, wenn man selbst ebenso hungrig ist wie der Hund.
Besonders aus einem Hause wurde ich an diesem Abend regelrecht hinausgeworfen. Die Fenster der Vorhalle gingen ins Speisezimmer, und drinnen sah ich einen Mann, der Pastete aß – eine große Fleischpastete. Ich stand in der offenen Tür, und er aß weiter, während er mit mir sprach. Er hatte Glück gehabt, und aus seinem Glück war Groll gegen seine weniger glücklichen Brüder erwachsen. Er unterbrach meine Bitte, mir etwas zu geben, mit einem schnarrenden: »Ich glaube, Sie haben keine Lust zum Arbeiten.«
Nun hatte das gar nichts mit der Sache zu tun. Ich hatte nichts von Arbeit gesagt. Der Gegenstand, auf den ich das Gespräch gebracht hatte, war lediglich »Essen«. Und ich hatte in der Tat keine Lust zum Arbeiten. Ich wollte heute nacht mit dem Überlandzuge weg.
»Ich glaube, Sie würden nicht einmal arbeiten, wenn Sie Gelegenheit dazu hätten«, knurrte er. Ich sah das bedrückte Gesicht seiner Frau und wußte, daß ich eine gute Portion von der Fleischpastete bekommen haben würde, wenn der Zerberus nicht dagesessen hätte. Aber der Zerberus saß da und schaufelte die Pastete in sich hinein, und ich sah, daß ich mich bei ihm beliebt machen mußte, wenn ich etwas erreichen wollte. Folglich ging ich seufzend auf seine moralischen Betrachtungen über die Arbeit ein.
»Natürlich möchte ich gern arbeiten«, schützte ich vor.
»Das glaube ich nicht«, schnaubte er.
»Versuchen Sie es«, antwortete ich und wurde jetzt selber warm.
»Schön«, sagte er. »Kommen Sie morgen früh an die und die Ecke.« – Ich habe die Adresse vergessen. – »Sie wissen, wo das Haus abgebrannt ist. Da werde ich Ihnen Arbeit geben; Sie können Steine tragen.«
»Schön, ich werde kommen.«
Er grunzte und aß weiter. Ich wartete. Nach einigen Minuten blickte er auf mit einem Ausdruck, als wollte er sagen: ›Ich denke, Sie sind längst fort!‹, und fragte:
»Nun?«
»Ich … ich warte darauf, daß ich etwas zu essen bekomme«, sagte ich höflich.
»Ich wußte ja, daß Sie nicht arbeiten wollen!« brüllte er.
Er hatte recht, selbstverständlich; aber er muß durch Gedankenlesen auf seinen Schluß gekommen sein, denn er konnte es durch nichts belegen. Aber der Bettler an der Tür muß demütig sein, und so beugte ich mich vor seiner Logik, wie ich mich vor seiner Moral gebeugt hatte.
»Sehen Sie, ich bin jetzt hungrig«, sagte ich immer noch höflich. »Morgen früh bin ich noch hungriger. Denken Sie sich, wie hungrig ich sein werde, wenn ich einen ganzen Tag Steine geschleppt habe, ohne etwas zu essen zu bekommen. Wenn Sie mir jetzt aber etwas zu essen geben, werde ich morgen ganz anders arbeiten können.«
Er erwog ernsthaft meinen Einwand, während er gleichzeitig weiter aß und seine eingeschüchterte Frau beinahe ein paar freundliche Worte gesagt hätte, sich aber beherrschte.
»Ich werde Ihnen sagen, was ich tun will«, sagte er zwischen zwei Bissen. »Sie kommen morgen früh, und mittags gebe ich Ihnen einen Vorschuß, so daß Sie etwas essen können. Dann kann ich ja sehen, ob Sie es ernst meinen oder nicht.«
»Aber inzwischen –« begann ich, doch er unterbrach mich.
»Wenn ich Ihnen jetzt etwas zu essen gäbe, so bekäme ich Sie sicher nie mehr zu sehen. Oh, ich kenne Leute Ihres Schlages. Sehen Sie mich an! Ich schulde keinem Menschen etwas. Ich habe mich nie so weit erniedrigt, daß ich einen Menschen um Essen gebeten hätte. Ich habe mir mein Essen immer redlich verdient. Das schlimme bei Ihnen ist, daß Sie faul und liederlich sind. Das kann ich Ihnen ansehen. Ich habe gearbeitet und bin ein anständiger Mensch. Was ich bin, habe ich mir selbst zu verdanken. Und Sie können es ebenso haben, wenn Sie arbeiten und ein anständiger Mensch sind.«
»So wie Sie?« fragte ich.
Ach, nie hatte auch nur ein Funken Humor die düstere, durch Arbeit abgebrühte Seele dieses Menschen erhellt.
»Ja, wie ich«, antwortete er.
»Wir alle?« fragte ich.
»Ja, ihr alle«, entgegnete er mit innerlicher Überzeugung.
»Aber wenn es uns allen so wie Ihnen ginge«, sagte ich. »so müssen Sie mir schon erlauben, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß es dann keinen gäbe, der Mauersteine für Sie schleppte«.
Ich schwöre darauf, daß ein Anflug von Lächeln in den Augen der Frau zu sehen war. Was ihn betrifft, so war er einfach entsetzt – ob aber über die schreckliche Aussicht, daß er bei einer Reform der Menschheit niemand mehr bekommen könnte, der Steine für ihn schleppte, oder über meine Frechheit, das werde ich nie erfahren.
»Ich will meine Worte nicht an Sie verschwenden«, brüllte er. »Machen Sie, daß Sie wegkommen, Sie undankbarer Lümmel!«
Ich machte einen Kratzfuß, um ihm meine Absicht, zu gehen, kundzutun, und fragte:
»Und ich bekomme also nichts zu essen?«
Er sprang auf. Er war ein großer Kerl. Ich war ein Fremder in einem fremden Lande, und das Auge des Gesetzes suchte nach mir. Ich machte, daß ich fort kam. ›Aber warum undankbar?‹ fragte ich mich, als ich die Gartenpforte hinter mir schloß. ›Was, zum Kuckuck!, hat er mir gegeben, daß ich undankbar sein könnte?‹ Ich blickte mich um. Durchs Fenster konnte ich ihn noch sehen. Er war zu seiner Pastete zurückgekehrt.
Jetzt hatte ich fast den Mut verloren. Ich ging an vielen Häusern vorbei, ohne mich hineinzuwagen. Alle Häuser sahen gleich aus, aber keines einladend. Nachdem ich ein halbes Dutzend Ecken weitergekommen war, schüttelte ich meine Niedergeschlagenheit ab und nahm mich zusammen. Ich entschloß mich, mein Glück im nächsten Hause zu versuchen. Es begann schon dunkel zu werden, als ich es erreichte und nach hinten an die Küchentür ging.
Ich klopfte vorsichtig an, und als ich das freundliche Gesicht einer Frau in mittleren Jahren sah, die mir öffnete, fiel mir plötzlich die »Geschichte« ein, die ich ihr erzählen mußte. Denn man muß wissen, daß für einen Bettler viel vom Erzählen einer guten Geschichte abhängt. Vor allem, und zwar im ersten Augenblick, muß der Bettler sein Opfer »abschätzen«. Hierauf muß er eine Geschichte erzählen, die sich nach Persönlichkeit und Temperament des jeweiligen Opfers zu richten hat. Und gerade hier beginnt die Hauptschwierigkeit: Man muß im selben Augenblick das Opfer abschätzen und seine Geschichte anfangen. Man hat nicht eine Minute zur Vorbereitung. Blitzschnell muß man die Eigenart des Opfers erraten und eine Geschichte ausdenken, die Eindruck macht. Der erfolgreiche Landstreicher muß ein Künstler sein. Er muß spontan und ohne sich zu bedenken erfinden – und darf nicht aus dem Überfluß seiner Phantasie schöpfen, sondern aus dem, was er in dem Gesicht der Person liest, die ihm die Tür öffnet, einerlei, ob es Mann, Frau oder Kind, ob das Gesicht freundlich oder mürrisch, freigebig oder geizig, gutmütig oder boshaft, jüdisch oder christlich, schwarz oder weiß, von Rassenvorurteilen geprägt oder von brüderlichem Geist beseelt, von Kurzsichtigkeit oder Weitblick, oder was es sonst sein kann, gezeichnet ist. Ich habe oft gedacht, daß ich meine Erfolge als Schriftsteller der Erfahrung zu verdanken haben muß, die ich in meinen Vagabundentagen gesammelt habe. Um die Nahrung zu erhalten, die ich zum Leben brauchte, war ich genötigt, Geschichten zu erzählen, die wahrscheinlich klangen. Wenn man, von einem unerbittlichen Zwange getrieben, an der Küchentür steht, entwickelt sich die Fähigkeit, zu überzeugen und aufrichtig zu wirken, die von den Kritikern als erste Voraussetzung, gute Erzählungen zu schreiben, betrachtet wird. Ich bin auch fest davon überzeugt, daß es meine Lehrzeit als Vagabund war, die mich zu einem Realisten gemacht hat. Realismus ist die einzige Ware, die man gegen Nahrungsmittel an der Küchentür eintauschen kann.
Überhaupt: Kunst ist nur vollendete Kunstfertigkeit, und Kunstfertigkeit hat schon manche ›Geschichte‹ gerettet. Ich weiß noch, wie ich einmal auf einer Polizeistation in Winnipeg (Manitoba) log. Ich wollte mit der Kanada-Pazifikbahn nach dem Westen. Natürlich verlangte die Polizei eine Geschichte, und die erfand ich denn auch – stehenden Fußes. Sie waren Landratten mitten im Festlande, also was konnte ich Besseres tun, als eine Geschichte von der See erzählen? Dabei konnten sie mich nie fangen. Und so erzählte ich ihnen denn eine herzerweichende Geschichte von meinem Leben auf dem Höllenschiff ›Glenmore‹. (Ich hatte die ›Glenmore‹ einmal in San Francisco vor Anker liegen sehen.) Ich wäre englischer Schiffsjunge, sagte ich. Aber da sagten sie, ich spräche nicht wie ein Engländer, und so mußte ich sofort eine neue Geschichte erfinden. Ich wäre in den Vereinigten Staaten geboren und erzogen worden. Dann wären meine Eltern gestorben, und man hätte mich zu meinen Großeltern nach England geschickt. Die hätten mich auf die ›Glenmore‹ gegeben. Ich hoffe, der Kapitän der› Glenmore‹ wird es mir verzeihen, daß ich seinen guten Namen an jenem Abend auf der Polizeistation in Winnipeg angeschwärzt habe. Solche Grausamkeit! Solche Roheit! So teuflisch in der Erfindung von Strafen! Das erklärte, daß ich von der ›Glenmore‹ weggelaufen war, als sie in Montreal lag.
Aber weshalb ich mich denn mitten in Kanada befände und nach dem Westen wollte, wenn meine Großeltern in England wohnten? Ich erdichtete sofort eine verheiratete Schwester in Kalifornien. Sie würde für mich sorgen. Ich verbreitete mich weitläufig über ihr liebevolles Gemüt. Aber sie waren noch nicht mit mir fertig, diese hartherzigen Polizisten, ich war in England auf die ›Glenmore‹ gekommen; was hatte ich in den beiden Jahren getan, ehe ich weggelaufen war, was hatte die ›Glenmore‹ getan, und wo war sie gewesen? Und so hatte ich mit diesen Landratten eine Reise um die Welt unternommen. Von gewaltigen Seen umhergeworfen, während der Schaum ihnen das Gesicht peitschte, hatten sie mit mir gegen einen Orkan in der japanischen Küste angekämpft. Sie luden und löschten mit mir in allen Häfen der sieben Meere. Ich nahm sie mit nach Indien, Rangoon und China, ließ sie mir das Eis bei Kap Horn aufbrechen, und schließlich vertäuten wir in Montreal.
Und dann sagten sie, ich sollte einen Augenblick warten, und einer der Polizisten ging in die Nacht hinaus, während ich mich am Ofen wärmte und mir den Kopf darüber zerbrach, was sie mir jetzt für eine Falle stellen würden.
Ich stöhnte inwendig, als ich ihn auf den Fersen des Polizisten zur Tür hereinkommen sah. Diese winzigen Goldringe in seinen Ohren waren kein Zigeunerschmuck, diese Haut war nicht vom Präriewind zu runzligem Leder verwittert, und nicht Schneegestöber und Bergeshänge hatten seinen Gang so wiegend gemacht. In diesen Augen, die mich jetzt anblickten, sah ich den unverkennbaren Sonnenglanz des Meeres. Ach, das war eine schwere Aufgabe für mich! Hier standen fünf oder sechs Polizisten und sahen mich an – und ich hatte nie das Chinesische Meer befahren, war nie bei Kap Horn gewesen, hatte nie Indien und Rangoon gesehen.
Ich war verzweifelt. Der Zusammenbruch grinste mich an in Gestalt dieses alten verwitterten Seebären mit den goldenen Ringen in den Ohren. Wer war er? Was war er? Das mußte ich ergründen, ehe er mich ergründete. Ich mußte eine neue Richtung einschlagen, sonst gaben mir diese bösen Polizisten die Richtung an, in eine Zelle, vor Gericht, in andre Zellen. Wenn er mich fragte, ehe ich wußte, wieviel er wußte, so war ich verloren.
Aber glauben Sie, daß ich etwas von der verzweifelten Lage, in der ich mich befand, vor diesen wachsamen Hütern des öffentlichen Wohles von Winnipeg verriet? Nicht die Spur. Ich begegnete dem alten Seemann froh und lächelnd, mit all der gutgespielten Erleichterung über die Befreiung aus einer Gefahr, die ein Ertrinkender an den Tag legen mag, wenn er in seinem letzten Verzweiflungskampf einen Retter findet. Hier war ein Mann, der mich verstand, und der den Bluthunden, die mich nicht verstanden, meine wahre Geschichte bestätigen würde, das war die Rolle, die ich zu spielen hatte. Ich bemächtigte mich seiner, bombardierte ihn mit Fragen über ihn selber. In Gegenwart meiner Richter wollte ich den Charakter meines Retters erforschen, ehe er mich rettete.
Er war ein freundlicher Seemann – eine »leichte Beute«. Die...

Inhaltsverzeichnis

  1. Kapitel 1 - Ein Bekenntnis
  2. Kapitel 2 - Blinde Passagiere
  3. Kapitel 3 - Zigeuner
  4. Kapitel 4 - Geschnappt
  5. Kapitel 5 - In gestreifter Tracht
  6. Kapitel 6 - Nächtliche Fahrten
  7. Kapitel 7 - Wie ich Landstreicher wurde
  8. Kapitel 8 - General Kellys Armee
  9. Kapitel 9 - Der Polizist